Nach dem Prompt "Verhext" vom 22.07.2020
Geschrieben am 22.07.2020 von 18:00 bis 19:00 Uhr
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EDWARD
Eigentlich wollten wir nur einige Stunden bei Barbaras Eltern verbringen, um den Geburtstag ihrer Mutter zu feiern. Immerhin ist es eine recht lange Strecke mit dem Auto, Roman fährt ungern bei Nacht und soweit ich es mitbekommen habe, hatte Adrian von Anfang an wenig Lust auf diesen Ausflug. Nach dem Essen sitzen wir dennoch noch eine ganze Weile zusammen und versuchen uns darauf zu einigen, welches Brettspiel man noch zusammen spielen könnte. Wir kommen auf keinen gemeinsamen Nenner, trotzdem lachen wir viel und die Stimmung ist entspannt, beinahe ausgelassen. Als wir letzten Endes beschließen, uns dann doch besser langsam mal auf den Rückweg zu machen, ist es bereits wirklich spät, Roman gibt zu bedenken, dass er die letzte Weinflasche fast allein ausgetrunken hat, und Helmut schlägt vor, dass wir doch auch über Nacht bleiben könnten. Umstände wären das ja keine, solange niemand etwas dagegen hat, dass das Gästezimmer nur ein Doppelbett und ein recht wackliges Klappbett beherbergt, das Sofa wäre immerhin auch frei.
"Mir gehört das Doppelbett", reserviert sich Barbara wie aus der Pistole geschossen einen Schlafplatz, "Wer mit wem ansonsten wo auch immer schläft, das ist mir sowas von egal." Eigentlich bin ich davon ausgegangen, dass ich schon aus reiner Gewohnheit in dieser Aussage mit inbegriffen bin. Als Roman sich die Couch eingehend betrachtet und laut feststellt, dass da keine zwei Personen nebeneinander drauf passen, zuckt Barbara aber mit den Schultern und meint trocken, "Dann müsst ihr euch eben stapeln. Ich war am Schnellsten, mein Rücken bringt mich bald um, mir gehört das Bett." Roman runzelt die Stirn, murrt beleidigt irgendwas davon, dass er ja auch im Auto schlafen könnte und Adrian starrt resigniert Löcher in die Luft, als würde er sich gerade fragen, was in seinem Leben er bloß falsch gemacht hat, um das hier verdient zu haben. Mir ist gerade egal, wo ich schlafe, Hauptsache ziemlich bald, denn ich werde während dieser Diskussion mit einem Mal sehr schnell wirklich sehr müde.
"Du hast Rückenschmerzen?", erkundigt sich Gisela bei ihrer Tochter und fügt noch vor einer etwaigen Antwort gleich trocken hinzu, "Na, die Jüngste biste ja auch nicht mehr. Aber pass auf, gegen Hexenschuss hab ich ein gutes Hausmittel!" Barbara runzelt misstrauisch die Stirn, "Ich werde nicht gemeinsam mit dir Drogen konsumieren, Mama! Schlag dir das endlich aus dem Kopf." Aber ihre Mutter winkt sehr theatralisch wie in Zeitlupe ab, "Ach, ich weiß doch längst, dass du der Pflanze nicht wohlgesonnen bist, also hat das sowieso keinen Sinn. Davon rede ich aber gar nicht. Vertrau mir, ich habe in den letzten Jahren auch ohne dich meine Braukünste perfektioniert!" Eigentlich will ich noch gespannt sein, was genau sie damit meint, aber mir ist ziemlich übel, mein Fuß schläft ein und es zieht ungeheuerlich durch das gekippte Fenster, deswegen mache ich mir diese Mühe jetzt nicht auch noch. "Die Hexe hat echt nen Schuss", flüstert Roman so laut in Adrians Ohr, dass sogar ich es hören kann.
Helmut ist der Einzige, der darüber lautstark lacht, es dröhnt geradezu in meinen Ohren. "Ich werde auch keinen Alkohol trinken", gibt Barbara zähneknirschend zu bedenken. "Wieso das denn?", will Gisela schließlich nach einer langen Pause wissen, in der niemand etwas gesagt hat, "Bist du schwanger oder einfach nur genauso spießig geworden wie dein Vater?" Wenn Blicke töten könnten, würde Barbara nun bald des Muttermords angeklagt werden. Prüfend wirft Gisela ausgerechnet Roman einen sehr viel gütigeren Blick zu, aber der verkneift sich wohl gerade angestrengt das Lachen. Meine Augen brennen, die Haut an meinen Wangen fühlt sich taub und kribbelig an, ich reibe mir müde das Gesicht. Adrian steht auf, sagt irgendetwas, was ich nicht ganz verstehe und verschwindet mit einem Mal aus meinem Blickfeld. Barbara lacht, ihr Vater sagt noch etwas, Roman sitzt mehrere Minuten einfach nur regungslos da und ich erschrecke mich halb zu Tode, als Adrian plötzlich den Arm um mich legt und fragt, ob ich nicht mal ins Bett gehen möchte.
Typisch, denke ich noch. Aber das ergibt bei näherem Nachdenken absolut keinen Sinn, immerhin hat er mich das noch nie gefragt, auch wenn ich eben noch der festen Überzeugung war, dass wir vor gar nicht langer Zeit in exakt derselben Situation waren. "Hey", Adrian rüttelt an meiner Schulter. "Ja, sofort", höre ich meine eigene Stimme murren, "Ich wollte doch nur noch kurz..." Grübelnd breche ich diese Aussage ab, weil ich mich beim besten Willen nicht daran erinnern kann, was in aller Welt ich doch nur noch kurz wollte. Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wo ich mich befinde, als ich die Augen öffne und es um mich herum dunkel ist. Prüfend taste ich um mich, es ist weich, es ist warm und ich bekomme Barbaras Hand zu fassen. Mir tut alles weh, ich bin endlos müde und beschließe spontan, das mir eigentlich sehr egal ist, wo ich bin, wie ich hierher gekommen bin und ob deswegen irgendjemand den Schock seines Lebens erlitten hat.
Es ist immer noch dunkel, als ich nicht mehr liegen kann und mich im fremden Haus auf die Suche nach einer Toilette begebe. Tatsächlich finde ich einen Lichtschalter, Barbara schläft tief und fest. Leise verlasse ich das Gästezimmer und versuche mich in der unbekannten Wohnung zu orientieren. Es muss noch früh am Morgen sein, das ganze Haus versinkt in Dunkelheit, aber nachdem meine Suche erfolgreich war, entdecke ich nach getaner Arbeit etwas Licht unter einer Tür durchblinzeln. In der Küche sitzen Adrian und Roman, unterhalten sich mit gedämpfter Stimme und starren mich an, als hätten sie einen Geist gesehen, nachdem ich einfach ohne zu klopfen eintrete. "Möchtest du einen Kaffee?", fragt Roman zuvorkommend. Ich lehne dankend ab. "Gisela meinte, wir sollen uns wie zuhause fühlen und uns gern bedienen", informiert mich Adrian und deutet vage auf die Küchenschränke. Nachdem ich mir einen Tee gemacht habe, fühle ich mich sofort sehr viel besser.
"Wie spät ist es eigentlich?", erkundige ich mich. Roman schaut auf seine Armbanduhr, "Halb sechs. Sobald alle wach sind, steigen wir ins Auto und verduften, ich habe keine einzige Sekunde geschlafen und wenn ich nicht bald nach Hause komme, werden wir hier solange festsitzen, bis ich den Schlaf nachgeholt habe!" Adrian schnauft genervt, "Du hättest auf dem Sofa schlafen können, niemand kann etwas dafür, dass du dir zu fein dafür warst." Ich trinke etwas zerknirscht meinen Tee und versuche angestrengt, die Sorte zu erkennen, könnte ihn aber nicht einmal geschmacklich beschreiben. "Geht es dir denn besser?", fragt Adrian vorsichtig. "Sehr viel besser, danke", ich schenke ihm ein aufmunterndes Lächeln und spüle die Unsicherheit und das schlechte Gewissen mit dem restlichen Tee hinunter.
Als wir später alle gemeinsam noch beim Frühstück sitzen, ehe wir losfahren wollen, betrachtet mich Barbara sehr eingehend, schaut mir extrem lange prüfend in die Augen und fragt mich flüsternd, ob ich noch alle Tassen im Schrank hätte. Ich bin verwirrt. Sie wirft mir vor, dass ich doch komplett übergeschnappt bin, wie verzweifelt ich denn sein muss und dass ich ihrer Mutter wirklich nicht alles glauben sollte. Als ich mich verteidige, dass ich nicht einmal weiß, wovon sie spricht, schnaubt sie beleidigt, deutet in mein Gesicht und behauptet, das würde ja ein Blinder an meinen Pupillen erkennen können. Gisela hingegen scheint etwas in ihrem Küchenschrank zu suchen. Energisch stemmt sie die Hände in die Hüften und schaut sich anklagend im Raum um, "Wer auch immer mir mein letztes Gras weggeraucht hat... Ist ja schon in Ordnung, aber man hätte doch wenigstens mal vorher fragen können!" Es dauert eine ganze Weile, bis ich verstehe und betreten auf meine leere Teetasse schaue.