- Start: 07.11.2020 - 16:05 Uhr
- Ende: 07.11.2020 - 16:19 Uhr
Kein Geruch barg diesen Zauber wie der Duft salziger See, vermengt und verwaschen durch den Rauch der Feuer an den Klippen, über denen Fische brieten.
Eine Unruhe hatte Tabain ergriffen, wie an so vielen Abenden, wenn die Sonne herniedersank und unter dem Licht des Mondes Schatten zu den Portalen in zauberhafte Tiefen wurden. Dann erhob sich ein blauer Schimmer aus den Wellen, als wären die Tränen der Sterne zu Perlen geworden und würden mit der Gischt tanzen. Nah bei den Feuern berichteten die Alten von Schiffen und Piraten, von Seefahrern und Handel und Reisen bis in den Horizont hinein. Sie erzählten von Wundern, die weitab ihrer Insel geschehen waren, bevor Krieg und Flammen sie für immer an diesen Stein ketteten.
Ihre Flotte war gesunken und die Schiffsbauer gestorben, und nur die Ältesten hatten noch schwankende Planken unter den Füßen gekannt.
Wir waren einst Seefahrer.
So begann jede Legende, die Tabain und die anderen Kinder so gierig aufnahmen, als handelte es sich um die Luft zum Atmen.
Wir haben einmal die Wellen befahren. Wir haben nicht nur gefischt, sondern sind mit den größten Fischen um die Wette geschwommen, haben grausige Monster bekämpft und den Ort gesucht, wo der Mond jeden Abend auf die Erde trifft.
Wenn die Alten erzählten, war es still. Nur das Knistern der Feuer erklang, der Funkenschein spiegelte sich in den Augen der lauschenden Kinder. Ein jedes von ihnen war mit diesem Hunger geborgen, der des nachts erwachte. Ein Schmerz hielt sie in den finsteren Stunden des Vollmonds wach, wenn sie die Vergangenheit beklagten. Ein Gefühl, wie es Vögel empfinden mochten, denen die Flügel abgeschnitten worden waren. Und wenn der Wind salzigen Duft über die kargen Wiesen wehte, erwachte die Sehnsucht mit solch schmerzlicher Macht, dass es ein junges Herz zerreißen mochte.
Doch schlimmer vielleicht traf es die Alten. Die Flammen hatten ihnen nicht nur die Eltern, sondern auch das Meer genommen. Nur wenige Jahre hatten sie die Freiheit der Wellen kosten können, und nun blickten ihre Augen voller Reue zum fernen Horizont, der immer fern bleiben würde. Tabain sah manche Träne fließen.
Im Krieg wurde uns unsere Seele genommen. Wir wissen nicht länger, wie man Schiffe baut. Wir müssen hier verharren, auf dem Ödland zwischen Gestein und Schafen, nur getröstet von den Geistern der alten Zeit.
Bilder und Schnitzwerk, Zeichnungen und Malereien erzählten von den fliegenden Schiffen auf der Gischt, unter den Federn der Möwen. Die Kinder bestaunten diese Werke und fühlten sich, als würde eine Macht ihnen den Atem abschnüren. Feuerrauch vermengte sich mit Salz und die Zeit schwand dahin. Unermüdlich rollten die Wellen gegen die Klippen, jedoch konnten sie niemals an Land gelangen, so sehr sie es versuchten, und Tabains Volk war unerreichbar für sie.
Vielleicht wird einmal eine Zeit neuer Schiffe kommen. Es heißt, dass er kommen wird, der König der Wellen. Unser Volk wird er zurück auf den Ozean führen, mit nichts als den Sternen über sich und der Tiefe darunter. Dann werden wir auf dem Horizont fahren und die Geheimnisse der Eltern wiederentdecken.
Der Feuerschein glühte in Tabains Augen, als Hoffnung sie zum Leuchten brachte. Einmal, eines Tages, würde ihr Volk wieder auf dem Meer fahren. Es würde wieder Schiffe geben und dieser Felsen vergessen werden wie ein böser Traum im Licht eines neuerwachenden Morgens.