- Start: 19.11.2021 - 20:16 Uhr
- Ende: 19.11.2021 - 20:28 Uhr
Mirri verzog das Gesicht. "Das ist unbequem."
"Das ist nun mal so. Trachten müssen unbequem sein." Seine Mutter zog die letzten Schnüre des bunten Kostüms fest.
"Ich sehe albern aus", maulte Yami, die sich vor dem Spiegel betrachtete.
"Heute sehen alle albern aus." Die Mutter warf einen Blick durch das Fenster. Auf dem Marktplatz hatten sich schon alle versammelt. "Peski, kommst du? Wir sind spät dran."
"Das ist doch echt lächerlich", beschwerte sich auch ihr Ehemann, der aus dem Nebenzimmer kam und verzweifelt versuchte, die bunte Weste vor dem Bauch zu schließen. "Du hast sie in der Sonne trocknen lassen!"
"Nein, habe ich nicht, du hast nur zugenommen." Die Mutter nahm Mirri auf den Arm und eilte zur Tür. "Yami, kommst du?"
Ajorra, Mirri auf dem Arm, lief zum Fest, gefolgt von Peski und Yami. Ihre Familie zog ein Gesicht, als ging es zu einer Trauerfeier. Sie hassten den Fischtanz, aber das Fest war nun mal Tradition. Und Traditionen musste man einhalten.
Auf dem Marktplatz angekommen, atmeten sie alle einmal kurz durch. In der Mitte, umweht von Fahnen, stand die Holzfigur eines riesigen Fisches, größer als ein Mann. Die Jungen in farbenfrohen Westen und Hosen baten die Mädchen in ihren mit Schleiern und flatternden Bändern verzierten Kleidern um einen Tanz. Yami tauchte mit ihrem Freund Shaw im Gewusel unter, als alles zu tanzen begann. Ajorra und Peski wanderten zum Buffet, wo die anderen Erwachsenen warteten. Es brauchte nicht lange, und Großmutter Ikaru nahm den kleinen Mirri mit auf die Tanzfläche. Die Musik spielte auf und die Häppchen waren so gut, wie es sich für das Fest gehörte: Muscheln und Seelachs gab es, gekrönt mit kleinen Algentürmchen, die besten Salzheringe, die extra für diesen Tag aufbewahrt waren, und Tiefseebeeren, Kaviar und Brodden-Eintopf.
Dann bewegte sich die Gesellschaft des Dorfes, wie von einem unsichtbaren Fluss getrieben, ans Ufer. Tanzen, Singen und Lachen versiegten, als sie vor dem Meer standen und der Mond sich vor ihnen aus den Wellen erhob. Sein Silber bedeckte die Fluten wie ein Teppich, und dann tauchten die Fische zu ihrem eigenen Tanz auf.
Rot, Grün und Blau leuchteten sie. Wie jedes Jahr kamen sie nur an diesem einen Tag an die Oberfläche, im Licht des Vollmonds, sprangen über die Wellen, so wie beim Fest die Jungen und Mädchen über die blauen Bänder. Unzählige Farben erglühten vor den Augen der Menschen, und selbst Großmutter Ikaru, die schon viele Jahre diesem Schauspiel beigewohnt hatte, staunte genau wie der kleine Mirri, der das Wunder zum ersten Mal erblickte.
Die ehrfürchtige Stille verdrängte alle kleineren Streitigkeiten und Ärgernisse und das Dorf verharrte schweigend, bis die Nacht weit fortgeschritten war. Nach und nach kehrten sie in ihre Häuser zurück, zu Träumen voller Licht.
Bis zum nächsten Jahr, wenn sich die Tradition wiederholen würde.