- Start: 07.10.2021 - 20:52 Uhr
- Ende: 07.10.2021 - 21:16 Uhr
"Sitz nicht nur da herum."
Sie starrte weiter aus dem Fenster. Das Kinn hatte sie in die Hand gestützt und ihr dunkles Haar floss über ihren Rücken und das helle Kleid.
"Hast du gehört?"
Sie reagierte nicht.
"Lairee." Osga trat an seine Frau heran und berührte ihre Schulter.
Langsam, nicht erschrocken, drehte sie den Kopf. Ihr Gesicht war gespenstisch blass und ihre dunklen Augen krochen nur langsam bis zu seinem Gesicht hinauf.
"Wann warst du zuletzt draußen? Sieh dich nur um. Du kannst doch nicht einfach nur am Fenster sitzen."
Desinteressiert streifte ihr Blick die Töpfe und Schalen, die sich in der Küche stapelten, die Wäsche, das staubige, dunkle Haus, das ebenso wie Osga die liebevolle Berührung ihrer Hände vermisste.
Dann sah sie wieder durch die Scheibe. Regen perlte wie Tränen über ihre Spiegelung. Ihr Blick suchte den grauen Horizont ab, suchte und suchte über den rauen Klippen, suchte und fand nichts.
"Hast du dich heute denn überhaupt bewegt?", bedrängte Osga sie. "Lairee, Liebling. Hast du etwas geschlafen?"
Ihr Blick traf die dunklen Pupillen in der Scheibe und klebte daran.
Seufzend wandte Osga sich ab und trat in die Küche. Müde noch von der Tagesarbeit krempelte er die mit Erde beschmierten Ärmel hoch und packte das stinkende Geschirr zusammen. Klappernd trug er es hinaus. "Bitte steh endlich auf."
"Sie ist natürlich nicht aufgestanden", brummte Osga. "Langsam macht sie mich wahnsinnig. Wie lange soll es noch so weitergehen? Mein Vater hatte recht. Nach der Hochzeit geht alles den Bach runter." Er trank einen Schluck aus seinem Bierhumpen und lehnte den Kopf dann gegen den Holzbalken. "Habe ich etwas falsch gemacht? Sie wirkte am Anfang so glücklich. Und dann, nach und nach ... wurde sie so." Er trank erneut. Sein Hut, der ihn tagsüber vor der Sonne schützte, rutschte ihm in die Stirn. Er ergriff die Krempe und setzte ihn auf den Boden neben sich. "Ich möchte ihr helfen. Sie soll glücklich sein. Sie verdient alles Glück der Welt. Wenn sie mir nur sagen könnte, was ihr fehlt!"
Ein Grunzen antwortete ihm. Osga richtete den Blick auf die beiden mageren Säue, die ihm Stroh neben ihm nach Kartoffeln suchten. Nachdem er ihnen die Küchenabfälle gebracht hatte, war er auf den Boden gesunken.
"Aber ich könnte genauso gut mit euch reden. Sie spricht auch kein Wort mehr mit mir." Er prostete den Tieren zu und trank erneut.
Die Schweine suchten nach Essensresten. Eine weitere Woche war vergangen, in der Lairee ihr Essen kaum angerührt hatte. Die Tiere freute es natürlich, doch Osga fühlte sich, als würde sein Herz mit ihr schwinden, als sie immer weiter abnahm.
Er trank noch einen Schluck, seufzte und sah gequält zur Decke. "Was soll ich nur tun?"
"Was soll ich tun?", brüllte er. Er beugte sich über Lairee.
Kleine Tröpfchen netzten ihre Wange, doch sie zuckte nicht einmal. Ihr Blick hing am Regen, der die Scheibe hinunterperlte.
"Sag mir, was ich machen soll! Ich tue alles für dich!" Er unterdrückte ein Schluchzen. "Bitte, Lairee, bitte, bitte ... rede mit mir!"
Sie atmete flach und ruhig.
"Ich ertrage diese Stille nicht mehr!", platzte es aus ihm heraus. "Ich ertrage es nicht, dich so unglücklich zu sehen. Hörst du?" Er schrie mit aller Kraft: "Ich kann das nicht mehr!"
Schwer atmend sah er sie an.
Langsam, sehr langsam, drehte Lairee den Kopf. Sah ihm mit ihrem unergründlichen Blick in die Augen.
"Bitte ..."
Ihre Lippen teilten sich. "Du weißt ..."
Osga wandte den Blick ab. "Ich kann das nicht. Du weißt, ich ertrage es nicht. Das würde mich töten." Er kniete sich vor sie und erfasste ihre Hand. "Du hast mir doch etwas versprochen. Bis dass der Tod uns scheidet. Du sagtest, du würdest glücklich sein."
Langsam drehte sich ihr Kopf zurück zum Fenster. Dunkle Schatten glitten durch die eingesunkenen Wangen und sammelten sich unter ihren Augen.
"Bitte ... Lairee ... du bist mein Leben."
Kraftlos glitten ihre Finger aus seinen Händen, weich wie Seide.
"Ich liebe dich."
Doch auch hierauf folgte keine Reaktion.
Mit einem langen, schweren Seufzen trat Osga auf. Seine Schritte klangen wie zufallende Türen, als er zum Schrank trat. Er zog den Schlüssel unter seinem Hemd hervor, der an einem Lederband hing. Dann schloss er den Schrank auf.
Er sah zum Fenster. Lairee starrte ihn direkt an, ohne sich zu rühren. Ihre Augen glühten matt in ihren eingesunkenen Höhlen.
Osga schluckte. Tränen sammelten sich in seinen Augen. Unendlich langsam hob er die Hand und griff in das oberste Fach.
Was er hervorholte, sah aus wie eine seidige, graue Decke. flüsternd, fast fließend glitt sie heraus und streckte sich aus. Da erkannte man darin den Pelz einer Robbe. So strahlend und glänzend wie in sonnendurchflutetem Meer.
Als er sich umdrehte, stand Lairee direkt vor ihm. Immer noch starrte sie ihn an, ohne zu blinzeln.
Tränen liefen über Osgas stoppelige Wange, als er ihr den Pelz reichte.
Lairee streckte die dünnen Arme aus und presste die Haut fest an sich. Dann drehte sie sich um und ging durch die Tür.
Hinter ihr sank Osga weinend auf den Boden, als seine Knie ihn ncht länger trugen.
Die Selkie ging in gerader Linie fort von der kleinen Hütte. Ihre Nase führte sie mit trügerischer Sicherheit auf dem kürzesten Weg zum Ozean.
Osga schloss die Augen, verschloss sie vor der Welt. Eine eisige Klaue schien sich um sein Herz geschlossen zu haben.
"Verzeih mir", hauchte er leise. "Ich dachte wirklich, es könnte funktionieren. Und du dachtest es doch auch." Er sah auf. Durch die offene Tür konnte er ihre Silhouette vor dem roten Sonnenuntergang sehen. Sie hielt auf den Klippen. Meeresschaum erzeugte einen Nebel um ihre Füße, als sie die Robbenhaut überzog.
Dann schrumpfte ihre Gestalt und sie schwand aus Osgas Blick.
"Du gehörtest nie hierher, auf das Land. Du gehörst nicht an die Seite eines Bauern", flüsterte er leise. "Eine Selkie gehört in die See."
Er atmete tief durch und ein schwaches Lächeln trat auf seine Lippen. "Dort im Wasser ist sie glücklich."
Ein Windzug schlug die Tür zu und ließ Osga allein in der dunklen Hütte zurück, mit nichts als dem offenen Schrank und dem Staub.