- Start: 03.10.2020 - 15:28 Uhr
- Ende: 03.10.2020 - 15:56 Uhr
Es war im Schein des vollen Sommermondes, dass ich sie zum ersten Mal erblickte. Barfuß lief sie am Strand, das lange Haar weiß wie Nebelschleier, gehüllt in ein Kleid aus silbrigem Schein.
Gebannt folgte ich jeder ihrer Bewegungen. Ich hatte noch spät in der Nacht Netze eingeholt und nun wunderte ich mich über diesen Anblick. Was mochte dieses Mädchen am Strand suchen? Nie zuvor hatte ich sie in unserem Dorf gesehen.
Ich rief sie an, denn ich sorgte mich um sie in der Kühle der Nacht. Da fuhr sie herum, erblickte mich und floh mit flinken Schritten über den Sand.
Ich rannte ihr nach, doch sie bog um eine Klippe, und als ich die Stelle erreichte, da war sie fort.
Doch seitdem kreisten meine Gedanken fortwährend um diese merkwürdige Begegnung. Drei weitere Nächte harrte ich jede Nacht am Strand aus, doch sah ich weder ihren schlanken Fuß noch ihr schneeweißes Haar. Ich fand kaum Schlaf und fand mich des Tages immer wieder wie traumwandelnd am Strand wieder. Sehnsucht hatte mein Herz ergriffen. Sehnsucht und Neugier.
Es war einen Monat später, da ich im Rauschen der Wellen plötzlich ein Lied vernahm. Obwohl leise fand es seinen Weg bis hinauf in meine Hütte und tief in meinen Schlaf, aus dem ich sogleich erwachte.
Erneut stand der Vollmond rund und hell am Himmel. Mein Herz pochte vor Aufregung. Wie unter einem Bann stieg ich aus dem Alkoven und wanderte hinunter zum Ozean.
Und dort war sie, auf der Linie der Wellen tanzend, und ihr Gesang trug weit über die Wellen. Wie aus erlöschender Glut ein neues Feuer entsteht, schlugen Sehnsucht und Neugier in mir hoch. Doch wagte ich nicht, mich zu nähern, denn ich wollte sie nicht erneut verscheuchen. Bebend kauerte ich hinter einem Strauch und verfolgte ihre Bewegungen, jeden Schritt und jedes Zucken der schlanken Finger. Mein Herz zog sich vor Sehnsucht schmerzhaft zusammen, doch kam ich kein Geräusch von mir. Ja, ich bin mir sogar sicher, dass ich in all den Stunden keinen einzigen Atemzug tat, nur gefesselt von ihrem Anblick.
Als es Tag wurde, wanderte sie von dannen, wieder hinter die Klippe. Im Morgengrauen folgte ich hier, doch konnte ich keine Spur entdecken.
Den ganzen Tag über weilte mein Geist an jenem nächtlichen Strand unter dem Mondschein. Ich tat meine Aufgaben schlecht und reagierte nicht, wenn jemand mit mir sprach. Ich aß und trank nichts, bis der Abend dämmerte. Sobald die erste Dunkelheit vom Meer her aufzog, eilte ich zum Strand, ohne Jacke und ohne Schuh. Verborgen wartete ich, doch ach, sie erschien nicht wieder. Stunde um Stunde verging und der Mond kroch zwischen den Sternen dahin. Ich konnte nicht ruhen, denn mein Innerstes verzehrte sich nach ihr. Immer lauter hörte ich ihr Lied in meiner Seele, eingegraben in mein Herz. Eine sehnsuchtsvolle Weise in Worten, die ich nicht verstand, erzählte mir von Trauer und Verlust weit jenseits von allem, was ich mir vorstellen konnte. Meine Lippen bebten in stummen Schluchzen.
Erst zum Morgen hin verfiel mein erschöpfter Geist in einen tiefen, schwarzen Schlaf. Sie fanden mich am Strand und brachten mich nach Hause, wo ich alsbald furchtbar krank wurde. Ich war zu matt, um zu arbeiten, hatte weder Hunger noch Durst, denn jede Speise schmeckte meinen Lippen fad und trauerdurchwoben. Doch auch Ruhe fand ich keine. Stundenlang lag ich wach und lauschte auf die fernen Wellen, in meinem Herzen spielten silbrige Saiten das Lied der merkwürdigen Frau. Sie hielt alle meine Gedanken gefangen, bis eine Stunde sich für mich zu Jahrzehnten dehnte. betrat jemand meine Kammer, so kehrte ich erst langsam wie von einer weiten Reise zurück. Ich vergaß die Namen der Menschen in meinem Dorf, bis ich sogar meinen Vater nicht wiedererkannte. Trauer grub sich in die Gesichter meiner Freunde und Familien. Doch dies kümmerte mich wenig, denn jede Nacht drängte es mich wieder zum Strand.
Bald blieb ich dem Dorfe fern, kletterte Tag und Nacht durch die Klippen und suchte nach ihr. Ich suchte, bis ich vor Erschöpfung und Durst taumelte, denn ich wusste nun, dass sie zurückkehren würde, dass sie nicht nur ein Traum gewesen war, sondern real.
Wie oft flehten sie mich an, nach Hause zu gehen und zu schlafen! Doch ich hörte nur noch ihre Stimmen und sah nur noch das Gesicht der weißhaarigen Frau vor mir. Jung war sie und wunderschön, Augen so dunkel wie das Meer und Lippen so voll wie der Mond, unter dessen Schein sie tanzte.
Nur langsam füllte sich das Gestirn am Himmel. Ungeduldig fieberte ich dem Vollmond entgegen, und mir schien es, als würde sich jeder Tag immer länger strecken. Bald waren es Jahre und Jahrtausende, die für mein Empfinden verstrichen.
Doch schließlich sah ich den Mond voll und rund am Himmel, als die Sonne sank. Da befiel mich eine unnatürliche Ruhe, nachdem ich einen Monat lang bei jedem Atemzug gezittert hatte.
Ich ging zum Strand und setzte mich dorthin, auf kühlen Sand zwischen Muscheln und Gischt. Sterne erglühten in der Nacht. Ich saß dort, wo ich ihre Spur schon zweimal verloren hatte, hinter der großen Klippe, und sah zu, wie der Mond die Welt in Silber badete. Der Herbst lag bereits kühlend in der Luft, doch fühlte ich keine Kälte und keine Nässe. Müdigkeit und Durst waren fort, wie auch der Hunger, wo ich doch seit ich sie zuletzt gesehen keinen Bissen zu mir genommen hatte.
Dann kräuselten sich die Wellen vor mir und aus der schwarzen, gischtgekrönten Tiefe entstieg sie und kam mir entgegen. Der Wellenschaum schmiegte sich an ihren schlanken Leib zu einem Kleid. Auf ihrem mondstrahlenfarbenen Haar saß eine Krone aus Muscheln und Perlen. Mit ihren dunklen Augen sah sie in meine, als sie zu mir trat. Gefangen in ihrem Bann konnte ich mich nicht rühren. Sie reichte mir die Hand und sprach: "Komm mit mir, mein Geliebter. Lange hast du geharrt, doch diese Zeit ist vorbei. Du sollst an meiner Seite leben und eines Tages König werden über mein Reich unter der See. Verlasse diesen Ort und folge meinem Ruf das letzte Stück."
Ich ergriff ihre Hand, die kühl war, doch mich fröstelte nicht. Seite an Seite traten wie in die Wasser und ich fühlte die Ebbe an mir ziehen, stark wie die Sehnsucht, die mich hergeführt hatte.
Die Mondscheinprinzessin legte ihre Arme um mich und gab mir einen Kuss, und mit diesem sanken wir in die Tiefe. Die Welt unter den Wellen empfing mich samtig und weich. Ich trank das salzige Wasser wie einen Lebenssaft. Ihr Kuss zog mich tiefer in die Schwärze zwischen dunklen Klippen, doch gewöhnten sich meine Augen an die Finsternis, denn die Frau an meiner Seite leuchtete wie der Mond. Und ich merkte, dass ich atmen konnte wie ein Fisch. Da war es, als würde ich meine Kleider abstreifen und mit ihnen ein Leben, das niemals meines gewesen war, und so kehrte ich zurück in die See, aus der wir alle stammen. Wie eine liebende Mutter umarmte meine neue Heimat mich liebevoll.