- Start: 20.11.2020 - 01:02 Uhr
- Ende: 20.11.2020 - 01:29 Uhr
Himmelblau. Die Augen des Kalbs waren himmelblau.
Lirmas kauerte sich neben das gestrandete Tier und strich vorsichtig über die glatte Haut des Walkalbs. Er konnte noch nicht erkennen, welches Tier einmal aus dem Kalb werden sollte. Ein Buckelwal vielleicht, oder ein Blauwal.
Werden sollte. Im Sinne einer Möglichkeit, die nicht mehr offenstand. Das Meer zog sich immer weiter zurück, wich Welle um Welle vom Land, und ließ das junge Kalb alleine.
Schon jetzt ging der Atem des Tieres schwerfällig und gequält.
Lirmas stand auf. Er konnte den Blick der himmelblauen Augen nicht erwidern und nichts tun. Also lief er zur Meereslinie, schöpfte Wasser aus den Wellen und trug es in den bloßen Händen zurück. Seine Füße taumelten, während die Hoffnungslosigkeit der Situation ihm die Kehle zuschnürte.
Das Wasser war schon fast verschüttet, ehe er die winzige Portion über den jungen Wal gießen konnte. So viel er auch rannte, er könnte das nicht bis zur nächsten Flut durchhalten. Je weiter sich das Meer entfernte, desto weniger Wasser würde den Weg zurück zum Wal überstehen. Er bräuchte eigentlich einen Eimer, wenn er hoffen wollte, irgendwas zu ändern. Aber ihm blieb keine Zeit, um einen zu holen. Bis er die steilen Klippen hinauf war, wäre der Wal ausgetrocknet.
Er benetzte das Jungtier und rannte wieder los. Er konnte nicht aufgeben. Er konnte einfach nicht. Dieses Tier, obwohl es größer als ein Mensch war, war zu jung, zu unschuldig und zu zart, als dass Lirmas mit sich selbst leben könnte, wenn er nicht alles versuchte.
Er bekämpfte die tobenden Emotionen, während er rannte und rannte, so schneller konnte, vom Salzwasser zurück auf den Sand, der sich unter der Sonne immer weiter aufheizte. Das Wasser verdampfte, bevor er zurückkehrte, und es fühlte sich so schwach und hilflos wie der junge Wal es war. Die Stunden krochen dahin.
Er stolperte. Das Wasser in seinen Händen floss in den Sand und versickerte.
Erschöpft sah Lirmas auf. Der Wal rührte sich kaum noch. Der Blick in seinen himmelblauen Augen war flehend, verzweifelt.
"Es tut mir so leid, Kleiner." Lirmas robbte neben ihn und legte die Hand auf die bebende Schnauze. Im Blick des Wals glaubte er, Traurigkeit und Verständnis zu lesen. Wusste dieses so fremdartige Tier, dass Lirmas kein Feind war, sondern versucht hatte, ihm zu helfen? Wusste er auch, dass Lirmas' gesamte Verzweiflung nicht ausgereicht hatte, um sich gegen das Schicksal zu stemmen?
Der junge Wal blinzelte. Lirmas lehnte die Stirn gegen die viel zu trockene Haut des Tieres. Er konnte nicht mehr. Mit geschlossenen Augen presste er die Stirn gegen das Tier.
Immerhin könnte er ihm Gesellschaft leisten. Statt wegzusehen konnte er dem Tier Trost spenden.
Plötzlich rauschte kaltes Wasser über ihn.
Erschrocken fuhr Lirmas auf und bemerkte, dass jemand neben ihm stand.
"Was liegst du hier so faul rum? An die Arbeit!" Die Frau drückte ihm einen Eimer in die Hand. Sie grinste.
"I-ich ..."
Verständnislos sah Lirmas sich um.
Wo kamen diese vielen Menschen her? Knapp zwanzig strömten mit Schaufel herbei, ein Dutzend anderer bildete eine Eimerkette zum fernen Ozean. Die Fremde neben ihm bildete das Ende dieser Schlange und nahm den nächsten Eimer entgegen, um ihn über den Wal zu kippen.
"Ich hab dich gesehen", sagte die Frau und drückte ihm den leeren Eimer in die Hand. "Also bin ich ins Dorf gelaufen und hab alle zusammengetrommelt. Tut mir leid, dass es nicht schneller ging."
Taumelnd kam Lirmas auf die Füße. Die Helfer reichten gefüllte Eimer zum Land und leere zurück. Die Leute mit Schaufeln begannen, einen Graben zu ziehen. Auf dem Meer näherten sich einige Fischerboote.
Er schwankte an der Eimerkette entlang, ohne zu wissen, wie ihm geschah. Die letzten Helfer standen hüfttief im immer noch sinkenden Wasser. Er reihte sich ein, füllte den Eimer, gab ihn weiter und nahm den nächsten an. Schnell wurde es zur Routine. Sein Herzschlag normalisierte sich.
Meerwasser sprudelte durch den gezogenen Graben. Das erste Schiff tuckerte hinein und ein Tau wurde um den Wal geschlungen und am Schiff befestigt. Dann folgte das zweite Schiff.
Die Eimerkette setzte sich hinter Lirmas fort. Er bekam kaum mit, wie weitere Freiwillige von den Klippen strömten.
Die Boote begannen, zu ziehen. Menschen stemmten sich gegen das Walkalb, das langsam, Stück für Stück, ins tiefere Wasser glitt.
"Wo ist seine Mutter?", fragte jemand besorgt. "Ohne Mutter ist es im Ozean verloren."
Alle Blicke richteten sich auf die fernen Wellen. Das Walkalb lag in einer tieferen Kuhle, endlich außer Gefahr, doch noch nicht im Meer.
Was sollten sie tun, wenn kein Muttertier da war?
Eine schlanke, schwarze Flosse durchschnitt die Wellen weiter draußen.
"Orca!", schrie jemand gellend. "Er will das Kalb fressen."
Lirmas sah zu dem kreisenden Wal. Geduldig ließ sich das schwarzweiße Tier an die Oberfläche treiben. Es sah zum Strand, eindeutig, doch in seinem Blick lag nicht die lauernde Kälte eines Jägers.
"Wir können den Wal nicht rauslassen", stellte die Frau fest, die Lirmas als erstes gesehen hatte.
Er lief zu ihr. "Doch, wir können." Alle starrten ihn an.
"Bist du dir sicher?", fragte ihn die Frau. "Du hast ihn stundenlang allein versorgt. Und jetzt willst du ihn in den Tod entlassen?"
"Vertraut mir. Der Orca wird ihm nichts tun." Lirmas lächelte leicht.
"Woher willst du das wissen?", fragte jemand.
Lirmas winkte ab. Er konnte es selbst nicht wirklich erklären.
"Macht weiter!", rief die Frau mit fester Stimme. Die Helfer gehorchten.
Die Fischerboote nahmen erneut Fahrt auf und zogen weiter. Das kleine Walkalb rutschte durch den Graben zum Meer. Als es in den Wellen war und sich aus den Seilen befreite, schwamm der Orca an seine Seite. Dann glitt der große Räuber voran. Der kleine Wal spritzte Wasser und hob die Fluke wie zum Abschied, bevor er dem fremden Wal folgte.
Schweigend sahen die Retter ihm nach.
"Ich bin froh, dass du dich nicht getäuscht hast", murmelte die Frau leise zu Lirmas.
"Und ich muss dir danken! Du hast den Wal gerettet."
"Nein, das warst du. Ich habe dir nur die Mittel dazu gebracht." Die Frau lächelte ihn an.
"Wie ist dein Name?", fragte er sie.
"Du würdest ihn nicht glauben", sagte sie und lächelte. Dann drehte sie sich um und schlenderte über den Strand.
"Hey - warte!"
Doch sie wartete nicht. Und irgendetwas hielt Lirmas davon ab, ihr hinterherzurennen.