Nach dem Prompt "Lichtblick" vom 13.12.2020
Geschrieben am 18.01.2021 von 00:30 bis 01:30 Uhr
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ADRIAN
Es gibt Tage, an denen wünscht man sich, dass sie niemals zu Ende gehen. Wenn man sich vorstellen könnte, diesen einen Moment für die Ewigkeit zu genießen, niemals aus einem wunderschönen Traum zu erwachen und für alle Zeit in dieser Situation zu verharren. Das gibt es sicherlich, will ich gar nicht bestreiten. Heute jedoch ist nicht dieser Tag. Eher einer, an dem man das Bedürfnis hat, sich gleich nach dem Aufstehen zurück ins Bett zu legen und mindestens vierundzwanzig Stunden durchzuschlafen. Trotzdem schlage ich mich natürlich wacker durch die endlos scheinenden Qualen im Büro-ähnlichen Home Office. Bis zur Mittagspause nach einem schnellen Kaffee in der glücklicherweise leeren Küche stehen noch einige nervenaufreibende Video-Meetings an. Danach bin ich mir sicher, dass ich mittlerweile mindestens so viele graue Haare wie Roman auf dem Kopf habe, aber mit dem erleichternden Wissen um den wohlverdienten Feierabend klappe ich geräuschvoll das Netbook zu. Auf dem Weg ins Bett zu meiner einsamen Netflix & Chill-Verabredung mit mir selbst werde ich jedoch von einem Tumult im unteren Stockwerk abgehalten. War ja klar, dass der Tag nicht einfach so vorbei ist. Wäre ja zu schön gewesen.
Im Wohnzimmer unten finde ich meinen Freund in einer dramaturgisch sehr wertvoll inszenierten Lebenskrise vor. In erster Linie bin ich zwar genervt, aber irgendwie doch froh, dass diese äußerst gefährliche Situation nicht früher schon so laut eskaliert ist. "Wenn ich sage, dass es so ist, dann ist es so!", beharrt Roman auf seiner Meinung zu einer Sache, die ich nicht mitbekommen habe - und die mich eigentlich auch nicht interessiert, weil ich sicherlich nichts damit zu tun habe. Gerade will ich ihn bitten, ein wenig leiser zu brüllen, da fällt Barbara mit ebenso aussagekräftigen Argumenten in das Gezanke ein, "Und wenn du dich auf den Kopf stellst, Tatsachen sind Tatsachen und deine blöden Sprüche ändern absolut nichts daran!" Ein Glück, dass die Kinder nicht da sind, denke ich mir noch und schiele auf den Saum von Barbaras Rollkragenpullover, unter dem hoffentlich das jüngste Familienmitglied in spe noch nichts von den Streitereien mitbekommt. "Sag doch auch mal was!", herrscht mich Barbara an. "Ihr habt sie nicht mehr alle", kommentiere ich die Lage tonlos. "Ich weiß nicht einmal, worum es geht!" Roman deutet theatralisch leidend auf irgendeinen Wisch, der auf dem Wohnzimmertisch liegt. "Offensichtlich gibt es technische Probleme bei der Bank oder mit dem Kontoauszugsdrucker und natürlich behauptet sie deswegen, dass ich die Miete nicht überwiesen hätte. Das ist nicht nur eine unbegründete Mutmaßung, sondern greift mich persönlich in meiner Ehre an!" Ich runzele die Stirn. Barbara klatscht sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. "Du hast den Schuss nicht gehört, oder?", keift sie Roman an. "Mir geht es nicht um das Geld, das kriege ich sowieso früher oder spät. Es geht darum, dass wir mittlerweile endlich soweit sein sollten, dass wir ehrlich miteinander reden können, ohne dass du dich immer mit irgendwelchen Notlügen aus der Affäre ziehen musst!"
Wortlos gehe ich in die Küche und knalle die Tür hinter mir zu. Es geht also mal wieder darum, wer in diesem Haus die größte Klappe hat. Nichts, was mich an einem solchen Scheißtag interessieren würde. Nichts, was irgendeine Berechtigung in einem normalen Tagesablauf hätte. Nur zwei viel zu aufgeblasene Egos, die in dieser Enge aufeinander prallen. Ich muss hier weg. Wenigstens für zehn Minuten, aber auf längere Dauer vielleicht doch wieder komplett in eine andere Wohnung. In eine andere Stadt, - überhaupt wieder eine Stadt und kein Dorf - am besten eine Großstadt, eine pulsierende Metropole, bestenfalls noch am anderen Ende der Welt- ob Roman mitkommt oder nicht. Ich ziehe aus. Mir reicht's. "Wir brauchen einen Hund", lasse ich das bedröppelte Häufchen Elend am Küchentisch wissen, während ich heißes Wasser aufsetze. "Dann könnten wir mit dem Spazieren gehen, bis die beiden sich wieder ausgesponnen haben." Ob er nun geflohen ist oder nach einem Einmischungsversuch zur Streitschlichtung auf die stille Bank geschickt wurde, ich habe zumindest einen Verbündeten gefunden. Vermutlich weniger genervt, sondern mehr harmoniebedürftig, aber das ist in diesem Moment zweitrangig.
"Wir können auch ohne Hund spazieren gehen?", schlägt Edward vor. Ich schaue vom Wasserkocher auf und starre ihn verwirrt an. Was? Wir beide? Einfach so? Ohne jegliche Vorwarnung und ohne irgendwelche tatsächlich sinnvollen Gründe? Raus hier. An die frische Luft. Gemeinsam eine kleine Runde unter freiem Himmel- Ja. Warum eigentlich nicht? Kurze Zeit später haben wir uns aus der Terrassentür durch den Garten geschlichen, um auch ja keine Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Himmlische Ruhe durchströmt mich, die letzten Strahlen der Abendsonne lassen mich das Gekeife und Gezeter in meinen dröhnenden Ohren beinahe vergessen. Nach einer ganzen Weile Schweigen beginnt Edward zögerlich eine Unterhaltung. Eigentlich habe ich keine Lust, antworte einsilbig, aber nach nur ein paar Minuten ist das Eis gebrochen. Wir unterhalten uns erstaunlich gut. Roman und Barbara scheinen beinahe vergessen, so lebhaft wie unser Gespräch bald vom Hundertsten ins Tausendste führt. Ich habe bislang wirklich nicht gewusst, dass man mit dem Mann so gut reden kann. Noch weniger habe ich geahnt, an wie vielen Stellen sich unser Geschmack überschneidet, was Kunst und Kultur angeht. Es dauert nicht lange und wir diskutieren mit Händen und Füßen, fachsimpeln über gemeinsame Interessen, bis die Sonne hinter den letzten Dächern verschwunden ist. Während wir uns auf den Heimweg begeben, entschuldige ich mich im Stillen dafür, den unscheinbaren Mann so sträflich unterschätzt zu haben. Deutlich aber lasse ich ihn mit ein paar ehrlichen Worten wissen, wie dankbar ich über die Ablenkung von der Gesamtsituation und diesen kleinen Lichtblick heute bin. Fast ertappe ich mich bei dem Gedanken, dass dieser Spaziergang nie enden soll. Dass dieser Moment der einvernehmlichen Ruhe und Harmonie bis in alle Ewigkeit andauern könnte - aber dann zieht es uns arme Irre leider doch wieder zu den beiden Streithammeln, die wir leider jeweils viel zu sehr ins Herz geschlossen haben, um gemeinsam weit weg zu fliehen.
Als wir zurückkommen, ist es verdächtig still im Haus. Noch während wir verstohlen Jacke und Schuhe ablegen und versuchen, uns unauffällig zu verhalten, erscheinen zwei sehr sprachlose und gar nicht mehr zankende Köpfe im Türrahmen zum Wohnzimmer und starren uns einige Zeit nur aus offenen Mündern an. Die Retourkutsche kommt natürlich bald, als wir zur nächsten Krisensitzung alle versammelt sind. Die beiden echauffieren sich, Roman hat die Arme vor der Brust verschränkt und Barbara die Hände in die Hüften gestemmt. Wie zwei zu Unrecht beschuldigte Verbrecher sitzen Edward und ich auf dem Sofa und fragen uns, was wir falsch gemacht haben. "Wir hätten eure Unterstützung wirklich gebrauchen können", ärgert sich Roman. "Und stattdessen dachtet ihr euch, ihr haut einfach so mal ab? Ich habe alles Mögliche befürchtet, was bei euch passiert sein könnte!" Sie beschließen einstimmig: "Wir haben uns Sorgen gemacht." Roman würdigt mich keines Blickes. Barbara mustert uns aus eifersüchtig verengten Augen, als hätte sie Angst, dass wir jeden Moment gemeinsam in den Flieger steigen auf eine einsame Insel durchbrennen würden. Ich seufze tief und lasse weitere unausgesprochene Vorwürfe an mir abprallen. "Wir brauchen doch einen Hund", stellt Edward fest.