- Start: 07.02.2020 - 17:37 Uhr
- Ende: 07.02.2020 - 18:10 Uhr
Der alte Fischer stand am Meer und sah auf die Wellen. Schwarz und schaumgekrönt spülten sie gegen den Strand. Ebenso dunkel wie die Wolken am Himmel und die steilen Klippen in seinem Rücken. Der Ozean grollte bedrohlich, doch noch ein anderes Geräusch war zu hören: Schwere, langsame Schritte. Nur allmählich wurden sie lauter.
Bumm ... bumm ... bumm ...
Er wusste, dass es kam. Langsam war es, doch unermüdlich. Wenn es einmal Witterung aufgenommen hatte, dann schleppte es seinen schweren Körper vorwärts und immer weiter, die gewaltige Last von Panzer und Gestein, und es ruhte nicht, bis es seine Beute eingeholt hatte.
Es holte einen am Ende immer ein.
Die blauen Augen im wettergegerbten Gesicht glitzerten mit stillen Tränen. Die Wasser von Regen und Trauer rannen durch Bachbetten aus tief gegrabenen Falten und versickerten im weißen Bart.
Bumm ... bumm ... bumm ...
Quer durch alle Weltmeere, über Berge hinweg, vom einen Ende der Welt, wo jene schicksalhafte Insel gelegen hatte, bis hierher, wo dem Fischer nichts mehr geblieben war, wohin er noch fliehen konnte.
Bumm ... bumm ... bumm ...
Die Wellen schaukelten höher. Zwischen Tang und Salzwasser konnte er nun auch den fauligen Atem des Monsters riechen. Ein gewaltiger, uralter Wind, der an seiner Kleidung zerrte, an dem oftmals geflickten Hut und dem meergetränkten Mantel.
Bumm ... bumm ... bumm ...
Und dann war es still. Aus der Nacht blickten große, schwarze Augen auf den Fischer, genau wie in jener Nacht.
"Laaauuuft!", gellte der Schrei.
Das war der erste Maat, sein bester Freund. Gerade hatte der damals junge Fischer die Kiste an Bord gehievt.
Die Insel bebte. Berge bröckelten und Wellen wogten. An einem langen Hals hob sich der Kopf aus den Tiefen, ein klaffendes Maul, ein Seetangbart, dunkle, erbarmungslose Augen.
"Hol sie an Bord!", rief der junge Mann, der der Fischer damals gewesen war. Seine Mannschaft rannte über den Strand, sein erster Maat sprang zur Bordleiter, um ihnen heraufzuhelfen. Sand wurde aufgepeitscht. Die Rennenden fielen. Das Schiff wurde von der Flut gepackt und herumgewirbelt. Der Fischer klammerte sich ans Steuer und kämpfte darum, das Schiff wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Bumm ... bumm ... bumm ...
Und dann ein furchtbares Brüllen. Zitternd vor Angst spähte der junge Fischer über das Steuerrad.
Das Deck war leer. Die Insel hinter ihm war verschwunden, und wo sie gewesen war, erhob sich das Monster auf seinen vier Pranken. Ein Brüllen schickte es dem Schiff hinterher, dessen Segel sich strafften. Dann setzte es sich in Bewegung - Bumm ... bumm ... bumm ... - und der Fischer segelte, so schnell er konnte davon. Allein. Seine Kameraden waren fort, sein bester Freund von deck gespült.
Bumm ... bumm ... bumm ...
Leiser und leiser, bis der junge Mann sich entkommen glaubte, doch weder über sein Leben noch über den gestohlenen Schatz konnte er sich freuen. Und kaum, dass er Land erreichte und sich sicher wähnte, erklangen die Schritte in der dritten Nacht.
Bumm ... bumm ... bumm ...
Wo immer er hinlief, das Monster fand ihn.
Nun alt und reuevoll sah der Fischer auf, in diese dunklen Augen, die ihm seit jenem Tag folgten. Er ließ sich auf die Knie sinken, in den kalten Sand. Leichter Regen traf seine Haut. Es roch nach Seetang und Salzwasser - und nach dem Ende.
Das Monster sah auf ihn hinab.
"Du hast mich gefunden!", rief der alte Mann. "Sieh: Ich fliehe nicht länger. Es war nicht rechtens, dir deinen Schatz zu nehmen. Das weiß ich jetzt. Könnte ich es ungeschehen machen, so würde ich es tun, doch ihn habe ihn fortgegeben, jede einzelne Münze davon. Seitdem gab es keinen Tag, an dem ich nicht bereue, was ich getan habe."
ICH WEISS.
Die Stimme dröhnte wie der Gesang der Erde und ein Schrei der Himmel. Langsam senkte sich der Kopf, bis der alte Fischer direkt in eines der großen Augen sehen konnte.
ICH KAM, DICH ZU JAGEN, NACHDEM DU MICH BESTOHLEN HATTEST. DEINE KOMPLIZEN HABE ICH VERSCHLUNGEN UND ICH WAR BEREIT, AUCH DICH ZU VERSCHLINGEN. DOCH SIEH:
Da veränderte sich die seelenlose, schwarze Scheibe und statt in das Auge eines Untiers sah der alte Fischer wie durch ein Fenster auf sein altes Heimatdorf. Und er blickte direkt in eine ärmliche Hütte, eine der großen Hallen, darinnen saßen weinende Frauen und Kinder, die sich an ihre Schöße klammern.
Der alte Fischer wandte das Gesicht ab. "Wieso zeigst du mir das? Dieses Bild verfolgt mich in jedem wachen Moment. Bitte glaube mir - für meine Taten habe ich gebüßt, wie kaum einer gebüßt hat. Ich flehe dich an - erlöse mich von den Witwen meiner armen Kameraden."
SIEH!, donnerte die mächtige Stimme.
Widerstrebend stellte sich der alte Fischer seiner Prüfung. Er sah, wie die Frauen ihre Kinder trösteten und schluchzend auf die Schätze blickten.
Denn eines passte nicht zum restlichen Bild: Überall auf den ärmlichen Tischen lagen die unglaublichsten Reichtümer verteilt. Perlen und Geschmeide, Goldmünzen, teure Stoffe, feinste Handwerkskunst.
"Dein Schatz, ich weiß es. Vermutlich hast du ihn dir wieder genommen", sagte der Fischer. "Es war ohnehin kein Trost für sie. Meine Torheit hat sie Ehemänner und Söhne gekostet, was dachte ich Narr dabei, ihnen ihren Verlust in Gold aufwiegen zu können? Ein solches Gewicht hätte mein Schiff nicht tragen können."
ES WAR GENUG, UM IHNEN UND ALLEN KINDERN UND KINDESKINDERN EIN LEBEN IM ÜBERFLUSS ZU GEWÄHREN.
"Womöglich, ja." Der Fischer seufzte. "Doch dann folgtest du mir, mein Fluch, und aller Reichtum brachte ihnen nichts mehr."
UND HIER, FISCHER, MUSST DU HINSEHEN.
Zitternd und mit gequältem Blick sah der Fischer wieder in das Auge. Er sah das Bild zittern, als die Schritte - Bumm ... bumm ... bumm ... - sich dem Dorf in der Vergangenheit näherten. Er schluchzte leise auf. Geflohen war er damals. Geflohen, ohne jemanden zu warnen, noch immer erfüllt von entsetzlichem Terror.
Das Bild wurde ruhig. Die Frauen und Kinder sahen unter Tischen hervor, unter denen sie Schutz gesucht hatten. Ein gewaltiger Schatten fiel über sie.
Der Kopf des Untiers erschien im Bild, der Seetangbart und die Flechten, die Pocken auf dem uralten Antlitz. Das Maul der Bestie klappte auf - und heraus kamen des Fischers Kameraden, unversehrt, wenn auch taumelnd und stolpernd.
Ungläubig sah der alte Fischer zu. "Du ... du hattest sie verschlungen."
Im Auge des Monsters sah er, wie Witwen in die Arme der zurückgekehrten Verstorbenen fielen. Die Halle war erfüllt von glücklichem Lachen und das Gold warfen sie dem großen Schatten voller Dankbarkeit zu.
ICH VERSCHLANG SIE IM GANZEN UND DANN HOLTE ICH MIR MEINEN SCHATZ ZURÜCK, sagte das Monster. NUN KOMME ICH, UM DIR ZU GEBEN, WAS DU VERDIENST. LANGE ZEIT BIST DU MIR ENTFLOHEN, MENSCH, DOCH NIEMAND ENTKOMMT DER ASPIDOCHELONE.
Das gewaltige Maul öffnete sich, und über die Zunge des Monsters, begleitet von süßlichem Duft, kam eine einzelne Gestalt. Des Fischers erster Maat war es, der im Dorf keine Familie gehabt hatte, zu der er hatte zurückkehren können - denn seine Familie war der Fischer gewesen.
Der erste Maat lachte und zog seinen Freund in die Arme. Ungläubig starrte der Fischer das Monster an. "Aber ... wieso?"
WEIL ICH SAH, DASS DU DEN SCHATZ NICHT FÜR DICH BEHALTEN HATTEST.
Bumm ... bumm ... bumm ...
Die großen Schritte entfernten sich.
"Warte!", rief der Fischer. "Warte! Wohin gehst du?"
Doch er erhielt keine Antwort und das Untier entschwand in den Nebel der Nacht wie ein Alptraum am Morgen. Und für einen Traum hätte der Fischer es halten können, wäre da nicht sein treuer Freund an seiner Seite gewesen, der nach alle den Jahren um keinen Tag gealtert war.