- Start: 03.12.2019 - 12:35 Uhr
- Ende: 03.12.2019 - 13:07 Uhr
"Sch, ruhig atmen."
Die Kerzen flackerten. Aylos tupfte die fieberheiße Stirn seiner Frau sanft mit einem Lappen ab. Draußen heulte der Wind um die Klippen, doch außer einigen heulenden Luftkindern gelangte nichts vom Sturm nach drinnen. Die vielen Kerzen und das Kaminfeuer hüllten die Leuchtturmwärterhütte in honiggoldenes Licht.
Lori warf sich auf dem Bett hin und her und stöhnte laut auf. Es war schon halb ein Schrei.
"Alles ist gut." Aylos drückte sie mit sanfter Gewalt in die Kissen. "Es wird alles gut!", wiederholte er, obwohl dieser Satz noch nie zuvor so weit von der Wahrheit entfernt gewesen war.
"Ich ... ich liebe dich ..." Der fiebernde Blick seiner Frau glitt durch den Raum, ohne sich auf etwas zu fokussieren. Ein Krampf schüttelte sie, sie versteifte sich, jeder Muskel bebte.
Einige Tränen tropften auf ihre Stirn, vermengten sich mit dem neuen Schweiß.
Aylos schloss die Augen und presste die zitternden Hände in die Matratze. Als sie nicht länger bebten und auch Lori kraftlos und ruhig inmitten der Kissen lag, zog er die Decke wieder über sie.
"Nein ...", wehrte sie sich schwach. "Zu warm."
"Ich weiß, Schatz. Aber der Arzt sagte, du musst schwitzen, um das Fieber loszuwerden."
"Warm!" Sie schlug die Decke weg.
"Schon gut." Aylos zog die Decke zu sich und wartete. Es dauerte nicht lange, da rollte sich Lori zitternd zusammen. Er legte die Decke wieder über ihre fröstelnden Schultern.
Das Holz im Kamin knisterte. Es war kaum noch Vorrat da. Mit einem leisen Ächzen stand Aylos auf und trat an die Tür, neben der sein dicker, teerbehandelter Mantel hing. Er zog ihn über.
"Geh nicht ...", hauchte Lori.
"Ich bin sofort zurück", versprach er ihr. "Ich hole nur schnell Holz."
Ihre bittend ausgestreckte Hand sank auf das Bett und sie wälzte sich herum, die Decke von sich streifend.
Aylos trat ans Bett, zog die Decke zurecht und hauchte Lori einen Kuss auf die Stirn. "Sei stark. Ich bleibe nicht lange weg."
Loris Augen waren geschlossen. Sie schlief bereits wieder.
Wie Nadelspitzen peitschte ihm der Wind den Regen ins Gesicht. Aylso beugte sich vor dem röhrenden Wind, der die wenigen Kiefern am Fuße des Leuchtturmes schüttelte. Riesige, schwarze Wellen türmten sich rings um die Klippen.
Aylos wankte zu dem Unterstand vor das Holz. Er beugte sich hinab und tastete im Dunkel.
Nichts.
"Komm schon!", knurrte er durch die zusammengebissenen Zähne. Es musste sich doch ein Scheit finden lassen!
Nein. Das Unterstand war leer. Aylos ertastete nichts als Erde.
Schwerfällig richtete er sich auf. Was sollte er nur tun? Was ...?
Seine müden Augen sahen hinauf zum Leuchtturm, in dessen Spitze das helle Feuer brannte.
"Nein ..." Er fuhr sich über das dünner werdende Haar. "Herr, bitte nicht diese Wahl! Nicht diese Prüfung."
Wie ein goldener Finger durchschnitt der Strahl des Leuchtturms die Nacht. Rund und rund und rund ...
"Ich kann nicht ... aber ich kann sie doch auch nicht verlieren!"
Vielleicht käme diese Nacht ja kein Schiff vorbei. Morgen könnte er im nahen Dorf weiteres Holz anfordern. Eine Nacht lang würde es vielleicht einmal gehen ...
"Nein." Die Dörfler hatten selbst nur wenig Holz. Und bis sie es liefern konnten, würden noch weitere ein oder zwei Tage vergehen. Auf einem Schiff waren zu viele Menschen, die den Tod nicht verdienten.
Aber Lori ...
Hin und her gerissen schluchzte Aylos auf. "Warum ich?", brüllte er gegen die schwarzen Gewitterwolken. "Warum kann ich nicht Holzfäller sein? Warum nicht Arzt? Warum muss Lori ausgerechnet jetzt krank sein, warum stellst du mich vor diese Wahl?"
Der heulende Wind brachte ihm keine Antwort.
Aylos ließ die Schultern hängen. Er schlurfte zurück zur Hütte, während der Regen auf seinen Rücken prasselte. Einige Zeit würde das Feuer im Kamin noch halten. Danach würde er weitersehen. Wie sie die nächsten Tage ohne Feuerholz überstehen sollten, wusste er nicht. Doch er hatte einfach heizen müssen, um Lori zu heilen.
Da zuckte ein Blitz aus den Wolken. In seinem flackernden Schein gewahrte Aylos etwas, das zu seinen Füßen lag. Glas spiegelte den hellen Blitz, nur eine Sekunde lang. Aylos bückte sich und ertastete eine Flasche, die in einer großen Pfütze lag, als hätte das Meer selbst sie vor seine Füße geworfen.
Vorsichtig hob er sie an - sie war gefüllt und entsprechend schwer - und schlurfte vor das Fenster der Hütte, um das Fundstück im Licht zu betrachten, das aus dem Fenster fiel. Das Etikett war in kleiner Schrift beschrieben, doch den Namen konnte er entziffern: 'Mondelixier'.
Er barg die Flasche unter dem Mantel, stieß die Tür auf und stolperte in die Hütte. Der kalte Luftzug ließ die Kerzenflammen flackern. Aylos stemmte sich gegen die Tür und schlug sie ins Schloss, bevor der Regen die Flämmchen löschen konnte.
Keuchend entledigte er sich des Mantels und eilte zu Lori, die bereits im nächsten Fiebertraum wimmerte. Beim Schein der Kerzen las er das Etikett des Elixiers.
'Bringt Linderung für Fieber und Heilung von Giften. Bei Vollmond eine Nacht lang in kleinen Schlucken einflößen.'
Mit zitternden Fingern entkorkte Aylos die Flasche und führte sie an Loris Lippen. Ein Schubser, und etwas Flüssigkeit lief zwischen ihren trockenen Lippen hindurch. Sie seufzte, schluckte und drehte sich dann fort.
Aylos sah zum Fenster, doch der Mond war nicht zu sehen. Allerdings blieb ihm keine andere Hoffnung. Er beugte sich über Lori und gab ihr, Schluck für Schluck, von dem Elixier zu trinken. Jedes Mal wandte sie sich nach dem Schlucken ab und er musste warten, bis sie den Kopf zurückdrehte. Gab er ihr zu viel auf einmal, wurde sie von einem gewaltigen Hustenkrampf geschüttelt. So übte er sich in Geduld, während das Feuer im Kamin erlosch und die Kerzen herunterbrennten.
Dann senkte sich Dunkelheit über die Hütte und alles wurde still.
Die ersten Sonnenstrahlen tasteten über die Fensterscheibe und drangen schwach und blass ins Innere vor. Lori schlug blinzelnd die Augen auf.
Sie fühlte sich besser. Sogar gut. Richtig gut. Wie neugeborgen.
Verwundert schälte sie sich aus den durchschwitzten Laken. Es war kalt in der Stube. Sie begrüßte die kühle Brise, doch dann bemerkte sie Aylos, der auf dem nackten Steinboden lag.
"Aylos!" Sie sprang auf und eilte zu ihm. Ihre bloßen Füße spürten die beißende Kälte des Bodens. Wie lange lag er hier schon?
Als sie ihn auf die Seite drehte, entwich ein Stöhnen seinen Lippen.
"Aylos! Geht es dir gut?"
"Holz ... wir müssen ... neues Holz anfordern ... im Dorf ..."
"Ich kümmere mich darum." Sie half ihm, aufzustehen und sich auf das Bett zu setzen.
Sein Blick wurde klar und heftete sich an ihr Gesicht. "Geht es dir gut?"
"Ausgezeichnet." Sie hielt seine raue Hand, die ihre Wange streichelte, mit beiden Händen fest und lächelte ihn an.
"Das Feuer im Leuchtturm ..."
"Ich werde es heute Abend wieder entzünden. Macht dir keine Sorgen, alter Mann." Sie lachte.
"Du hast ... keine Falten mehr ..." Aylos sank in die Kissen und seine Augen fielen zu.
Verwundert strich Lori über ihre glatten Wangen. Sie eilte ans Fenster und suchte im Glas nach ihrem Spiegelbild. Wer war das? Dieses Gesicht ... das hatte sie seit ihren Mädchentagen nicht mehr gesehen!
Durch das Fenster sah sie auch das Meer ruhig und klar daliegen. Eine schwarze Finne durchpflügte das schimmernde Wasser.
Eine Walsichtung war in dieser einsamen Hütte am Meer keine Seltenheit, trotzdem glaubte Lori, dass der Orca dort unten im Fjord eine größere Bedeutung haben musste.