- Start: 16.11.2021 - 15:22 Uhr
- Ende: 16.11.2021 - 15:40 Uhr
"Ich hab' sie gesehen", beteuerte der alte Seemann. "Ihr müsst mir einfach glauben."
Die Inselbewohner tauschten stumme Blicke. Sie kannten den Fremden nicht, der am heutigen Tage in die Taverne gestürmt war und nun vor dem Kamin hockte, tropfend, als sei er geradewegs aus dem Ozean gestiegen, während draußen der Sturm heulte.
"Es war ein Gott, kein Zweifel."
"Ein Gott? Oder eine Göttin?" Dem Wirt waren seine Zweifel deutlich anzuhören.
"Ach, weder noch." Der Fremde senkte den Kopf. Wasser schwappte aus der Krempe seines Dreizacks auf den Boden.
"Was denn nun? Rede, Mann!", rief eine Frau.
Alles hatte sich in die kleine Taverne gedrängt und betrachtete den Fremden wie ein kurioses Tier.
"Also, ich fuhr los, zum Südpol."
"Zum Südpol? Niemand segelt dorthin", unterbrach ihn eine alte Frau. "Denn niemand kehrt von dort zurück. Mein Großvater ist dorthin gesegelt."
"Ich bin aber zurückgekommen", beharrte der Fremde. "Durch welchen Zauber auch immer. Ach ... vielleicht bin ich ja auch in einer anderen Welt gelandet."
Die Kinder kauerten dichtgedrängt auf Bänken und Tischen und hielten vor Spannung den Atem an, während die Erwachsenen eher die Stirnen runzelten. Die wirren Geschichten des Fremden ergaben keinen Sinn!
"Es dauerte auch nicht lange, bis ein Sturm mein Schiff erfasste", berichtete der Mann mit schwerer Stimme. Eisiges Wasser spülte über die Planken. Es riss meinen Maat mit sich und alle meine Begleiter, nur ich konnte mich an die Reling klammern."
"Ja, dieser verfluchte Sturm lauert dort", keifte die Alte zornig. "Alle reißt er in die Tiefe, ausnahmslos. Aus. Nahms. Los."
"Und dann sah ich sie. Ihn. Es!" Die Augen des Fremden erstrahlten, als würde eine Kerze hineinleuchten. Er richtete den Blick nach oben, als würde dort an der Decke die Erscheinung tanzen. "Ganz in Weiß gekleidet war es. Ein Mensch ... langes, weißes Haar mit blauen Spitzen und eine Haut wie der Frost! Er oder sie tanzte dort, über den Wellen und Schollen. Ein Schleier wie das Polarlicht folgte ihm."
"Du hast ein erfrorenes Mannsweib gesehen?", fragte der Wirt. "Vielleicht war es eine Leiche, die von den Wellen bewegt wurde. Eine Täuschung."
"Nein!", fuhr der Fremde auf. "So glaubt mir doch! Niemals sah ich ein zarteres Wesen, elegantere Schritte. Das Kleid war mit Muschelperlen besetzt und auf dem Kopf trug es eine Krone. Eine Krone aus Eiskristallen! Es war eine Prinzessin, oder vielleicht ein Prinz, jedenfalls ein Wesen, wie wir es gar nicht erfassen können. Eine Gottheit des Winters."
"Und dieser Gott hat da getanzt und dich dann gerettet?", fragte die alte Frau spöttisch, deren Großvater verschollen war.
"Nein. Es bemerkte mich gar nicht. Und ich war wie versunken in seinen Tanz. Wie lange, das weiß ich nicht mehr." Der Fremde seufzte wehmütig, und allen wurde klar, dass er sein Herz rettungslos verloren hatte. Selbst wenn seine Geschichte nicht stimmte, seine Liebe war echt.
"Eine Ewigkeit schien es zu dauern, bis ich mich wieder besann. Ich konnte nur mein Beiboot retten, und das, was ich am Leibe trug, und dann ruderte ich, bis der Sturm hinter mir zurückblieb." Er senkte den Blick. "Doch, ihr guten Leute ... es ist mir, als sei der tanzende Gott mir gefolgt. Wenn ich die Augen schließe, sehe ich sie vor mir, und sein Gesicht nimmt all meine Gedanken ein. Meinen Namen weiß ich nicht mehr, noch, woher ich stamme. Ich verlange nicht, dass ihr mir glaubt, doch ich bitte euch, helft mir wenigstens, wieder nach Hause zu finden. Dieser Sturm hat mich weit abgetrieben."
Stille füllte die Taverne, als die Menschen, bewegt durch seine traurige Bitte, ihren Spott verschluckten und sich bemühten, ihm zu helfen.
"Woher stammst du denn?", fragte eine Frau.
"Ich weiß es nicht mehr. All meine Gedanken sind vom Tanz des Prinzen eingenommen. Doch ich habe das hier." Damit griff er unter sein Hemd und zog eine Kette hervor. "Sagt ... wisst ihr, welcher Machart dies ist? Auf welchen Inseln in der Nähe man es herstellt? Könnt ihr mir den Weg weisen?"
Alles beugte sich vor, um die Kette zu betrachten. Weiß war sie, geschnitzt aus Marmor oder einem ähnlichen Stein, und sie zeigte einen Delfin mit blauem Auge.
Da erklang ein leiser Schrei aus dem hinteren Teil der Taverne. Es war die alte Frau, die so zornig gewesen war.
"Ich kenne diese Kette", sprach sie nun und griff unter ihr Kleid, um eine ähnliche herauszuholen. Ein blauer Delfin war es, mit einem weißen Auge. "Nur zwei wurden jemals geschmeidet. Diese hier vererbte mir meine Großmutter, und die andere ..." Ihre Finger bebten. "Die andere trug mein Großvater, als er verschwand."