- Start: 07.11.2020 - 19:52 Uhr
- Ende: 07.11.2020 - 20:34 Uhr
"Was machst du da?"
Tabain zuckte zusammen, als plötzlich hinter ihm eine Stimme erklang, und ließ das Schnitzmesser fallen. Er wirbelte herum.
"Yugi!"
Der kleinere Junge stand auf dem Hügel, in dessen Schutz Tabain sein Bauwerk fertigte. Jetzt zog er die Äste des dürren Strauchs vor das Holz.
Yugi kaute nachdenklich auf seinem Daumennagel und musterte Tabain. "Du heckst was aus! Warte nur ab, ich sage Mutter Sataya Bescheid!"
Der Jüngere wollte sich umdrehen.
"Nein! Ich - Yugi, warte! Sag bitte nichts!", flehte Tabain.
"Du machst nur wieder Ärger."
"Nein! Nein!" Tabain erklomm den Hügel schneller als Yugi und stellte sich dem Braunschopf mit erhobenen Händen in den Weg. "Es ist ein Geschenk. Aber es soll eine Überraschung werden."
Yugi war bereits dabei, den lehmigen, gelben Hang hinunterzurutschen. Er zog die Äste des Strauchs beiseite, der hier nah am Ufer sein Leben fristete.
Dann machte der Kleine große Augen. "Das ist ein Schiff!"
"Nein, es ... vielleicht." Tabain gab resigniert auf und stieg nach unten. "Es soll ein Schiff werden. Mit dem wir richtig seefahren können."
"Wooow!" Yugi umrundete den Holzrumpf und bestaunte die feingeschnitzten Verzierungen, die Tabain gemacht hatte. "Schwimmt es?"
"Ich muss es erst einmal testen ..."
"Lass es uns ausprobieren!" Yugi hüpfte auf der Stelle. "Bittebittebitte!"
Tabain schüttelte den Kopf. "Ich bin noch nicht fertig mit dem Rumpf."
"Ich sage Mutter Sataya, dass du Unsinn machst!", drohte Yugi.
"Schon gut, schon gut!", gab Tabain nach. "Dann ... wir müssen sie ins Wasser rollen."
"Sie? Wen?"
"Das Schiff. Schiffe sind doch immer weiblich, Dummerchen."
"Ohhh!" Yugi stemmte sich gegen das Heck. Tabain zog und der knapp einen Mann lange Rumpf rutschte über den Lehm auf die Wellen zu. Beide Jungen ächzten und stöhnten. Dann rutschte der Kiel ins Wasser und Tabain sprang ins Schiff.
"Tabain! Tabain, warte auf mich!", krähte Yugi und patschte ins Wasser hinterher. Tabain lehnte sich über den Rand und hob den Jüngeren zu sich herein. Yugi war selbst für seine fünf Jahre noch immer ausgesprochen klein, Tabain dagegen kräftig für seine zwölf Sommer. Zusammen fanden sie im kleinen Schiff bequem Platz. Tabain löste das Segel am Mast aus dem Sitzen mit einer Hand.
Yugi klammerte sich an die Bordwand und starrte auf die Wellen unter sich. "Es schwimmt, Tabain! Es schwimmt!"
"Sie", verbesserte Tabain ruhig und ließ die Seile durch die Finger gleiten, die hier die Taue ersetzten. "Sie heißt 'Hoffnung'."
"Was für ein schöner Name!", hauchte Yugi andächtig und lehnte sich weiter hinunter, um mit der Hand durch die Wellen zu streichen.
Tabain zog ihn wieder auf seinen Schoß und kurz darauf traf eine Welle das Boot, die Yugi sonst ins Meer geworfen hätte.
"Bleib sitzen, bis wir draußen sind!", wies Tabain den Jüngeren an.
"Da draußen?" Yugi sah zur Öffnung der Bucht. "So weit war noch nie jemand vor uns!"
Tabain lenkte das Schiff frontal in die Wellen. Der Wind erfasste die Hemden, die ihnen als Segel dienten, und sie schossen vorwärts. Yugi kreischte vor Freude und Angst auf. Der Wind blies den beiden Jungen ins Gesicht, kühl und salzig wie in den Geschichten ihrer Eltern.
Tabain hatte Sorge gehabt, dass er das Schiff nicht kontrollieren konnte, doch kaum auf den Wellen, war es ihm, als würden die vielen Geschichten der Alten zum Leben erwecken. Eine innere Stimme schien ihm zu sagen, welche Handgriffe er machen musste, um sie sicher durch die Bucht zu tragen. Das Boot, zuerst nur ein schönes Holzstück, verwandelte sich in eine Verlängerung seiner Selbst, und wie in einer Art Trance steuerte er zwischen den Klippen hindurch auf den Ozean.
Frei! Sie waren frei! Er legte den Kopf in den Nacken und stieß einen lauten Jubelschrei aus.
Seit einer Generation war keiner ihres Volkes mehr zur See gefahren. Ihre Vergangenheit war nur noch in den Geschichten der Alten überliefert. Doch jetzt waren Tabain und Yugi erneut auf den Wellen.
Nichts konnte sie aufhalten. Tabain entfaltete alle Segel, stellte sie in den Wind und ließ das Schiff nach vorne jagen, pfeilschnell über den Wellen. Sie hüpften über der See, Gischt spritze in ihr Haar.
Yugi jauchzte und stellte sich auf, die Hände ausgebreitet. "Das ist wie fliegen! Ich fliege!"
Tabain stellte das Steuer um und das Schiff legte sich in eine flache Kurve. Gleichzeitig streckten sie die Hände aus und berührten das Meer, das sich fast neben ihnen erstreckte. Fast berührten die Segel das Wasser - fast.
Dann richtete sich das Schiff auf und beschrieb eine große Kurve um die Insel. Auf dem Land erklangen erstaunte Rufe, dann erschienen mehr und mehr Gestalten an Strand und Klippen, die ihnen winkten. Yugi winkte ausgelassen zurück und Tabain lockte die 'Hoffnung' zu immer wilderen Sprüngen auf den Wellen, folgte der Linie der Gischt und dem Rufen des Windes, fuhr Kreise draußen auf dem Meer und lachte über die Angstschreie einiger Mütter.
Doch immer wieder verlockte ihn der Horizont. Zog seinen Blick wie magisch an. Eine feine, weiße Linie im Blau von Himmel und Meer, die ihn zu rufen schien.
"Tabain!" Yugi brachte ihn wieder zu sich. "Mir ist kalt."
"Oh." Tabain sah zum Himmel. Die Sonne war ein ganzes Stück weitergezogen, nun dämmerte der Abend. Er zog an den Seilen, reffte die Segel und ließ das Schiff auf einen der breiteren Strände zuschwimmen.
"Kannst du gleich den Eimer da von Bord werfen?"
"Den hier? Echt?" Yugi hob den Eimer auf, der an einer Kette befestigt war.
"Das ist unser Anker", erklärte Tabain. "Der sorgt dafür, dass die 'Hoffnung' hier bei uns bleibt."
Yugi nickte ernst und stellte sich an den Rand, mit dem Anker bewaffnet.
"Warte ... warte ... jetzt!", rief Tabain.
Yugi warf und Tabain zog die letzten Segel ein. Der Anker fand Sand und die Kette straffte sich. Das Schiff, an diesem Gewicht gehalten, stellte sich schief und setzte in der flachen Brandung auf.
Mehrere Inselbewohner strömten ihnen entgegen. Tabain kämpfte sich aus dem kleinen Schiff. Seine Beine waren steif, seine Hose von der Gischt völlig durchnässt. Er hob Yugi auf den Arm und wankte die letzten Schritte auf den Sand.
Dort riss Gidda, Yugis Mutter, ihren Sohn an sich. "Geht es dir gut? Ich möchte nicht, dass du so etwas jemals wieder machst! Du kannst nicht schwimmen."
"Es war toll!", krähte Yugi. "Wir sind geflogen!"
Mehrere ältere Männer schlossen zu ihnen auf.
"Tabain! Wo hast du das Schiff her?"
Er sah zu seiner 'Hoffnung', die sich in den Wellen wiegte. "Eigentlich sollte es eine Überraschung werden. Für Mutter."
Köpfe ruckten herum. Tabains Mutter, in ein blaues Tuch gehüllt gegen die Kälte des heraufziehenden Abends, schnappte nach Luft.
"Wir wollten es nur kurz austesten, aber ..." Tabain sah zu Boden. Er hatte die Überraschung verdorben.
"Tabain ..." Seine Mutter trat zu ihm. Tränen schimmerten in ihren von Runzeln umgebenen Augen. "Das ist das schönste Geschenk der Welt!"
"Ein bemerkenswertes Talent. Du hast das Schiff unter Kontrolle wie ein echter Seemann", sagte Jorge, einer der Alten, die die Tage der Seefahrer noch erlebt hatten. "Und du hast das ganz alleine gebaut?"
Tabain spürte alle Blicke auf sich ruhen. Blicke voller Hoffnung, Blicke voller Freudentränen und Unglaube. Langsam breitete sich das kribbelnde Gefühl in ihm aus, dass ihm sagte, dass er es geschafft hatte. Er hatte die ewige Sehnsucht seines Volkes beantwortet!
"Ja." Er sah in die Runde. "Und morgen werde ich aufbrechen."
Ringsum schnappten die Erwachsenen nach Luft.
"Ich werde neue Inseln besuchen und lernen, wie man große Schiffe baut!", versprach Tabain, mitgerissen vom Taumel dieses Tages. "Und dann bringe ich sie her. Wir werden wieder Seefahrer!"
Er stieß die Faust in den Himmel und die Alten antworteten mit Siegesgebrüll. Nur seine Mutter hielt ihn fest. "Morgen, mein Junge?" Streng sah sie ihn an. "Kommt gar nicht in Frage! Es gibt Schafe zu scheren."
Bis Tabain wirklich aufbrach, vergingen drei Jahre. Da war er fünfzehn. Seine Mutter war im letzten Winter verstorben. Er hatte die Zeit genutzt, um ein größeres Schiff zu bauen, denn die 'Hoffnung' war inzwischen leck. Sie war nicht hochseetauglich, Tabains zweites Schiff dagegen schon. Es war nicht groß, doch es bot unter Deck zwei Personen Platz zum Schlafen, hatte ein Segel und ein echtes Steuerrad, das im Haus eines der Alten gehangen hatte. Es war mit Teer abgedichtet, das Segel bestand aus richtigem Segeltuch und als der Sommer begann, wurde die 'Träumerin' mit allen Vorräten beladen, die die Gemeinschaft auf den Inseln entbehren konnte.
Als Tabain zum Schiff ging, in den frühen Morgenstunden, durch ein Spalier aus Hirten, die ihm zum Abschied winkten, begleitete Yugi ihn. Der Kleine war inzwischen neun Jahre alt geworden, und er wich Tabain nicht mehr von der Seite. Gidda hätte ihren Sohn nicht halten können, und so ließ sie ihn schweren Herzens mit Tabain ziehen.
"Ich passe auf ihn auf", hatte er ihr geschworen. "Wir kommen bald zurück."
Doch in Wahrheit wusste niemand, wie lang ihre Reise dauern mochte. Die beiden Jungen wussten nicht, was sie suchten, nur dass sie es finden mussten: Eine Möglichkeit, ihr Volk zurück auf die See zu bringen, dorthin, wohin sich jeder von ihnen im tiefsten Herzensgrunde wünschte.
Großzügig versorgt mit Nahrung und begleitet von den Glückwünschen der Inselbewohner stachen sie an diesem Tag in See - einer neuen, unbekannten Welt entgegen.