- Start: 19.11.2020 - 10:40 Uhr
- Ende: 19.11.2020 - 11:02 Uhr
Das U-Boot kriecht langsam voran. Nur der Lichtstrahl vor ihm schneidet Sand aus dem Dunkel des Ozeanbodens. Vorsichtig tastet der Lichtfinger über Kolonien von Seesternen, über Knochen gefallener Riesen und durch von Partikeln wie von Schneeflocken gestörte Weite. Manchmal erklingt ein klagender Ruf, und dann fällt ein Schatten über das Schiffchen, wenn ein großes Tier gerade außerhalb des Sichtfelds vorbeizieht. Am Boden huschen schwarze Aale in Felshöhlen und kleine, silbrige Fischlein untersuchen die Lampe neugierig.
In der Kabine hinter dem dicken Bullauge ist es still. Die Forscher sprechen kein Wort, warten angespannt auf jedes neue Geheimnis, das aus der Dunkelheit gezogen wird.
Da! Der Lichtkreis erfasst einen rechteckigen Steinquader. Bewachsen mit Moos und Seepocken liegt er halb im Sand versunken.
Man hört den Atem der fünf Wissenschaftler stocken. Langsam dirigiert die Pilotin das Schiff zur Seite,
Weitere Steine schälen sich aus der Finsternis. Es werden mehr, ein ganzer Haufen. Daraus ragt der Stumpf einer abgebrochenen Säule.
Dann trifft der Lichtfinger auf Kristall. Ein großer, hellblauer Stein. Er ist durch den Druck der Tiefsee gesprungen, doch unbewachsen. Wie ein Verdurstender saugt er den Lichtschein in sich auf und strahlt ihn wieder ab. Er trifft weitere Kristalle in der Ferne. Nach und nach, wie Sterne, leuchten sie auf. Ihr sanftes Licht wird zu einem kräftigen Schimmer, der graue Konturen aus dem Blau löst und mit Farbe bestreicht.
Häuser aus bunt bemaltem Stein. Ruinen von großen Hallen und prächtigen Türmen. Das U-Boot ist schon mittendrin, hat sich auf einem Pfad zwischen den Ruinen vorangekämpft, ohne die mächtigen Bauwerke zu beiden Seiten sehen zu können.
Ein Wal schwebt gemächlich um den höchsten Turm, weit über der unter Muscheln und Algen begrabenen Stätte.
Vor Jahrhunderten war sie unter die Wellen gesunken. Wer nun an zornige Wogen denkt und aus der Vergangenheit Echos von Hilferufen hallen hört, der liegt falsch. Es war ein langsamer und friedlicher Tod. Nach und nach nahm sich das Wasser das Ufer zurück, der Ozean spülte durch die Straßen, und das Land gab seiner kalten Schwester, was sie begehrte.
Die See umarmte die prächtige Stadt von einst, hieß sie willkommen in der Tiefe, wo ihre Wunder nun von Salz und Stille bewahrt werden.
Nur manchmal, ganz selten, gibt sie einen winzigen Splitter frei. Dann treibt eine Steintafel voller uralter Geheimnisse oder eine wunderbar und fein gearbeitete Tonscherbe an die Oberfläche, grüßt aus alter Zeit und erzählt von Wundern fern jeder heutigen Kultur.
Denn dass die Stadt versank, war keine Strafe, sondern ein Geschenk. Menschen vergehen. Kulturen sterben in Kriegen und Zeit. Aber das Meer ist ewig, und so ruht unter den Wellen, in der Stille des Grabens, ein Schatzhort mit Antworten auf alle Fragen.
Regungslos verharrt das U-Boot im Licht der pulsierenden Kristalle. Noch einmal scheint die versunkene Stadt zum Leben zu erwachen. Auf Bögen und Algengärten, in Säulenhallen und Türmen, Häusern und Palästen scheint sich so manches Leben zu verbergen. Man meinst fast, ein Kindergesicht hinter einer Säule lachen zu sehen, oder die eifrige Diskussion Gelehrter zu hören.
Die Stille, als sie den Forschern wieder bewusst wird, ist erdrückend. Geisterhaft. Eine Wissenschaftlerin lässt die Finger über die Steuerung des Greifarms gleiten, ohne ihn zu bewegen. Einer ihrer Kollegen schüttelt leicht den Kopf.
Proben wollten sie nehmen. Geheimes Wissen aus der Tiefe hervorbringen, wie es niemand vor ihnen schaffte. Andere Forscher rieten ihnen ab, die Stadt sei unmöglich zu finden, doch hier sind sie, im Herzen der antiken Wissenschaft.
Doch sie bringen es nicht über sich. Stumm verständigen sie sich. Sie bleiben sitzen, gefangen in dem Anblick der zeitlosen Stadt, bis die Kontrolllampen blinken.
Es wird Zeit, zur Oberfläche zurückzukehren. Der Abschied schmerzt. Wieder und wieder sehen sie zurück, um noch einen letzten Blick auf Winkel und Gassen, Skulpturen und Farben zu erhaschen. Das Licht der Steine erlischt, nach und nach, und senkt einen schwarzen Vorhang über das verlorene Reich.
Die Forscher werden zurückkehren und berichten, dass ihre Suche erfolglos war. Wie es vielleicht schon Andere vor ihnen getan haben, jene, die sagten, es wäre unmöglich, etwas von der alten Zeit zurückzugewinnen.
Sie haben nicht unrecht.
Und so ruht sie noch heute unter den Wellen, verborgen bis auf die wenigen Momente, da ein Lichtstrahl sie aus dem Vergessen ruft. Still und ausdauernd gibt die See manch ein wertvolles Kleinod zurück, während sie wartet ... wartet auf die Zeit, da die größte Stadt der Erde zurückkehren kann aus der Tiefe.