Der Abstieg zur Hölle ist leicht: Tag und Nacht steht offen, das Tor zum finsteren Pluto. Aber den Schritt zurück, zu den himmlischen Lüften zu wenden, dieses ist ein Werk, eine Arbeit.
*Virgil, Æneid (29–19 BC)
London Institut 1926
Nie kam William Branwell dieses Gebäude so unendlich groß vor wie an diesem Tag. Die Bibliotheken lagen am anderen Ende der Kathedrale. Er hetzte durch die Flure, rempelte dabei einige Schattenjäger an und erreichte schließlich den kleinsten der drei Lesesäle. Der Hexenmeister John Polidori stand mit nachdenklicher Miene vor dem Kamin. Er war einer der angesehensten und vertrauenswürdigsten Ärzte Londons – ein Lord, so sagte man – und schon länger tätig, als die meisten der Schattenjäger lebten. Auch wenn sein Äußeres anderes vermuten ließ.
William eilte zur Récamiere, kniete nieder und griff nach der zittrigen Hand seiner Frau. »Was ist passiert?«
Alices Atem ging schwer, ihr Körper war übersät von Schürfwunden und ihr Blick trüb, doch sie rang sich für William ein Lächeln ab.
Polidori räusperte sich. »Sie wird wieder gesund werden, Sir William. Ein paar gebrochene Rippen, eine innere Blutung, ansonsten sind es nur oberflächliche Verletzungen.«
»Innere Blutung? Was ist mit …«, er verstummte, denn Polidoris Blick richtete sich abrupt auf dessen schwarze Lackschuhe, die immer etwas zu dicht zusammenstanden, als wären sie nur leeres Schuhwerk – ordentlich vor dem Bett abgestellt. Williams Mund trocknete schlagartig aus. Er sah wieder zu Alice, strich ihr übers Haar, küsste sie und sah nun flehend zu Polidori, der Williams Verzweiflung wohl als unangenehm empfand und mit einem hilflosen Schluckauf quittierte.
»Wird sie es verlieren?«
»Es ist unwahrscheinlich, dass der Fötus noch intakt ist, Sir, die Verletzungen im Bauchraum Ihrer Frau sind zu traumatisch.«
»Ich hab ihn nicht gesehen«, erklärte sie mit heiserer Stimme. »Der Dämon kam aus dem Nichts. Er war grotesk, zu stark und zu schnell für mich. Ich bin noch einem wie ihm begegnet. Er sah aus, wie eine dieser mittelalterlichen Teufelsdarstellungen der Irdischen. Das war kein gewöhnlicher Dämon, Will.«
»Aber, du hast du ihn erwischt?«
»Er ist genauso schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war. Als hätte er es nur auf mich abgesehen.«
»Er hat keinen der anderen angegriffen?«
»Nein.« Ihre Hand legte sich auf den Bauch. »Ich kann sie nicht verlieren. Nicht mein kleines Mädchen«, sagte sie mit einer Verzweiflung, die William noch nie an seiner Frau gesehen hatte.
Alice hatte sich in dieser Schwangerschaft verändert. Sie war zwar schon immer eine Löwin, wenn es um ihre Kinder ging, doch selbst bei den Zwillingen hatte sie sich nicht so behütend verhalten. Auch schien Alice genau zu wissen, wer dieser kleine, noch werdende Nephilim war. Sie hatte sich gar nicht erst die Mühe gemacht, einen Jungennamen für ihr drittes Kind auszusuchen.
»Ich lasse sie nicht sterben. Nicht meine Siobhan«, ihre Stimme erstickte unter leisem Schluchzen. William nahm sie in den Arm und unterdrückte den Impuls, seinen Kummer ebenso nach außen zu tragen. Sein Blick wurde starr und seine Entschlossenheit, diesen Dämon zu finden und zu töten, überwältigend.
»Es gibt da vielleicht eine Möglichkeit, den Fötus zu retten«, sagte Polidori, der den Finger hob wie ein Oberlehrer und von all diesen menschlichen Regungen sichtlich ungerührt war.
William sprang auf. »Wenn Sie mein Kind noch ein einziges Mal Fötus nennen … ich schwöre, dann werde ich …«
»Ja, ja«, sagte Polidori mit einer Geste, als würde er eine Fliege vor seinem Gesicht verscheuchen. »Ich weiß von Ihrer Forschung, Sir.«
William erstarrte für einen Moment, ging dann zur Tür und schloss die Tür. Dann baute er sich bedrohlich vor dem Arzt auf. »Ist das so?«
Polidori erklärte unbeeindruckt und eifrig nickend: »Oh, ja. Sie haben erstaunliche Ergebnisse mit Dämonenblut erzielt. Wenn man hier und da noch etwas …« Seine Stimme wurde durch Williams festen Griff an seine Kehle gestoppt.
»Keine Ahnung, woher Sie von meiner Forschung wissen, aber wie kommen Sie darauf, ich würde so etwas mit meinem Ungeborenen tun?«
»Es ist doch nur ein Fötus«, keuchte Polidori. »Es wird ihn stärken.«
»Und es mit dem Bösen infizieren!« William drückte noch fester zu.
»Nein, nein!«, zappelte Polidori unter zunehmender Luftnot. »Die Dosis macht das Gift, Sir William.«
Abrupt ließ William los und sah ihn skeptisch an.
»William«, mahnte Alice aus dem Hintergrund. »Du wirst diesem Hexenmeister doch nicht etwa zuhören?«
»Es ist die einzige Möglichkeit«, sagte Polidori, rieb sich den Hals und hob wichtig seine Augenbrauen. »Ihre Forschung war im Ansatz richtig. Aber Sie haben ihren Probanden das Blut niederer Dämonen verabreicht. Unreines Blut. Es sind dumme und unterentwickelte Geschöpfe, alles an ihnen ist verdorben. Genau wie ihre Probanden – zu alt, zu viel Leben. Doch was wäre, wenn sie das Blut eines echten Dämons an ungeborenem, noch gänzlich unverdorbenem Leben benutzen würden.«
»Ein echter Dämon?«
»Gefallene Engel. Mächtige Kreaturen, mit der Macht des Himmels und der Hölle, doch ohne die stumpfe und nichtsnutzige Verderbtheit der Kinder Liliths.«
»Sie sprechen von Erzdämonen. Niemand zuvor hat je einen der Gefallenen zu Gesicht bekommen«, sagte William.
»Das spricht nur für deren Intelligenz. Sie wissen, wie man sich im Hintergrund hält. Wenn ich es Ihnen doch sage, dass sie real sind. Unsterbliche, mächtige Wesen – schön und schrecklich zugleich. Einst geschaffen als Anführer der Himmelskrieger – Legionen von Engeln waren ihnen unterstellt. Als Luzifer den Krieg im Himmel entfachte, stellten sieben von ihnen sich auf die Seite des dunklen Engels und folgten ihm.«
»Das haben Sie doch erfunden, Polidori. Ich weiß, dass Sie nicht nur Arzt, sondern auch Dichter sind.«
»Papperlapapp«, sagte Polidori ungehalten. »Ich kann es beweisen.«
»Können Sie?«
»Ich kann beweisen, dass es sie gibt. Ich werde Ihnen das Blut eines Erzdämons beschaffen. Sie können es untersuchen und werden feststellen, dass ich recht habe.«
Alice hatte sich unter Schmerzen auf der Récamiere aufgerichtet. »Selbst wenn das, was Sie sagen, der Wahrheit entspricht, Polidori. Wie kommen Sie darauf, dass das Blut dieser gefallenen Engel nicht ebenso verdorben und böse ist.«
»Wie ich schon sagte. Die Dosis macht das Gift. Nur ein Tropfen für die Stärke. Gerade so viel, damit dieser Fötus überlebt und zu einem mächtigen Schattenjäger heranwachsen kann. Nicht mehr und nicht weniger. Nur ein Tropfen reinen Blutes. Mehr ist nicht nötig, um ihr Kind zu retten, ohne es zugleich mit dem Bösen zu infizieren. Und niemand muss je davon erfahren.«
William hatte seinen Probanden oft mehr als zwanzig Milliliter der dämonischen Flüssigkeit injiziert. Blut von Schattenweltlern oder niederen Dämonen. Das Ergebnis war stets dasselbe – Zunahme von Stärke und Schnelligkeit, aber ebenso oft Wahnsinn, Soziopathie oder grausame Entstellungen, wenn sie nicht gar sofort gestorben sind. Er hatte oft darüber nachgedacht, was wohl passieren würde, käme er an das Blut eines echten Engels heran. Das würde er natürlich nie wagen. Aber was, wenn das Blut eines gefallenen Engels sich gar nicht so sehr davon unterschied?
New York Institut – Gegenwart
Alec sah besorgt aus. Besorgter als sonst.
Jace verschränkte die Arme vor der Brust und beobachtete Clary, die seinen Blicken seit dem Vorfall am Hof der Seelie-Queen auswich. Jonathan kam zu spät zur Beratung und Isabelles quittierte das mit einem vorwurfsvollen Räuspern.
»Wir haben es schon wieder mit einem Großdämon zu tun«, begann Alec mit der Lagebesprechung.
»Großartig«, murmelte Jace. »Ich dachte, Großdämonen sind selten.«
»Beleth ist ein richtig hohes Tier. Laut den Aufzeichnungen des Rates befehligte er achtzig Legionen, war einer der sogenannten Mächte des Himmels und hofft darauf, seinen ursprünglichen Platz auf dem siebten Thron im Himmel zurückzuerlangen.«
»Unwahrscheinlich«, murmelte Jonathan. »Und ich habe noch nie von einem Beleth gehört.«
Alec nickte. »So geht es vielen. Beleth war einer der wenigen Getreuen Luzifers, die ihm nach dessen Fall aus dem Himmel gefolgt sind. Er ist als Wut- oder Zorndämon bekannt. Seinem Verhalten nach zu urteilen, macht er dieser Beschreibung alle Ehre. In drei Tagen hat er siebzehn verstümmelte Leichen hinterlassen. Seelies, Warlocks, auch ein Schattenjäger ist unter seinen Opfern. Er geht scheinbar wahllos vor.«
»Ein getreuer Luzifer?«, fragte Clary ungläubig.
»Vielleicht geht er nicht wahllos vor«, murmelte Jonathan.
»Kann sein. Beleth folterte seine Opfer, bevor er ihnen den Kopf abriss. Vielleicht ist er hier wegen des Kelches, wie Azazel es war.«
»Ist mir egal, was er will«, sagte Clary. »Mich interessiert nur, wie wir seinen Dämonenarsch zurück in die Hölle befördern.«
Jonathan war irritiert. Clarys Hass auf Dämonen war seit dem Vorfall mit Max gewachsen. Nicht unbedingt das, was er beabsichtigt hatte. Aber der Kleine hätte ihn beinahe auffliegen lassen.
»Was ist der Plan?«, fragte Isabelle.
Alec öffnete die Bereichskarte auf dem Monitor. »Es gibt ein Muster bei den Fundorten der Leichen. Er könnte also als Nächstes an einem dieser Orte auftauchen.« Er markierte zwei Stellen auf der Karte und blickte wieder in die Runde. »Wir teilen uns auf und erledigen den Mistkerl. Kann nicht so schwer sein. Alles in allem ist er auch nur ein Dämon. Izzy, du gehst mit Jace und Sebastian zum Central Park. Das Gebiet ist groß und unübersichtlich. Seid wachsam und haltet euch im Zweifelsfall zurück. Clary, du kommst mit mir. Magnus trifft uns vor Ort.«
Clary warf Jace einen merkwürdig unsicheren Blick zu. Jonathan Mundwinkel zuckten darüber amüsiert, was Jace nicht entgangen war. Überhaupt war er Sebastian Verlac gegenüber misstrauisch geworden. Etwas an ihm irritierte ihn zunehmend.
Einige Zeit später im Central Park
Siobhan fühlte ihre Beine nicht. Es war stockfinster. Ihre Sinne taub. Doch allmählich kam alles wieder. Schmerz war zuerst da. Wie glühender, stumpfer Stahl durchbohrte er ihren Körper. Ihr Körper verkrampfte sich. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, da scheinbar jedes Gefühl und jeder Gedanke, den sie jemals hatte, gleichzeitig auf sie einstürzte. Ihre Rückkehr hatte sie sich anders vorgestellt. Es kostet sie beinahe alles, um die Oberhand über dieses Chaos zu gewinnen.
Schon viel zu lange saß Siobhan an diesem Baum, doch es war ihr immer noch unmöglich aufzustehen, um sich zu orientieren, wo sie überhaupt war. Sie bemerkte Licht zwischen den Bäumen. Noch weit entfernt, aber es bewegte sich in ihre Richtung. Sie knetete weiter an ihren Beinen herum. Das Gefühl darin kam langsam wieder. Zu langsam, denn es war immer noch zu wenig, um aufzustehen, wegzurennen oder um sich zu verstecken. Vor wem oder was auch immer dort auf sie zukam. Atemwolken bildeten sich vor ihrem Mund. Sie hatte vergessen, wie kalt Kälte war. Zitternd rieb sie sich die Unterarme und versuchte erneut aufzustehen. In der Ferne bellte heiser ein Hund. Oder war es ein Wolf? Sie hatte immernoch keine Ahnung, wo sie war. Es konnte Idris sein, der Wald von Brocelyn – die Wölfe dort, waren alles andere als kuschlig.
»Verdammter … das ist doch … Bollocks!«, fluchte sie wie ein walisischer Hafenarbeiter.
Da hörte sie plötzlich ein leises Lachen. Kurz darauf stand jemand vor ihr. Groß, schlank, blond und ein verschmitztes Lächeln hinter freundlichen, blauen Augen. Diese Begegnung schockierte sie. Wann hatte sie zuletzt ein freundliches Gesicht gesehen? Sie wusste es nicht.
»Höre ich da etwa den vertrauten Klang der Heimat?«
Sein britischer Akzent war unüberhörbar. War sie zu Hause? War sie tatsächlich wieder in England? Sie bemerkte seine Runen und das schimmernde Schwert in seiner Hand. Ein Shadowhunter. Nun, es hätte schlimmer kommen können. Sie lehnte ihren Hinterkopf gegen den Baum und musterte ihn. Er verhielt sich arglos, freundlich, durchaus neugierig und weniger misstrauisch, als sie es von einem Shadowhunter erwarten würde.
»Sebastian! Hast du was gefunden?«, rief Isabelle, die herangeeilt kam, dicht gefolgt von Jace.
»Könnte man so sagen«, antwortete er.
»Das ist zumindest keine Leiche«, stellte Jace nüchtern fest. Er hockte sich hin und begutachtete Siobhan wie ein Jäger verletztes Wild. Ihr Haar wirkte im Licht des Mondes fast weiß. Ihre graublauen Augen hatten dieselbe Blässe. Eine Rune an ihrem Hals deutete darauf hin, dass sie eine Schattenjägerin war. Allerdings schien der Rest ihres Körpers runenfrei zu sein. Soweit er das beurteilen konnte. Sie wirkte fremd hier. Fehl am Platz.
»Wo kommst du her?«, fragte Jace.
Sie schwieg.
Jonathan entging nicht, wie sehr es auch in ihrem Kopf arbeitete. »Ich denke, etwas stimmt mit ihren Beinen nicht«, sagte er nüchtern.
»Wer bist du? Was machst du hier?«, fordert Jace sie erneut zu einer Antwort auf.
Sie starrte ihn kurz an und sagte: »Weißt du, dass du zwei verschiedenfarbige Augen hast?«
»Was?«
»Deine Augen? Du …«
»Im Ernst?«, unterbrach er sie verärgert und erhob sich.
Isabelle grinste. »Nein, das weiß er nicht. Jace gehört nicht zu denen, die mehrmals am Tag in den Spiegel schauen.«
»Habt ihr vergessen, weshalb wir hier sind?«, schimpfte der. »Wie auch immer. Bringen wir sie erst mal ins Institut.«
»Ist dir in den Sinn gekommen, dass sie der Dämon sein könnte?«, merkte Jonathan an.
Isabelle schüttelte verneinend den Kopf und tippte auf ihr Dämonenamulett, welches keine Dämonenaktivität anzeigte.
Siobhan richtete sich langsam auf. Endlich! Der Schmerz war fort, die Knochen geheilt. Sie wusste, was das bedeutete. Und es war nichts Gutes.
Ihr Blick traf Jonathans und bevor er oder Jace noch ein Frage stellen konnten, auf die sie nicht antworten wollte, sagte sie: »Siobhan Branwell.«
»Was?«
»Das ist mein Name.«
»Unwahrscheinlich«, murrte Jace und sein Blick verfinsterte sich.
Jonathan hob seine Schultern. »Soll mir recht sein.« Der Dämon in ihm war hellwach. Und es interessierte ihn, welche Lügen sie ihnen noch auftischen würde. Aber nicht hier. Nicht jetzt.
»Bringen wir sie ins Institut. Wir klären das dort«, sagte Jace. »Benötigst du Hilfe? Kannst du gehen?« Er wollte ihren Arm greifen. Doch die Berührung wehrte sie mit einer energischen Geste ab. »Okay«, sagte er, hob beschwichtigend die Hände und ließ sie vorgehen.
Man hatte ihr die Beine gebrochen, hatte – immer und immer wieder – dort, wo sie herkam. Jede Berührung der letzten zehn Jahre resultierte in Schmerz. Jede.