- Start: 07.11.2020 - 15:29 Uhr
- Ende: 07.11.2020 - 16:03 Uhr
Unter dem lichtdurchwobenen Schleier der Wellen ruht das Königreich auf einer Ebene aus Sand, inmitten der Korallenhaine.
Das Volk des Mondscheins wohnt hier auf einer friedlichen Sandbank im endlosen Blau des Ozeans. Perlmutten schimmern die Türme, die Mauern besetzt mit Muscheln in allen Farben und Formen, zu bunten Mustern angeordnet. Dunkler Tang schlingt sich um Bögen und Säulen, Fische tummeln in Häusern und Hallen. Wenn der Nordstrom fließt, ziehen die großen Wale auf ihrem Weg in wärmere Tiefen über der Stadt vorbei.
So zogen sie auch an jenem Tag, als meine Liebste mich unter die Wogen führte.
Meine Mondscheinprinzessin tanzte im Wirbel kleiner Blasen und lachte, sie wirbelte um mich herum wie Wellen um einen Felsen sprühen, und benetzte mich mit der Gischt ihres Glückes. Erst als wie uns näherten, ergriff sie meine Hand mit ihrer schmalen. Silbern leuchtete der volle Mond auf die Stadt unter den Wellen.
"Hier wirst du an meiner Seite leben", hauchte die Mondscheinprinzessin in mein Ohr. "Wir werden singen und tanzen und können alle Ozeane durchschwimmen.
Ich war gefangen im Bann ihrer Schönheit und dieser zauberhaften Welt. Ich konnte kaum sagen, wer schöner strahlte - meine wunderschöne Braut mit Augen wie Saphire, oder alle Kostbarkeiten der märchenhaften Stadt vor mir!
Während Wasser durch meine Lugen strömte, das ich atmen konnte wie Luft, erfasste mich ein Taumel.
"Warum ich?", rief ich aus. "Sage mir, meine Schönheit, warum hast du mich erwählt?"
Sie schwamm dicht vor mir und ergriff meine Hände. "Willst du denn nicht König werden, mein Geliebter?"
"Ich will mein Leben an deiner Seite verbringen", schwor ich mit Inbrunst. "Und in diesem Zauberreich, an der Seite aller Schönheit unter der Wellen. Nie könnte ich zurückkehren in mein Dorf, und wenn aller Reichtum der Welt mir winkte. Doch ich verstehe nicht, wieso mir dieses Wunder zuteil wurde."
Der Blick der Schönheit mir gegenüber wurde traurig und sie drückte meine Hände.
"Es ist kein Wunder, mein Liebster. Es ist ein Fluch, zwar schön von Angesicht, doch zugleich kalt und grausam."
Inmitten der Wogen, die mir bereits zur Heimat geworden, überlief mich ein kühler Strom und ließ mich erzittern. "Ein Fluch? Wovon sprichst du?"
"Du siehst in mir ein Zauberwesen, bald eine Königin über ein Reich unter den Wellen. Doch ich bin aus deinem Volk. Meine Mutter war einst wie du, doch mein Vater wie ich, unter den Wellen geboren. Er jedoch ging bei Vollmond an den Strand und sang, bis sie seinem Ruf folgte. Sie kam hinunter unter die Wellen, den in ihrem Herzen keimte die gleiche Sehnsucht wie in dem Deinen. Sie herrschten viele Jahre und ich wurde ihnen geschenkt, wie es auch bei den Königen vor ihnen war, und bei ihnen davor. Nun endet ihre Zeit, denn fast einhundert Jahre sind um. Sie werden sterben und meine Zeit beginnt."
Sprachlos lauschte ich ihrem Bericht. "Ist das der Fluch?"
"Er verleiht uns einhundert Jahre der Herrschaft an der Seite eines unseres Volkes, den wir ins Meer rufen." Meine Geliebte schmiegte sich an mich. "Jede einhundert Jahre wird einer geboren, der sich dem Ruf der See nicht verschließen kann. An drei Nächten, bei Vollmond, dürfen die Königskinder zurückkehren in die Heimat ihrer Eltern und einen rufen, an ihrer Seite zu herrschen. Doch alle Jahre danach sind wir an die Wellen gefesselt wie die Gischt." Sie schluchzte auf. "Ach, mein Liebster ... Einhundert Jahre Jugend sind dir vergönnt, doch niemals wirst du zurückkehren zu Deinesgleichen und sie nie erfahren, wie es dir ergangen. Das Königreich Tausendschön beinhaltet alle Wunder unter den Wellen, doch die Wunder darüber sind uns verwehrt."
Ich hielt die schöne Frau im Arm und lauschte ihren Worten noch lange nach, als sie schon schwieg. Schon jetzt spürte ich Sehnsucht nach meiner Familie, wo doch die Wunder der Tiefe mich noch verlockten.
"Gibt es keine Hoffnung, den Fluch zu brechen? Woher stammt er?", fragte ich.
"Vor vielen Jahren verhängte ihn ein Gott über unser Volk. Die Menschen ehrten das Meer nicht. Sie riefen sich als Beherrscher der Wellen aus, sie stauten die Flüsse mit harten Dämmen. Da zürnte der Gott des Meeres und schickte eine Flut. Sie riss die Dämme hinfort und zerschmetterte die Schiffe der Menschen. Doch sie alle ließ er leben, nur den Königssohn raubte er und dessen Geliebten, als erste Herrscher unter den Wellen. Einhundert Jahre lebten die Knaben hier gefangen, in aller Pracht und doch voll Trauer. Dann wurde ihnen ein Kind geschenkt, und die Zeit eines neuen Königs brach an. So war es und so wird es sein, bis die Welt vergeht oder unser Volk geendet."
Mein Blick schweifte zu der herrlichen Stätte unter den Mondwellen, dem Königreich, meinem Gefängnis. Doch fühlte ich mich frei und willkommen.
Sanft hob ich das Kinn meiner Braut an und strich schimmernde Tränen aus ihren Augen.
"Mein ganzes Leben war ich an das Land gebunden und konnte die Welt unter den Wellen nicht betreten. Doch nun wurde mir eine Pforte geöffnet. Und wenngleich ich meine Lieben vermisse, so bin ich doch bei dir, Liebste. Ich will dieses Reich der Geheimnisse kennenlernen. Alle Einsamkeit sei vergessen, wenn ich nur an deiner Seite bin."
Zögerlich lächelte die Mondscheinprinzessin. "So zürnst du mir nicht, weil ich mein Lied sang?"
"Wie sollte ich, Liebste?", rief ich voller Entsetzen. "Du tatest, was der Fluch dich bat. Und es waren deine Worte: Ich bin geboren mit der Sehnsucht nach diesem Land, von dem ich nicht einmal Sagen kenne. Mein Leben lang suchte ich es, ohne zu wissen, dass ich es finden könnte. Wie könnte ich trauern angesichts des Königreichs Tausendschön?"
Die Prinzessin nahm meine Hände und wir wirbelten im Kreis. Ein Lachen, hell wie Glocken, erklang und da erhoben sich die Fische ringsum zu einem bunten Teppich und geleiteten uns in die von Licht erfüllten Hallen und Paläste, durch Gänge mit Mosaiken längst vergangener Schlachten und an Türmen aus abertausenden Perlen vorbei. Über uns sangen die Wale ihre Lieder und unter uns herrschte Leben in jedem Winkel und erglühten Korallen in allen Farben unter dem Sonnenschein. Meine Liebste erzählte mir von den Wundern, die wir bestaunen würden, und ich versprach im Gegenzug, ihr vom Land zu künden und von dem zu berichten, was sie nie zu Gesicht bekommen würde.
Und da fühlte ich, dass der Fluch, so schrecklich er scheinen mochte, uns beiden nichts als Glück bedeutete. Es war, so vermutete ich, weil wir nur Kindeskinder der Menschen waren, die der Fluch hatte strafen sollen, sodass wir keine Schuld trugen am Unglück des Gottes und er uns in seiner Gnade statt eines Fluches ein Geschenk gemacht hatte.