- Start: 02.10.2019 - 18:58 Uhr
- Ende: 02.10.2019 - 19:24 Uhr
Liara lief zum Strand. Der über die rauen Klippen jagende Wind spiegelte den Sturm in ihrem Inneren wider. Tränen und Regentropfen vermengten sich auf ihren Wangen, während sie dem steilen Pfad bergab über die alten, rutschigen Stufen folgte.
Schwarz malten sich die Klippen vor den dunklen Wolken ab, eherne, unverrückbare Felsen vor dem zerfetzten Chaos des Himmels. Das Meer rollte auf den grauen Kiesstrand, nagte hungrig am Festland und besprühte Liara mit weißer Gischt.
In ihrem weißen Kleid musste sie wie ein Geist erscheinen, der inmitten des tosenden Infernos stand. Schritt für Schritt ging sie ins Wasser. Dort, wo das Meer noch nicht so tief war, sah es aus, als würde sie über die Wellen spazieren.
Ein Blitz zerriss die Nacht. Der Donner ging Tosen des Sturmes unter. Liara hob den Blick und ihre dunklen Augen flehten das Gewitter um Vergebung an. Doch ihre Welt war zerbrochen. Der liebende Vater war tot, die herrische Mutter hatte sie verstoßen, ihr Bruder war geflohen und hatte sie im Stich gelassen, nun sollte sie jenen Mann heiraten, der sie bereits mehrmals vergewaltigt hatte, um der Familie damit Geld zu bringen.
Sie ballte die Hände zu Fäusten. Nein. So würde es nicht laufen. Sie würde sich dem nicht länger beugen!
Schritt für Schritt ging das Mädchen vorwärts, eine schwarzhaarige Sirene im Hochzeitskleid, tiefer und tiefer sank sie. Schon schlugen die Wellen um ihre Hüfte, dann um ihre Brust. Schließlich rollte das Meer über ihren Kopf und sie begann zu schwimmen. Der Ozean riss sie an sich, warf sie hin und her, spielte mit ihr.
Sie schwamm vorwärts, ohne zurückzublicken. Schluckte Salzwasser. Zitterte vor Kälte. Aber sie musste weit genug hinaus schwimmen.
Endlich verließen sie ihre Kräfte. Das Ufer war bereits nicht mehr zu sehen, nur gelegentlich flackerte das kleine Licht des Leuchtturmes auf, von dem ihr Vater damals gestürzt war.
Ob ihre Mutter oder ihr Stiefvater ihn geschubst hatten?
Liara hielt inne. Jeder Schwimmzug war schwächer als der vorherige. Sie sank, doch statt Panik verspürte sie nur Frieden und Erleichterung. Sie war entkommen! Ihre Tränen lösten sich im tobenden Meer auf und wurden eins mit dem Ozean.
Plötzlich sah sie einen großen Schatten, der sich ihr unter Wasser näherte. In die taube Seele des Mädchens fuhr wie ein Blitz der Schrecken ein, als sie sich unter den Wellen so plötzlich einem gewaltigen Monster entgegen sah. Auch am Himmel zuckte ein Blitz, der die Gestalt des Tieres aus der Dunkelheit schnitt.
Ein Wal - ein Orca! Liaras Herz setzte einen Schlag aus. Dann begann sie, mit neu erwachten Lebensgeistern nach oben zu schwimmen. Sie schrie, Luftblasen stiegen zur Oberfläche. Schon zu oft hatte sie von den Klippen aus beobachtet, wie diese Wale mit ihrer Beute spielten. Dieses Schicksal wollte sie um keinen Preis erleiden.
Der Killerwal war jedoch schneller heran, als Liara schwimmen konnte. Sie wappnete sich für den ersten Stoß, der ihr die Luft aus den Lungen pressen und sie betäuben würde. Ihr vielleicht sogar Rippen brechen konnte.
Doch unerwartet sanft schob sich der Riese unter Liaras Beine. Mit der Schnauze hob der Orca sie an, ganz langsam und behutsam, bis Liaras Kopf die Oberfläche durchbrach.
Keuchend atmete sie durch. Die Luft schmeckte plötzlich so viel sauberer und köstlicher!
Eine weiße Fontäne stieg direkt neben Liara in den Himmel, als der Wal sie gänzlich an die Oberfläche hob. Das Mädchen saß auf seiner Schnauze, mitten im dicht strömenden Regen. Trotzdem fror sie nicht und sie empfand auch keine Angst mehr. Eine Art Aura aus Liebe schien sie zu umhüllen.
Zögerlich legte Liara ihre Hand auf die Stirn des Wals. Die Augen des Tieres lagen über den Wellen und Liara konnte sehen, dass sie milchig blass waren. Der Orca war blind! Irgendwie war Liara sich jedoch sicher, dass sie es mit einem Weibchen zu tun hatte. Diese Aura, die sie immer intensiver fühlte, strömte so viel mütterliche Zuneigung aus ...
Dann setzte sich der Wal mit einem Schlag der Fluke in Bewegung. Wasser spülte über seinen Kopf und Liara glaubte schon, dass das Weibchen abtauchen würde. Doch sie schwamm dicht unter der Oberfläche. Liara rutschte über die glatte Haut nach hinten und konnte sich an der Rückenflosse festhalten.
Die Wellen glitten vorbei. Der Schwertwal war viel schneller, als Liara gedacht hätte. Sogar schneller als die Sturmwolken am Himmel, die das Weibchen schnell hinter sich zurückließ. Stille kehrte ein. Liara begann, sich zu entspannen und sah hinauf, wo unendlich viele Sterne am klaren Himmel glitzerten. Der Mond malte silberne Tropfen auf die Wellen.
Immer weiter schwamm der Wal. Schließlich zeigte sich am Horizont ein erster Hauch der Morgenröte und als wäre ihre Macht an die Dunkelheit gebunden, wurde die Walin langsamer. Im ersten Licht eines klaren Morgens sah Liara neues Land vor sich. Keine karge, von schwarzem Gestein dominierte Insel wie ihre Heimat, sondern ein grünes, hügeliges, fruchtbares Land. Die wärmenden Strahlen der Sonne trockneten sie und als sie sich dem Ufer näherten, schneite es Kirschblüten.
Der Wal schwamm bis ins flache Wasser, wo Liara vom Rücken des Weibchens rutschen konnte. Sogar die See war hier warm. Am Horizont zeigten die Rauchsäulen von Kaminen, dass sie dort auf Menschen treffen würde.
Ein Neuanfang.
Sie drehte sich zu dem blinden Weibchen um und berührte erneut dessen glatte, schwarze Schnauze. "Ich danke dir ... Jorlee."
Eine mysteriöse Macht hatte ihr den Namen eingegeben - vielleicht die gleiche Macht, die das blinde Weibchen in dieser stürmischen Nacht aus dem weiten Ozean gerufen und zu Liara geführt hatte. Die Menschenhand löste sich von der Haut des Orcas und das Weibchen glitt zurück ins Meer. Ein letztes Mal blies es Wasser aus, dann tauchte es unter. Wie zum Abschiedswink hob sich die Fluke aus den Wellen.
Noch eine ganze Weile stand Liara im Wasser und sah auf die ruhigen Wellen hinaus. Schließlich drehte sie sich um und watete ans Ufer. Das nasse Kleid klebte an ihrem Körper und sie zitterte immer stärker. Auf dem weichen Sand stolperte sie, bis sie fiel. Zu erschöpft, um aufzustehen, blieb sie dort liegen.
So fanden die Fischer des nahen Dorfes sie wenige Zeit später.