Nach dem Prompt "Spaziergang im Grünen" vom 12.04.2020
Geschrieben am 12.04.2020 von 18:00 bis 19:00 Uhr
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BARBARA
Ohrenbetäubender Lärm reißt mich aus dem Schlaf und sofort stehe ich gefühlt senkrecht im Bett, während ich die Uhrzeit auf dem Wecker anstarre. Es ist noch nicht einmal acht und wo ich zuvor noch instinktiv besorgt war, breitet sich nun meine ungezähmte Wut aus. Mein wohlverdientes Ausschlafen am lang ersehnten Ostermontag ist dahin. Wer auch immer gedacht hat, dass er ausgerechnet jetzt und heute irgendetwas tun muss, wobei er sich lebensgefährlich verletzt, kann mit meinem Mitgefühl schon mal nicht rechnen. Zuerst überlege ich noch, ob ich mich aus Trotz einfach nochmal umdrehe, aber etwas Warmes und Weiches neben mir fehlt. Das ist eigentlich Gewohnheit und kein Problem, egal ob früher Vogel oder vorzeitig einsetzende senile Bettflucht, aber jetzt ärgert es ich mich, dass ich nichts zum Kuscheln habe. Im selben Moment ertönt aufgebrachtes Gebrüll. "Wer zur Hölle baut hier Stolperfallen auf der Treppe?" Es ist nur Roman und er lebt eindeutig noch. Ich kann also beruhigt noch eine Stunde schlafen und ihn vom Bett aus verfluchen.
Ein Tag, der so beginnt, kann eigentlich nur noch besser werden. Das denke ich mir zumindest, bis ich in meinem schönen Morgenmantel das Esszimmer betrete und mich eine verdatterte Frühstücks-Gesellschaft anglotzt, als komme ich von einem anderen Planeten. "Ja ich weiß, ich bin nicht geschminkt", murre ich, bevor irgendjemand einen blöden Spruch vom Stapel lassen kann. "Wo ist der Kaffee?" Man muss am Morgen immerhin Prioritäten setzen. Roman drückt sich wehleidig die blaue Giftmüll-Kompresse aus dem Tiefkühlschrank auf die Stirn und funkelt Edward feindselig an. Was auch immer die beiden schon wieder miteinander haben, es ist mir egal, solange ich noch keinen Kaffee habe. Auf Hilfe von meinem "Noch nicht und sicherlich auch nicht mehr in diesem Leben"-Angetrauten kann ich in dem Fall lange warten, der trinkt immer nur diese dünne milchige Blättchen-Plörre zum Frühstück.
Erst als Roman mich freundlicherweise mit einer dampfenden Tasse Kaffee erlöst, kann ich wieder klar denken. Zuerst fällt mir auf, dass an meinem Exmann nicht mein Bruder klebt, was mir eigentlich komischerweise gar nichts ausmachen würde. Dann sind beide wenigstens beschäftigt. Dunkel überkommt mich aber die Erinnerung, dass eigentlich heute auch noch zwei kleine blonde Mädchen hier sitzen und ihren Kakao quer über den Esstisch kippen sollten, damit ich mir keine Sorgen mache. Als ein Volleyball glücklicherweise nur unverschämt laut, aber nicht mit durchschlagender Wirkung von draußen gegen die Fensterscheibe knallt, kann ich mich endlich entspannen. "Was steht heute an?", frage ich also nur, nachdem ich meinen Kaffee in einvernehmlichem Schweigen mit mir selbst getrunken habe. Roman sieht immer noch so aus, als wolle er Edward gleich erwürgen, also frage ich diesbezüglich besser nicht nach. Der Totgewünschte aber lächelt nur sanft und zuckt mit den Schultern. "Vielleicht ein Spaziergang im Grünen?", schlägt er vor und im selben Moment schlägt Romans Hand auf den Tisch.
"Willst du mich verarschen?", fängt er wieder an zu mosern und einen Moment überlege ich, ob ich nicht lieber das Weite suchen sollte. "Wir waren gestern spazieren, das reicht für die nächsten zwei Jahre, von denen ich mindestens fünfundzwanzig Monate nicht hier in diesem Kaff verbringen möchte!" Eigentlich habe ich keine Lust mehr auf die ewige Diskussion, aber da setzt leider mein Beschützer-Instinkt ein, darum bleibe ich sitze. "Ein Jahr hat zwölf Monate, zusammen wären das also höchstens vierundzwanzig", gebe ich zu Bedenken und Roman schnaubt verächtlich. "Eben", sagt er deutlich und merke schon, das kann was Längeres werden. "Aber es geht ja nicht darum, was ich will. Ein Spaziergang im Grünen, pah! Klar, ich versteh schon. Hier kann man ja sowieso nichts anderes machen. Es ist schön, dass euch das ausreicht und ihr so genügsam mit eurem Leben seid, dass euer einziger Zeitvertreib darin besteht, aus purer Langeweile heimlich irgendwelche Sachen vor die Tür anderer Menschen zu legen, bis man drüber stolpert. Aber ich hab keine Lust mehr drauf!"
Edward wirkt mit einem Mal ganz und gar betrübt und lässt den Kopf hängen. "Ich sagte doch, es tut mir sehr leid", führt er wohl eine Unterhaltung fort, die ich weder zu vorherigem Zeitpunkt mitbekommen habe, noch jetzt mitbekommen möchte. "Es sollte nur eine nette Überraschung sein." Roman presst die Lippen aufeinander. "Sehr nett, ja", regt er sich auf, nimmt den Kühlbeutel von der Stirn und deutet theatralisch auf einen kleinen roten Fleck dort, der eventuell auch von der Kälte stammen könnte. "Und deswegen hab ich jetzt ne Beule und kann mich tagelang nirgendwo blicken lassen!" Edward entschuldigt sich abermals. Roman schweigt. Mir platzt der Kragen. "Raus hier", schnauze ich die beiden an, "Alle beide! Ihr bringt mich noch zur Weißglut." Roman schweigt. Edward überlegt kurz und fragt dann vorsichtig, "Weißglut habe ich schon mal gehört, aber ich habe vergessen, was-" "Raus!", schreie ich und deute auf die Tür. In meiner Wut räume ich die ganze Küche auf, wische den Boden und spüle das Geschirr aller Beteiligten ab, nachdem die zwei Streithähne mit betretenen Mienen wie Dick und Doof endlich abgezogen sind.
Mir reicht's. Ich will schaukeln, aber da ist besetzt. Es ist doch jedes Jahr dasselbe, egal ob Weihnachten oder Ostern. Man freut sich auf besinnliche oder zumindest ruhige Tage und es scheitert wie immer an der Familie. Ob nun ersten, zweiten oder fünfundzwanzigsten Schwiegergrades, aber es ist immer dasselbe. Als ich noch einen Kaffee getrunken habe und mich mit einer Schale Müsli vor die Glotze setzen will, fällt mir auf, dass es sowohl im Haus als auch vom Garten her verdächtig leise um mich herum ist. So gefährlich still wie die Ruhe vor dem Sturm. Das kann nicht gut sein, sage ich mir selbst, löffle mein Müsli hastig aus und mache mich auf die Suche nach etwaigen, gerade im Garten vergraben werdenden, einzelnen Körperteilen, die mehr Aufschluss geben würden. Stattdessen finde ich draußen nur Edward und Adrian, die gerade dabei sind, das vom Gestänge abmontierte, in die Jahre gekommene Sonnensegel an zwei Bäumen fest zu binden.
"Wenn ihr das als Hängematte benutzen wollt, ich trockne eure Tränen nicht und rufe auch keinen Krankenwagen heute", mache ich auf mich aufmerksam. Mein Bruder, der sich in der latent wärmenden Sonne natürlich mal wieder sofort das Hemd vom Leib reißen musste und jetzt mit dem sehr hässlich ausgeleierten Tanktop darunter mitten in meinem Garten darüber hinwegtäuscht, dass das überteuerte Fitness-Studio überraschenderweise doch seinen Dienst für verweichlichte Milchbubis leistet, ignoriert mich vollkommen. Vertieft in seine Arbeit tritt er erst ein paar Schritte zur Seite, als er sein Werk stolz betrachten kann. "Das ist ein Volleyballnetz", erklärt er mir und fühlt sich wohl von meinem schockierten Blick zu weiterer Ausführung aufgefordert. "Man benutzt es, um Volleyball zu spielen." Ich ignoriere ihn jetzt auch und schicke statt Stoßgebeten nun meinerseits Todewünsche an den Himmel. Der Volleyball liegt unbeachtet im Gras, bis Edward ihn zur Hand nimmt, auf die andere Seite tritt und probeweise zu Adrian spielt. "Ihr habt euch doch das Hirn in der Sonne verbrannt", stelle ich fest und mache mich auf die Suche nach den Kindern.
Ich finde sie um die nächste Hausecke neben der Schaukel im Schatten der Fliederbüsche und verstecke mich. "Also ich bin Jekaterina Gamowa", behauptet Emily stolz. "Ich bin Mila Superstar!", jauchzt Elaine, dann schaut sie Roman an, der auf der Schaukel sitzt und ein Gesicht macht, als würde er sich gerade eine Welt erklären lassen, in der jemand das Rad neu und besser erfunden hatte. "Und wer bist du?" Roman seufzt. "Ich heiße Roman, das hab ich doch schon mal gesagt!", murrt er dann erst, als sie ihn nicht in Ruhe lassen. "Nein, aber im Spiel, meine ich!", beschwert sich Elaine und rüttelt an seinem Arm. Ich bleibe hinter meinem blühenden Versteck, lausche und beobachte fasziniert. Niemand schreit. Niemand weint. Niemand ist gerade dabei, das Zeitliche zu segnen. Adrian und Edward weihen gerade das Volleyballfeld ein, während die beiden Star-Spielerinnen gerade Roman in die Geheimnisse ihrer blühenden Fantasie einweihen.
Ich bin beeindruckt, verbuche diesen Umstand als positive Fügung des Himmels und bin der festen Überzeugung, dass man nicht immer einen Spaziergang im Grünen braucht. Hier ist es immerhin auch recht grün geworden und nachdem meine Lachmuskeln beim Beobachten aus der Ferne schlapp machen, spiele ich tatsächlich unter der Schiedsrichter-Aufsicht von Emily und Elaine ein erstaunlich rasantes Doppelduell mit Edward gegen Roman und Adrian. Nach dem großen Drama beim Abschied gegen Abend habe ich tatsächlich noch ein paar Tränen zu trocknen. Aber als die Kinder dann wieder bei ihrer Mutter angekommen sind, gesellt sich Edward aus der Trauerhöhle doch noch zu uns anderen drei auf die Terrasse, wo wir gerade aus purer Faulheit wieder den Grill anheizen, um lieblos aber lecker ein paar Reste zu verwerten. Roman kühlt seine imaginäre Beule mit einer Flasche Bier irgendwann nur noch von innen, Adrian hat glücklicherweise wieder ein Hemd an und Edward kann bald wieder lachen. Spaziergänge sind nicht alternativlos, so viel steht fest.