- Start: 26.08.2019 - 17:24 Uhr
- Ende: 26.08.2019 - 18:12 Uhr
Still lag das Meer unter dem Licht der Sterne. In den sanft gekräuselten Wellen spiegelten sich die Nordlichter, wie ein bunter Vorhang über der Welt, nur durchschnitten von vereinzelten Sternschnuppen in dieser klaren Nacht.
Die Wasser waren pechschwarz unter ihr. Doch Jorlee glitt an der Grenze zur Finsternis entlang, dort, wo das Licht des nächtlichen Regenbogens noch durch die Wellen drang und sich mit dem Sternensilber der obersten Meeresschichten mischte. Wie Wolken glitt hin und wieder eine Eisscholle über ihr dahin.
Jorlee liebte die Stille. Die Grenzenlosigkeit des Ozeans war hier zu hören, seine Wassermassen auf viele Meilen verlassen und stumm. Kein Wesen teilte die Fluten mit ihr. Auch die Rufe ihrer Familie waren lange hinter ihr verstummt.
Die Strömungen waren kalt. Mit trägen Flossenschlägen schwamm sie vorwärts, doch Jorlee musste erschöpft bemerken, dass es Dinge gab, vor denen auch sie nicht davonschwimmen konnte. In ihrem Kopf jagten die Gedanken hin und her wie Fische in einem aus Luftblasen gebildeten Gefängnis, wie Sturmtaucher, die aus dem Himmel schossen, gefiederten Pfeilen im Wasser gleich.
Jorlee hatte einmal Delfine bei der Jagd beobachtet, fasziniert vom Können der kleineren Verwandten. Ihre Schule hatte die Taktik bald übernommen, doch während sich Fische von einem Vorhang aus Luftblasen täuschen ließen, waren Robben und Pinguine um einiges klüger.
Jede Art Beute brauchte ihre eigene Form von Jagd, wie Probleme, die eine spezielle Antwort benötigten. Jorlee mochte das an der Jagd - man musste sich auf die Beute und die Umgebung einstellen, musste jeden Trick nutzen ...
Sie wurde langsamer. Die Gedanken an die Jagd konnten sie nicht lange ablenken. Denn unweigerlich kreisten ihre Gedanken um den schwarzen Jäger, den sie gesehen hatte. Viele Wochen war es nun her, dass sie ihn das erste Mal gesichtet hatte: Ein tiefschwarzer Schatten, so dunkel, dass er sich vor dem Schwarz der Tiefsee noch abhob. Er war groß gewesen. Größer als ein Blauwal, sogar größer als die riesigen Metallwale, die an der Oberfläche und sogar darunter schwimmen konnten, diese seelenlosen Kreaturen, deren verzerrte Stimmen keine Worte formten.
Die Metallwale waren zwar unheimlich und auch nicht immer harmlos, aber sie standen zurück hinter jenem ... Wesen, das in dieser Nacht aufgetaucht war. Jorlee hatte nicht schlafen können, und während die Schule träge voranzog, hatte sich das Kalb etwas von seiner Mutter entfernt. Da hatte Jorlee bemerkt, wie das Meer kälter wurde. Als wäre die Nähe zu ihrer Mutter eine warme Strömung, aus der sie sich entfernt hatte. Sie hatte gezittert und sich mit angstgeweiteten Augen umgesehen.
"Bleib immer dicht bei mir", hatte ihre Mutter gesagt. "Wir sind die Herrscher der Ozeane, nur wenige sind größer als wir, niemand wagt es, uns anzugreifen. Aber du, Kälbchen, bist noch klein. Manche könnten versuchen, dich zu fressen. Bleib immer bei mir."
Jorlee hatte sich umdrehen wollen, um schnurstracks zurück zur Mutter zu schwimmen, als sie eine Bewegung unter sich bemerkt hatte. Und dort, dem Reich der Riesenkraken und Buckelwale entstiegen, sah sie einen gigantischen Schatten. Größer als alles, was sie je gesehen hatte, als wäre der Boden selbst lebendig geworden.
Einen Moment war sie starr vor Schreck gewesen. Sie hatte gespürt, wie sie sank, diesem gewaltigen Ding dort entgegen. Dann hatte sie sich zusammengerissen, war umgedreht und geflohen. So panisch, dass sie ihre Mutter gerammt hatte.
Niemand hatte sie verstanden. Zuerst war sie zu aufgeregt gewesen, um zusammenhängend zu erzählen. Als sie dann später berichtete, was sie gesehen hatte, glaubte ihr niemand der älteren Orcas.
"Das hast du geträumt."
"Nur die Spinnerei eines überängstlichen Kalbs."
Zu diesem Zeitpunkt war Jorlee erwachsen geworden. Sie wusste, dass niemand sie vor diesem Wesen beschützend konnte. Verdammt, niemand glaubte überhaupt, dass sie es wirklich gesehen hatte! Sie behielt ihre Geschichte fortan für sich, um den Sticheleien der anderen Kälber zu entgehen.
Sie hatte das Wesen noch häufiger gesehen, nachts, wenn es mit trägen Bewegungen unter ihr dahinschwamm. Sie konnte es bald auch am Tage fühlen. Die Kälte. Dann erkannte sie, dass Ebbe und Flut, diese rätselhaften Mächte, nichts anderes waren als der Flossenschlag des Unbekannten. Langsam, über Stunden hinweg, hoben sie sich an, senkten sich langsam, über Stunden hinweg wieder, und brachten dabei den gesamten Ozean in Bewegung.
Schließlich sah sie es auch am Tage. Tief unter sich, zu groß, als dass sie sagen könnte, was genau sie sah: Kopf? Rumpf? Flosse? Sie sah nur die geschuppte Oberfläche, zerfurcht, narbig wie das Angesicht des Mondes hoch am Himmel.
Was auch immer es war ... es bewegte sich in die gleiche Richtung wie Jorlee.
Schließlich bemerkten die anderen, wie sie stets nach unten sah. Ihre Mutter, die sich Sorgen machte, fragte Jorlee danach.
"Siehst du es nicht?", hatte die Tochter leise gefragt. "Dort unten?"
Angst hatte ihre Stimme zum Zittern gebracht, doch längst empfand Jorlee auch Bewunderung für dieses majestätische Wesen. Es faszinierte sie. Wie mochte sich diese gewaltige Tier fühlen? War es einsam, so völlig allein, das einzige Exemplar seiner Art?
Oder gab es mehr von ihnen?
"Was meinst du?", hatte ihre Mutter gefragt. "Hier ist nichts."
Jorlee hatte nicht weiter gedrängt. Sie hatte sich nur immer weiter von ihrer Mutter entfernt, immer weiter von der Herde. Ihr Herz schlug schneller, wann immer sie tiefer sank. Sie konnte die Präsenz des Wesens spüren, seine Kraft, seine Macht. Sie wollte mehr über es wissen, aber sie hatte auch Angst. Furchtbare Angst. An der Oberfläche fühlte sie sich halbwegs sicher, hier am Rand des Reviers des Giganten. Wo er sie hoffentlich nicht bemerkte. Doch tiefer unten im offenen Meer fühlte sie sich klein, hilflos, allein ...
Nachts war es schlimmer. Dann konnte sie den Schatten nur noch erahnen. Er war größer geworden, oder beim ersten Mal hatte sie nur eine Flosse gesehen. Jetzt war es unmöglich, die Kreatur noch zu erblicken.
Sie war größer geworden ... oder näher gekommen? Näherte sie sich diesem winzigen, neugierigen Orca-Mädchen nah am Himmel?
Jorlee hatte ihre Unruhe nicht länger vor der Schule verbergen können. Und so war sie geflohen. Sie konnte sich nicht auf das Gelächter und die spöttischen Bemerkungen der anderen konzentrieren. All das störte ihre Gedanken, wo sie doch endlich ergründen wollte, was diese Kreatur war.
War es ein harmloser Krilljäger wie die großen Blauwale? Doch selbst Wale waren nichts als Krill für eine solche Kreatur. Mit einem Schlag der Fluke - wenn sie eine hatte - könnte sie den Ozean entleeren.
Jorlee richtete den Blick nach oben. Sie wusste, dass ihr schwarz-weißer Leib vor dem Licht der Gestirne leicht zu entdecken war. Sie blies nur schüchtern aus dem Kopfloch, schwamm langsam und leise. Sie wollte nicht bemerkt werden. Sie wollte diesem Wesen entkommen, doch wo? Im endlosen Dschungel der Eisschollen? An den steilen Klippen der Inseln? Oder tief am Boden, unter dem Bauch des Leviathans?
Woran sie auch dachte, nirgendwo wäre sie wirklich sicher. Nicht vor einem Tier, das selbst Stein zermalmen könnte.
Jorlee stockte. Das Wasser war kälter geworden. Und die Dunkelheit der Tiefe war schwärzer geworden.
Langsam, ganz langsam sah sie in die Tiefe. Zu ihrem Erstaunen sah sie einen hellen Schimmer. Groß wie der Mond, blass, und es kam nähert ... näher.
Jorlee erstarrte, als sie es erkannte: Die runde Fläche, milchig, gewölbt, durchzogen von blassen, rosa Linien, und in der Mitte ein wenig dunkler eingefärbt. Das Auge der blinden Disdani sah genauso aus, nur ... kleiner.
Dieses Auge war ein Teich, indem Jorlee hätte schwimmen können. Noch immer wuchs es an, stieg aus der Tiefe empor.
Konnte es sie sehen? Das Auge war blind, doch trotzdem fühlte Jorlee einen Blick auf sich ruhen. Sie konnte nicht vorwärts schwimmen. So schnell sie auch geschwommen wäre, es hätte Tage gebraucht, um dem Auge zu entkommen. Wie die Welt spannte es sich unter ihr und hielt endlich an, nur einen Hauch von der Wasseroberfläche entfernt - einen Hauch, der genug Platz für einen Orca bot.
"Was ... was bist du?", stammelte Jorlee. Sie sah ihr schwaches Spiegelbild im Auge, sah dahinter die Sterne und die Wellen, die Polarlichter und den Mond.
So winzig! Als wäre die Welt nichts als ein Wimpernschlag ... und sollte diese Kreatur blinzeln, so wäre es um Jorlee geschehen, wurde ihr klar. Ein Augenschlag, und sie wäre zerquetscht.
Keine Antwort erklang. Hätte ein solches Wesen sie überhaupt hören können?
Doch dann veränderten sich die Farben im Auge. Jorlee sah erstaunt zu, wie der Mond im Spiegelbild wanderte, wie die Nordlichter flackerten und die Sternschnuppen sich in einen glühenden Kometenhagel verwandelten.
Die Vergangenheit. Sie konnte es fühlen.
Dann sah sie Gestalten vor dem glühenden Himmel. Zuerst hielt sie es für ihr Spiegelbild, einen gewaltigen Orca inmitten der Sterne. Doch das Tier bewegte sich, es wurde schneller, stieg auf, durchbrach die Oberfläche und flog durch Feuer, flog durch Luft, ließ das Meer hinter sich und übergab sich der Freiheit und Fremde. Jorlee sah zu, wie der gewaltige Wal aus dem Meer brach, wie seine Rückenflosse die Wolken durchschnitt, schwarze Wolken aus Rauch, die die Welt verschlucken wollten.
Und weiter stieg das Wesen. Mit einem Erzittern erkannte Jorlee das Bild.
Der Wächter ... der Wächter im Wasser. Ein Sprung aus dem Meer verlieh ihm die Macht, zu fliegen, weswegen noch heute die Wale und Delfine danach strebten, ihrem Heimatelement zu entkommen. Wenn man nur stark genug sprang, so löste man sich aus dem Wasser, und das wäre sowohl Fluch als auch Segen.
"Du bist es ... du hast es geschafft ...", flüsterte Jorlee.
Der Wal im Spiegelbild glitt durch den Himmel, an Mond und Sternen vorbei, und hinterließ eine weiße Spur aus sprühendem Wasser. Die silbernen Tropfen regneten auf die Welt und löschten das verzehrende Feuer.
Dann endete der Flug und der Wal fiel. Jorlee riss das Maul auf, um dem Spiegelbild der Vergangenheit eine Warnung zuzurufen, die nichts mehr ändern konnte. Der Wal fiel durch die Asche und färbte sich schwarz, dunkler als die Tiefsee, und dann stürzte der Wächter in die Wellen. Ein Vorhang weißer Luftperlen verdeckte den Wächter, als er zum Meeresgrund sank. Wo er blieb, über Jahrhunderte hinweg. Er wuchs und ... wachte.
"Warum zeigst du mir das?", hauchte Jorlee mit zitternder Stimme.
Die Wasser umspülten sie, wirbelten. Das Auge sank.
"Warte!" Jorlee schwamm hinterher. Doch das Auge sank schneller, als sie schwimmen konnte, obwohl sie ihm folgte, bis die Schwärze undurchdringlich war, bis es zu kalt war, bis der Druck der Tiefe sie zerquetschen wollte und ihre Lungen fast leer waren.
Hier hielt sie inne, so nah am Meeresboden, allein in absoluter Finsternis, so nichts gedieh. Mit einem Mal kam ihr das Meer kalt vor. Still. Als wäre ein Walgesang verstummt, den sie immer gehört hatte.
"Nein ..."
Sie wusste es. Der Wächter war fort. Tot. Mit seinem letzten Atemzug hatte der blinde Wal, der schwarze Wächter der Meere, ihr seine Geschichte erzählt.
Im Nichts hing Jorlee alleine, wie eingefroren in der Zeit. Dann spürte sie das Brennen ihrer Lungen.
Luft. Sie brauchte Luft!
Mit einem Flossenschlag wendete sie und stieg zur Oberfläche auf. Da spürte sie eine Strömung, die sie hinaufspülte. Als würde ein toter Körper seine Seele entlassen und mit ihr alle Kraft, alle Macht, alle Weisheit.
Jorlee schwamm schneller. Das Wasser trug sie hinauf, schneller als je zuvor, und sie stieg mit ihm auf. Etwas knackte in ihrem Kopf. Sie spürte, wie ihre Augen sich trübten.
Sowohl Fluch als auch Segen ... die größte Freiheit hat einen Preis.
Sie wusste dass die Wasseroberfläche näherkam. Sie konnte es nicht mehr sehen, aber sie spürte es, wie sie die Wassermassen um sich herumspürte. vom kleinsten Krill bis zum Wal, bis in den letzten Winkel des Meeres, bis in die Flüsse hinein, und bis in die Wolken. Jorlee konnte jedes Lebewesen sehen. Ihre alte Schule, die Delfine, die anderen Wale, die Haie und Kraken, die Schalentiere, die Fische, die Gäste vom Land - Seehunde und Pinguine und Sturmtaucher und Möwen.
Sie nahm einen tiefen Atemzug. Sie flog über den Mond. Und ebenso, wie sie wusste, dass der Wächter fort war, wusste sie auch, dass er sie auserwählt hatte, ihr Herz gesehen und für würdig befunden, damit sie nun seine Aufgabe weitertrug und in aller Stille wachte.
In Schmerzen, die kein Bewohner des Meeres sich vorstellen konnte, trat Jorlee ihr Erbe an.