- Start: 05.10.2020 - 15:27 Uhr
- Ende: 05.10.2020 - 16:03 Uhr
Mit knatternden Segeln und straffgespannter Takelage jagte das Schiff über die Wellen. Der Sturm zerrte am Segeltuch. Mit einem Knall riss eines der Taue. Schreie gingen im Donner unter, als die Männer versuchten, den Schaden zu reparieren. Wie eine Peitsche fuhr das lockere Tau auf die Besatzung nieder und riss Planken aus dem Deck, wo es das Holz traf. Eilig warfen die Seemänner sich zur Seite. Salzige Wellen überspülten das Holz und die wütende See warf das Schiff herum wie ein Spielzeug.
Mit beiden Händen umklammerte der Kapitän das Steuerrad. Der Sturm drohte, ihm die Hände zu brechen. Jeder Befehl wurde vom strömenden Regen verschluckt, das Licht der wenigen Lampen, die noch nicht erloschen waren, reichte kaum eine Armlänge weit.
"Wir sind verloren", murmelte Dokarius. Obwohl der breite Dreispitz sein Gesicht abschirmte, lief ihm Regen in die Augen. Sein Bart war durchweicht. "Große Mutter See, zeig Erbarmen!"
Ein Blitz zuckte gang in der Nähe. In seinem Licht sah Dokarius winzige Gestalten auf dem Deck taumeln und stolpern. Es gab keine Möglichkeit, zu sehen, ob jemand verletzt oder über Bord gegangen war.
"Refft die Segel, verdammt!", befahl er. Ein fruchtloser Versuch, denn niemand hätte ihn hören können, und wenn er direkt neben dem Kapitän gestanden hätte.
Tiefschwarze Wolken rollten über den Himmel und entließen die Last in ihrem Inneren auf die See. Es war kaum abzuschätzen, wo die Wasser des Himmels in die des Ozeans übergingen. Gischt vermengte sich mit Hagel und die Luft war so feucht, als wären sie bereits in ihrem nassen Grab.
"Eimer!", rief Dokarius. "Schöpft Wasser aus dem Rumpf!"
Ein verschwommener Schatten im Regen salutierte. Irgendjemand hatte seinen Befehl begriffen.
Dokarius riss das Steuerrad herum, als sich das Schiff ächzend auf die Seite legte. Holz knarzte so laut, dass er geschworen hätte, dass das Schiff nun gesplittert war.
Ein weiter Blitz traf, diesmal näher.
Dokarius blinzelte den Regen fort und sah sich um. Irgendeinen Ausweg musste es doch geben!
"Geht unter Deck!", rief er seinen Matrosen zu und winkte. "Bringt euch in Sicherheit. Vergesst die Segel!"
Klirrend barst eine Lampe in seinem Rücken. Dokarius duckte sich instinktiv, aber er hielt das Steuer umfasst. Ein Blitz schlug in den Mast und ließ das Holz der Länge nach Splittern. Krachend fiel der Mast auseinander. Winzige Gestalten rannten zu den Luken und unter das Deck.
Dokarius stemmte die Füße gegen das salzwasserüberspülte Deck. Wasser schlug ihm gegen Nase und Mund, er hielt die Luft an. Mit aller Kraft drehte er am Steuerrad.
Er sah einige letzte Seemänner fliehen. Gerade als er sich sicher war, der letzte Mann an Deck zu sein, fing ein helles Objekt seinen Blick ein.
Über den Wellen geradeaus schimmerte etwas Weißes durch die Wolken. Es konnte nur der Mond sein, obwohl Dokarius ihn an einer anderen Stelle erwartet hatte. Doch im Sturm hatte er die Orientierung über Zeit und Himmelsrichtungen verloren.
Er lenkte das Schiff auf das Leuchten zu, denn eine andere Wahl blieb ihm nicht. Es war ein Alptraum. Nie hätte er sich träumen lassen, dass ein einfacher Auftrag in einem solchen Desaster enden würde. Er hatte nur einige Waren ausliefern sollen, doch auf dem Rückweg waren sie vom Kurs abgekommen.
In diesen Gewässern konnte man nie wissen, welche Wunder oder Schrecklichkeiten einen abseits vom Kurs erwarteten.
Donner grollte. Dokarius war sich sicher, dass ein weiterer Blitz folgen musste und schloss die Augen.
Da ließ der Sturm so abrupt nach, dass er sich taub fühlte.
Vorsichtig blinzelte er. Nässe perlte von seiner Kleidung und tropfte auf die Planken. Doch die Luft war kühl und windstill, kein Tropfen fiel. Das Meer schaukelte sie leicht, doch das Stampfen des Schiffes wich unnatürlicher Stille. Vor Dokarius lag ein spiegelglattes Meer, in dem sich der Mond und weiße Wolken spiegelten.
Und Sternschnuppen. Hunderte stürzten aus der sternendurchsetzten Schwärze über ihm. Lautlos jagten sie über den Himmel, vorbei an einem großen, strahlenden Vollmond, dessen Licht die Schatten des Schiffs gestochen scharf auf die spiegelnde Oberfläche des Ozeans warf.
"Es ist doch kein Vollmond ...", murmelte Dokarius und fuhr zusammen, als er seine raue Stimme vernahm. Sie klang dumpf und verloren in dieser merkwürdigen Blase.
Er warf einen Blick zurück und sah, wie durch eine Glasscheibe, tobende Wellen, höher als sein Schiff, dichte, schwarze Wolken und das Gewitter der hellen Blitze.
Hier dagegen tropfte es nur leise von den Masten. Der geborstene Stumpf des getroffenen Mastes knarrte leise. Wellen leckten plätschernd am Rumpf.
Schritte dröhnten auf dem Holz. Laikan, der erste Maat, trat zu Dokarius. Mit offenem Mund sah er sich um. "Wo ... wo sind wir?"
"Das ist ein Zauberort", murmelte Dokarius und zog mit zitternder Hand den Dreispitz ab. "Senk den Anker, Laikan."
Benommen nickte der erste Maat und stolperte über das Deck. Weißlicher Raureif bildete sich in den Pfützen und kroch rasch über das Deck, bis das Schiff den hellen Himmel ebenso spiegelte wie sie See. Der Mond kam Dokarius immer heller und größer vor.
Nach und nach, geradezu zögerlich, trat die Mannschaft ins Freie. Einer trug einen Eimer voller Wasser in der Hand und ging zur Reling. Als er den Eimer eben umschütten wollte, stoppte ein Anderer ihn.
"Nicht." Jeder an Deck hörte die Stimme. "Stören wir diesen Ort lieber nicht."
Unsicher richtete der Schiffsjunge den Blick auf den Kapitän. Auch die anderen starrten Dokarius an.
"Tut, was er sagt", antwortete Dokarius leise. Er wollte die silberne Decke der See nicht aufwühlen.
Mit leisem Rasseln sank der Anker hinab. Tiefer und immer tiefer. Die Kette wickelte sich schier endlos ab. Dann stoppte die Ankerspule mit einem dumpfen Donnern. Die Kette war vollständig abgewickelt und der Anker hatte noch immer keinen Widerstand getroffen.
Dokarius blickte zurück, wo die Barriere zum Sturm sich langsam entfernte.
"Zieht den Anker ein", befahl er flüsternd. "Refft die Segel. Wir fahren mit der geringsten Geschwingkeit."
Ohne einen Laut zu verursachen kam die Mannschaft seinem Befehl nach.
Der Mond verharrte still am Himmel, umschwärmt von den Sternschnuppen. Die Mannschaft saß an Deck, frierend, doch wagten sie nicht, die erloschenen Lampen neu zu entzünden. Sie wagten auch nicht, etwas zu essen oder zu trinken. Sie fühlten sich wie im Bau eines gewaltigen Tieres, das von jedem Geräusch geweckt werden konnte. Vielleicht würde es sie fressen, vielleicht auch ignorieren, doch es war so gewaltig, dass seine kleinste Bewegung sie auslöschen könnte.
Dokarius stand am Steuer und fuhr an der Barriere entlang, bis er sah, dass der Sturm auf der anderen Seite abflaute.
Sie spannten die Segel neu auf und fuhren durch die Wand. Auf der anderen Seite war es zwar nicht warm, aber wärmer. Am blauen Himmel stand die Sonne noch niedrig. Kein Stern, keine Sternschnuppe, kein Mond war zu sehen.
Routiniert überprüfte Dokarius die Richtung, korrigierte ihren Kurs und ließ die Mannschaft die Segel aufspannen. Sie waren kaum einen Tag gefahren, als eine ferne Nadel am Horizont sie zu einem Leuchtturm und schließlich in einen Hafen führte.
Dort suchte Dokarius unverzüglich den Hafenmeister auf. "Wir haben uns unterwegs verfahren, in diesem schrecklichen Sturm. Könnt Ihr mir sagen, wo wir nach Haivenhog finden?"
"Was für ein Sturm?", verwundert sah der Hafenmeister ihn an. "Und was wollt ihr in Haivenhog, seid ihr Achäologen?"
Dokarius runzelte die Stirn. Archäowas? "Es ist unser Heimathafen!"
"Dann seid ihr wohl Geister. Haivenhog ist schon seit Jahrhunderten nur noch eine Ruine."