„Sie haben wirklich Schusswaffen?“, fragte Henry beeindruckt.
Mikail beugte sich ebenfalls vor, den dieses Detail interessierte ihn besonders, wenn auch aus einem anderen Grund als Henry. Ashley nickte und hielt den Blick dabei auf den Boden gerichtet.
„Wie machen sie das?“, fragte sich Mikail, während Henry dümmlich grinste und „Cool!“ sagte.
Im Grunde mussten diese Menschen genau wissen, wie eine Waffe funktionierte. Und sie hatten die gleichen Ressourcen wie sie, also müsste es doch auch im Rahmen von Mikails Möglichkeiten liegen, eine Waffe zu bauen.
Er erschrak ein wenig vor sich selbst. Vielleicht würden Pistolen und Gewehre ihre Jagd wirklich einfacher machen. Aber war das unbedingt nötig? Als leidenschaftlicher Erfinder und Bastler wusste er, dass Neugier auch schnell zu weit gehen konnte.
Menschen erfanden Dinge, und plötzlich waren diese Dinge gefährlicher als kalkuliert.
Henry schien diese Sorgen nicht zu teilen: „Können wir sowas auch bauen?“
„Nein!“, sagte Mikail schärfer als beabsichtigt. „Wir kommen zurecht, so wie es ist. Wir brauchen keine Waffen.“
„Du weißt nur nicht, wie!“, spottete Henry.
Das war tatsächlich Mikails Schwachpunkt. Er hätte eine Atombombe gebaut, nur um zu beweisen, dass er es konnte. Natürlich hätte er lieber irgendwas erfunden, das fliegen konnte – aber sein Stolz war, dass er alles nachbauen konnte.
„Gib mir eine solche Waffe, und ich mach dir hunderte davon!“, fauchte er Henry an, ehe er darüber nachdenken konnte, wer alles zuhörte.
Niemand sagte etwas, aber Mikail spürte ihre Blicke auf sich ruhen. Er fragte sich, ob das ein Fehler gewesen war.
„Wir sollten keine Waffen bauen“, sagte ausgerechnet Kassia scharf. „Wir ziehen doch nicht in einen Krieg!“
Mikail konnte ihr nicht in die Augen sehen. Er verfluchte sich im Stillen.
„Das werden wir entscheiden, wenn Waffen mehr als nur Gedankenspiele sind“, sagte Thanatos düster.
Niemand sagte etwas. Thanatos' Blick alleine reichte, um sie alle verstummen zu lassen. Aber Mikail war sich ziemlich sicher, dass diese Frage ihr Lager in zwei Parteien spaltete. Er hoffte inständig, dass er nicht am Ende auf der falschen Seite stehen würde.
Thanatos war alles, was sie von einem Streit abhielt, verstand Mikail.
Sie saßen beim Frühstück und teilten die letzten Beeren unter sich auf, die die Nacht überlebt hatten. Seitdem sie drei Dinosaurier hatten und Lucy zudem nicht jagte, weil sie die drei trainierte, reichte das Essen, dass sie sammeln konnte, immer nur für den betreffenden Tag. Die Laune im Lager wurde immer schlechter. Mikail konnte spüren, wie Hunger, Müdigkeit und Angst zu einer explosiven Mischung wurden. Wenn sie noch mehr Unglück erlebten, würde sich das Lager vermutlich auftrennen.
Mikail starrte nachdenklich in die Asche vom Vortag. Langsam ließ ihn selbst seine Energie im Stich. Niemand hatte Lust, zu jagen oder zu arbeiten. Als Thanatos aufstand, regten sie sich trotzdem. Wenn man nicht freiwillig nach unten ging, drohte Thanatos damit, einen zu werfen.
„Henry, du hilfst den Sammlern“, befahl der Dunkelhäutige. „Ashley, du geht mit Galileo.“
Mikail sah zu, wie alle anderen nach unten trotteten, beladen mit leeren Lederbeuteln und Körben. Thanatos musterte ihn.
„Ganz du wirklich ein Gewehr bauen?“
„Ich kann alles nachbauen“, sagte Mikail unglücklich. „Aber ich werde es nicht tun. Waffen führen zu Leid und Tod!“
„Du wirst tun, was nötig ist“, sagte Thanatos grimmig.
„Aber -“
„Widersprich mir nicht!“, fuhr Thanatos ihn an. „Du wirst jetzt das Dach beenden.“
Mikail verschränkte die Arme: „Du kannst mich nicht zu etwas zwingen! Ich werde keine Waffen bauen, das ist eine dumme Idee! Wir brauchen keine Waffen!“
Thanatos sagte kein Wort, aber er fixierte Mikail mit einem düsteren Blick. Die schwarzen Augen bohrten sich förmlich in Mikails Seele und ließen ihn zittern. Er hatte Angst vor Thanatos. Der Mann wäre zu allem fähig. „Dein letztes Wort?“
„Ja“, sagte er ruhig und dachte bei sich, dass er auch Thanatos von einer Klippe schubsen könnte, falls das nötig wäre. Natürlich würde Mikail so etwas nie tun. Aber es war eine ziemlich nette Vorstellung.
Thanatos deutete mit dem Kopf auf das Dach, in dem nur noch wenige Lücken waren.
„Und heute brauchst du ja kein Mittagessen“, sagte der andere Mann noch, als Mikail über die provisorische Treppe aus den nun leeren Kisten kletterte. Er drehte sich um und starrte Thanatos an.
„Offenbar hast du genug Energie“, sagte der Dunkelhäutige mit gefährlich sanfter Stimme. „Du wirst weiter arbeiten und nicht einmal in Richtung des Feuers sehen, kapiert?“
Mikail öffnete den Mund.
„Wenn du etwas anderes als Ja sagst, könnte es einen sehr hässlichen Unfall geben“, drohte Thanatos.
„Ja“, krächzte Mikail und starrte Thanatos hinterher, der sich einen Speer schnappte und Nokori suchen ging.
Nachdem er einige Stunden auf dem Dach zugebracht hatte, erholte sich Mikail langsam von dem Schock. Thanatos war tatsächlich wahnsinnig! Mikail konnte nur vermuten, was den Mann antrieb. Offenbar fürchtete er, Mikail könnte seine Autorität in Frage stellen.
Mikail hatte keine Ambitionen, die Führung über die Gruppe zu übernehmen. Aber er wollte auch nicht, dass Thanatos sich zu einem Tyrannen aufspielte. Er beschloss, an diesem Abend mit Kassia zu reden. Sie mussten herausfinden, was Thanatos' Plan war. Es gefiel Mikail nicht, wie der Dunkelhäutige die Macht an sich riss. Etwas stimmte da nicht.
Bis dahin besserte er die schwachen Stellen im Dach aus. Das konnte tatsächlich eine angenehme Arbeit sein, trotz des nagenden Hungers. Ohne den stöhnenden Henry an seiner Seite konnte sich Mikail tatsächlich so sehr konzentrieren, dass die Zeit wie im Flug verging. Dennoch arbeitete sein Gehirn auf Hochtouren, während seine Finger beschäftigt waren.
Sollte er sich vielleicht besser gegen Thanatos stellen? Was wäre das Beste für die Gruppe? Wenn Thanatos uneingeschränkte Macht erhielt, konnte er tun, was er wollte. Und niemand wusste, was Thanatos wollte.
Der erste Hauch des Abendrots überzog den Himmel, als Mikail plötzlich Schreie hörte.