- Start: 01.11.2020 - 19:24 Uhr
- Ende: 01.11.2020 - 19:54 Uhr
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Schwarz lagen die Wellen unter einem wolkenlosen Nachthimmel. Die Sonne war noch nicht ganz gesunken und so färbte ihr letzter Atemhauch die Schwärze zwischen den Sternen lila. Eine dünne Mondsichel hing über dem Krähennest.
Mit knarzender Takelage dümpelte das Schiff auf dem weiten Ozean, dessen Ruhe ihn zunehmend in einen Spiegel verwandelte, nur durchbrochen vom silbernen Schimmer der Wellenlinien.
Stürme hatten die grauen Segel zerfetzt, die im schwachen Wind flatterten wie das Hochzeitsgewand einer Toten. Das Steuerrad drehte sich blind der Strömung nach. Wellen leckten an den pockenbesetzten Brettern, die sich ihnen auf der einen Seite entgegenneigten. In Schieflage irrte das Schiff über das Meer, die Lichter längst erloschen, die Luken gebrochen und der vordere Mast geborsten, die Reling von den Einschlägen unzähliger Kanonenkugeln durchlöchert.
An Deck zogen sich salzige Schlieren über die Planken, die von Alter und Witterung verbogen waren. Die Tür, die unter das Steuerrad führte, schwang mit leisem Knarzen auf, als eine Welle das Schiff gemächlich zur anderen Seite schwanken ließ. Das Steuerrad drehte sich. Im Rumpf des untoten Giganten rumpelte es.
Die Stufen, die unter Deck führten, waren geborsten. Holzsplitter ragten aus den Wänden, Narben des Kampfes, die hinter der einst prächtigen, hölzernen Dame lagen. Im Lagerraum hingen noch die Hängematten der Besatzung an den Pfählen. Unter ihnen rollten Fässer umher und rutschte Ladung, wann immer sich das Schiff wie ein friedlich schlafendes Monstrum auf die andere Seite rollte. Die Gurte waren zerschnitten, von ihrer Last gesprengt oder verrottet. Hier und da hatte sich eine Hängematte gelöst und ihre Seile schleiften über den Boden.
Draußen pochte der Ozean schüchtern gegen die Wand, begleitete das wehmütige Stöhnen und Wimmern der gefallenen Königin.
Plötzlich mischte sich ein weiterer Klang ein, lang und melodiös wie der Gesang eines Wales, doch tiefer und bedrohlicher.
Am gesplitterten Bug sah die Galionsfigur mit tränenverlaufenen Augen nach vorne. Ihr weisender Finger war abgebrochen, doch mit einem Mal zeigte sich ein seltsamer Glanz auf dem von tiefen Furchen durchgrabenen Antlitz.
Dann trat eine Gestalt an den Bug. Ein Kapitän in hellblauer und goldener Uniform, mit einem schwarzen, geflochtenen Bart und großem Dreispitz. Die Hände um das Holz geklammert sah er nach vorn. Die Reling schimmerte durch seine Finger.
Hinter ihm erhoben sich weitere Geister aus den Planken, flossen aus dem Holz selbst wie wallender Nebel, und versammelten sich hinter ihrem Kapitän. Ihre blassen Farben vermengten sich zu wilden Schlieren, während ihre Blicke den Horizont absuchten.
Dann brach eine Rückenflosse aus dem glatten Spiegel des Meeres, dicht gefolgt von einem weit aufgerissenen Maul. Das große Tier sprang auf das Schiff zu und stürzte hinunter.
Der Kapitän hob eine Hand und rief ein Wort in einer Sprache, die schon lange vergessen war. Und da sprang das sterbende Schiff vorwärts und der Angreifer schlug hinter ihm in die Wellen. Ein letztes Mal hob sich die große Fluke, dann tauchte der Salzwal in die Tiefe. Der Gigant machte keine Jagd auf das Schiff, er war ihm nur zufällig beinahe zum Verhängnis geworden.
Einer nach dem Anderen sank die Mannschaft zurück in das Deck, bis nur noch der Kapitän im Bug stand. Sein Blick suchte die Wellen ab, unermüdlich. Schließlich verengte er die Augen.
"Kommt!", rief er in der verlorenen Sprache.
Seine Mannschaft erschien hinter ihm.
Vor sich sagen sie einen großen Wirbel über den Wellen, eine Art Strudel, jedoch verkehrtherum, mit dem dicken Ende unten. Nach oben hin wurde er immer schmaler, bis er unermesslich dünn war und sich in der Finsternis verlor.
"Das ist das Machwerk der Alten", murmelte der Kapitän leise. "Sie wollen die Welt vernichten."
Wie ein Mann zog die durchscheinende Mannschaft ihre Säbel. Von selbst nahm das Schiff Kurs auf den Strudel, hin zum Mahlstrom, um ihn zu unterbrechen.
"Ich will nicht, dass sie dort hinein fahren!", wimmerte der Junge.
"Hm?" Sein Vater ließ das Buch sinken und sah hinab auf das Kind, das sich an sein Bein klammerte.
"Sie sollen nicht in den Strudel fahren!" Der Junge verbarg das Gesicht in der Hose seines Vaters. "Der Strudel ist gruselig!"
"Aber das ist ihre Aufgabe", tröstete der Vater sein Kin und streichelte ihm über die Locken. "Die Garde der Nacht befährt die Meere, um uns vor jedweder Gefahr zu erretten, und ihr Schwur erlischt erst, wenn sie wieder Land erreichen."
Das Kind sah auf. In seinen großen Augen spiegelte sich der Feuerschein aus den rituellen Schalen im Tempel. Die Feuer konnten die Finsternis nicht vertreiben, die sich in der hohen Decke eingenistet hatte und die Fresken verbarg, die nur das Sonnenlicht offenbarte.
"Aber sie sollen Piraten bekämpfen und Leviathane, keine gruseligen Strudel!", behauptete der Junge mit fester Stimme.
Der Vater klemmte sich das Buch unter den Arm, kniete sich vor seinen Sohn und umfasste dessen Hände, während er ihm ernst in die Augen sah. "Und das tun sie, mein Junge. Aber wenn sie das machen, kehren nicht alle von ihnen zurück. Manchmal verschwindet ein Schiff. Aber solange sie an ihren Schwur gebunden sind, kämpfen die Gardisten der Nacht weiter. Nur, dass sie dann gegen andere Wesen kämpfen. Solche, von denen wir noch nie gehört haben! Piraten und Kriege und große Raubfische sind dann nicht mehr wichtig für sie, stattdessen stellen sie sich viel größeren und gefährlicheren Kreaturen. Verstehst du? Sie sind dann bereits für einen anderen Kampf. Einen wichtigeren Kampf. Denn wenn diese großen Kreaturen gewinnen, werden sie alles töten, was auf dieser Welt existiert. Deshalb müssen sie in den Strudel segeln."
Das Kind sah seinen Vater an und nickte dann langsam.
Der Vater stand auf und nahm die Hand seines Sohnes. Wieder sah er in die Flammen einer Opferschale direkt vor ihnen. "Und wir entzünden jedes Jahr in der dunkelsten Nacht diese Lichter. Damit die Gardisten nach Hause finden. Damit sie wissen, dass jemand an sie denkt. Sich erinnert. Auch, wenn sie niemals zurückgekehrt sind."
Das Kind folgte dem Flug der Funken hinauf zu den Sternen mit dem Blick.
Der Bug berührte den Strudel schon beinahe, als ein leiser Ruf erklang.
Der Kapitän drehte sich um, das Gesicht von Sorge gezeichnet. Hinten, beim Steuerrad, winkte einer der Schiffsjungen aufgeregt und wies nach hinten.
Dort, knapp über dem Horizont, erglühte ein Nest kleiner, roter Sterne. Der Schein der Feuerschalen wand die Garde auch über viele tausend Meilen Ozean hinweg.
Das müde Gesicht des Kapitäns glättete sich, ein Lächeln legte sich auf seine Lippen, ebenso wie auf die seiner Kämpfer.
Sie erinnerten sich noch an die Garde. Nach all den Jahren.
Dafür kämpfen wir.
"Auf!", rief der Kapitän und schwang seinen Säbel, nun von neuem Mut beseelt. Die Mannschaft stimmte in seinen Kampfruf mit ein.