Es war nicht schwer für Jonathan herauszufinden, wo Jace den Spiegel versteckt hatte. Bisher war er nicht sehr bemüht gewesen, das Artefakt zu stehlen. Warum auch? Um Valentine dabei zu unterstützen, alles Dämonische auszulöschen? Sein Vater hatte ihm, als er ihn, wegen eines einzigen vermeintlichen Fehlers, in die Hölle verbannt hatte, ziemlich klargemacht, dass er auch für seinen Sohn keine Ausnahmen machte. Doch die Lage hatte sich geändert. Dieses Ding könnte ihm von Nutzen sein, da gleich mehrere Parteien darauf aus waren und er somit entscheiden würde, was damit geschieht. Kontrolle war alles.
Das Artefakt war in einer Gruft unter dem Zellentrakt deponiert. Dort, wo es kaum Kameras und nur wenige Wachen gab. Die Wachen waren keinerlei Herausforderung für Jonathan. Es würde eine Weile dauern, bis die anderen bemerken würden, dass der Spiegel gestohlen und die Wachen tot waren. Zeit genug, um seine Spuren zu verwischen. Falls später doch jemand etwas auf den Kameras sehen würde, dann wäre das nur Jonathans entstelltes Selbst. Seine Tarnung als Sebastian Verlac aufrecht zu halten, war ihm wichtig geworden. Wichtiger zumindest. Doch Jonathan hatte noch etwas zu erledigen, wenn er schon mal hier unten war. Es war mehr Neugier als Berechnung.
Die Zellen für die Gefangenen lagen ein Stockwerk über der Gruft der Kathedrale und Jonathan hatte dafür gesorgt, dass die Kameras auch dort, zumindest in dem Bereich, in dem Beleths Zelle sich befand, nichts aufzeichnen konnten. Als Sicherheitschef war er einer der Wenigen, der Zugang zu diesem Bereich hatte, und so öffneten ihm die Wachen auch bereitwillig die erste der schweren Iridium-Türen. Zwischen der ersten und der zweiten Tür befanden sich ein paar der alten Hochsicherheitszellen ohne Insassen und weitere Wachen.
Aber als Jonathan schließlich den Raum mit Beleths Zelle betrat, lief es selbst ihm kalt den Rücken hinunter. Und es war nicht nur die Kälte in diesem kleinen Raum. Es war das unaufhörliche Flattern und Summen, das aus der kleinen Zelle in der Mitte des alten Gewölbes drang. Dieses elektrische Summen entstand jedes Mal, wenn sich die umherschwirrenden Insekten zu einem festen Umriss versuchten zu formen, der jedoch sofort wieder von den scharfen Elektrumdrähten aufgelöst wurde.
Jonathan näherte sich dem quadratischen Container. Es gab eine große Scheibe an der Vorderseite der Zelle, durch die man hineinsehen konnte. Magisch versiegeltes Glas; ähnlich wie bei den anderen Zellen des Traktes.
»Ich denke, ich weiß jetzt, was sie so wertvoll für dich macht«, sagte Jonathan zu dem unruhigen Schwarm darin. Außer noch wilderem Geflatter tat sich jedoch nichts Bedeutsames hinter der Scheibe. »Ihre Fähigkeit gibt dir zurück, was du verloren hast«, fuhr er fort, hielt kurz inne und sagte dann mit bedeutungsvoller Miene: »Kontrolle.«
Plötzlich fielen alle Falter zu Boden und blieben dort reglos liegen. Jonathan trat neugierig näher. Er war inzwischen so dicht an der Scheibe, dass seine Nasenspitze fast das Glas berührte, als aus dem Nichts plötzlich eine Hand gegen das Glas gepresst wurde. Jonathan wich erschrocken zurück. Eine zweite Hand folgte. Aus dem leblosen Haufen Falter am Boden formte sich langsam der Rest des Körpers. Die messerscharfen Drähte schnitten in sein Fleisch, versuchten Beleths, sich langsam aufrichtenden, Leib zu zerteilen, doch er hielt seine Form und stand nun eisigen Blickes genau vor Jonathan. Es war ein grotesker Anblick, wie er sich, durchzogen von unzähligen Elektrumdrähten, mühsam zusammenhielt. Unvorstellbar, wie viel Macht für so etwas nötig sein musste.
»Beeindruckend«, gab Jonathan zu. »Es ist wohl nur eine Frage der Zeit, bis du es hier rausschaffst, oder?«
Beleth hatte sichtlich Mühe, seine Erscheinung zu halten, doch das hielt ihn nicht davon ab, Jonathan verächtlich anzulächeln.
»Was willst du, Shadowhunter?«
»Ich habe gehört, wie du sie genannt hast.«
Beleth lachte, löste sich unvermittelt in einen Schwarm Motten auf und setzte sich sogleich wieder zusammen. »Offensichtlich beschäftigt dich das sehr«, war seine höhnische Antwort. Dann löste er sich erneut auf.
Wütend schlug Jonathan gegen die Scheibe. »Ich rede mit dir, Dämon!«
Der Schwarm fiel wieder zu Boden und blieb dort einen quälend langen Moment liegen. Vermutlich tat Beleth das, um Kräfte zu sammeln.
Jonathan wurde nervös, er konnte sich nicht ewig hier aufhalten, ohne das Misstrauen der Wachen vor der Tür zu wecken.
Beleth setzte sich wieder zusammen und sagte: »Du denkst, sie hat mich gezähmt«, sein Grinsen wurde breiter. »Vielleicht ist es ja umgekehrt? Bist du sicher, dass ihr das richtige Monster gefangen habt?« Er lachte leise und zersprang dieses Mal in einen Schwarm tausender Fliegen, und wandelte seine Form noch ein paar Mal in alle möglichen Insekten, bis er schließlich wieder zu seiner, offenbar bevorzugten, Form zurückfand.
Jonathan blickte wütend auf den umherschwirrenden Schwarm schwarzer Nachtfalter. Das waren keine Antworten. Es waren nur noch mehr Fragen. Oder Lügen. Beleth war ein Dämon, was hatte er erwartet. Jonathan hatte es satt, nicht zu wissen, was vor sich ging. Valentine tat zwar gerne so, als hätte er alle Antworten, aber bisher hatte auch er, genau wie Beleth, nur noch mehr Verwirrung gestiftet. Und er konnte Siobhan nicht direkt fragen, was für ein Spiel sie spielte, ohne sich selbst zu verraten. Aber er hatte eine Ahnung, wer ihm Antworten liefern könnte, jemand, der genau das wollte, was Jonathan hatte – Yael.
Plötzlich kam eine der Wachen herein. »Alles in Ordnung, hier drin?«
Jonathan nickte freundlich. »Ja, alles in Ordnung. Was gibt es?«
»Wir haben ein Problem in einer der Zellen«, sagte die Wache.
»Okay«, antwortete Jonathan und folgte dem Schattenjäger durch die zwei Iridium-Türen, bis zum einfachen Zellentrakt. Auf dem Boden einer der Zellen lag Raphael direkt hinter der Scheibe und rührte sich nicht.
»Seit wann ist er so?«, wollte Jonathan wissen.
Die Wache deutete auf die Zelle gegenüber. »Kurz nachdem sie hergebracht wurde, fanden wir ihn so.«
Jonathans Kopf schnellte herum.
Siobhan saß dort auf einer Pritsche und blickte ihn unsicher an.
»Was …«, Jonathan sah wieder die Wache an. »Was macht sie hier drin?«
»Anordnung der Inquisitorin«, sagte der und zuckte mit den Schultern.
Jonathans Blick verfinsterte sich. »Aufmachen!«
Die Wache wich erschrocken zurück. »Das kann ich nicht. Die Inquisitorin hat ausdrücklich befohlen, nu...«
Jonathan schnellte vor und stand jetzt so dicht vor dem anderen Schattenjäger, dass der seinen stoßweisen Atem spüren konnte. Jonathans Blick war eisig und seine Körperhaltung mehr als bedrohlich. Er hatte heute schon ein paar Schattenjäger getötet, auf ein paar mehr, käme es jetzt nicht an. Die Wache stolperte zwei Schritte zurück und tat, was Jonathan befohlen hatte. Ohne den grimmigen Schattenjäger aus den Augen zu lassen, tastete die Wache nach dem Zahlencode an der Wand, tippte eine sechsstellige Nummer in das Panel und die Tür zu Siobhans Zelle öffnete sich. Erst jetzt ließ Jonathan von ihm ab und blickte wieder zu Siobhan, die nun in der Mitte der Zelle stand.
»Geh!«, sagte sie.
Er blieb stehen.
»Wenn die Inquisitorin dich hier sieht, wird si--«
»Wird sie was?«, fragte er grimmig und ging weiter auf sie zu. »Was ist passiert, warum bist du hier drin?«
Sie wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. »Du musst gehen. Sie wird dich bestrafen, wenn du gegen das Gesetz verstößt.«
»Ich gehe, wenn du mir sagst, warum du hier drin bist?«
Jonathan stand jetzt direkt vor ihr und er schien sich nicht wirklich über die Konsequenzen seines Verstoßes zu sorgen.
Siobhan seufzte, legte ihre Hände an seine Brust und sah ihn flehend an. »Ist doch egal, weshalb ich hier drin bin. Die Inquisitorin hat ihre Gründe. Nicht egal ist mir, wenn du deswegen Schwierigkeiten bekommst. Also geh.« Ihre Hände schoben ihn weit von sich. »Vertrau mir. Es wird sich alles aufklären, wenn sie erst mit mir gesprochen hat, Sebastian. Bitte, geh.«
Er wirkte unentschlossen. Ging wieder einen Schritt auf sie zu und sagte grimmig: »Wenn du bis zum Abend nicht aus dieser Zelle bist, werde ich mich darum kümmern.«
Siobhan sah ihn verständnislos an. »Warum tust du das? Du weißt doch gar nichts über mich. Überhaupt nichts.«
»Ich weiß genug«, sagte er und strich ihr mit beiden Händen die Haare, die sich aus ihrem Zopf gelöst hatten, hinter die Ohren.
»Sebastian!« Jaces energische Stimme holte ihn unsanft zurück ins Jetzt. Grimmig blickte er zur Tür, an der Jace mit ebenso finsterer Miene stand.
»Raus hier!«, sagte Jace zu Jonathan.
Siobhan spürte die Spannung zwischen den beiden und wollte es nicht noch schlimmer machen. »Bitte, ich brauche niemanden, der mich rettet«, sagte sie leise zu Jonathan. »Wirklich nicht. Vertrau mir, okay?«
Er berührte mit seinen Lippen kurz ihre Stirn und raunte: »Aber vielleicht brauche ich jemanden, der mich rettet«, und ging.
Als er zur Tür der Zelle kam, wich Jace nur so weit zur Seite, dass Jonathan geradeso vorbeikonnte. Jonathan würdigte ihn keines Blickes und streifte Jace äußerst unsanft an der Schulter.
Jace rollte mit den Augen und unterdrückte das Bedürfnis, dem arroganten Briten für diese wiederholte Respektlosigkeit eine reinzuhauen. Seit Branwell da war, schien Sebastian zunehmend außer Kontrolle. Vielleicht war er wieder auf Yin Fen. Das würde zumindest sein neuerdings unberechenbares Verhalten erklären. Jaces Blick ging wieder zu Siobhan.
»Stimmt es, was die Inquisitorin sagt?«
»Was sagt sie denn?«
»Du hättest deinen Vater getötet.«
»Sagt sie das?«
»Das ist keine Antwort auf meine Frage.«
»Bist du tatsächlich an der Wahrheit interessiert? Oder spionierst du nur für deine Granma?«
Jace seufzte frustriert und blickte zu Raphaels Zelle, wo sich inzwischen der Doktor um den Vampir kümmerte. »Was ist mit ihm passiert? Hast du etwas gesehen?«
Siobhan hob kurz die Schultern. »Er ist einfach umgefallen. Aber er ist ein Vampir, was soll schon sein. Er wird sicher wieder.« Kaum hatte sie es ausgesprochen, da öffnete Raphael die Augen und blickte etwas verwirrt um sich.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte Polidori.
Raphael wirkte etwas verwirrt. »Gut … ja, mir geht es … gut.«
Zwischen Jaces Augen bildete sich eine tiefe Furche. »Gut?«
Raphael rappelte sich auf und erklärte: »Ich meine … wirklich ausgesprochen gut.«
»Keinerlei Verlangen nach Nephilim-Blut?«
»Nein, absolut nicht. Ich weiß nicht, was ihr gemacht habt, aber es hat funktioniert.«
Jace vertraute der Sache immer noch nicht. Also nahm er sein Messer, schnitt sich damit tief in die Hand, ging zu Raphael und hielt ihm die klaffende Wunde direkt unter die Nase. »Was ist jetzt?«
Raphael schaute nun, selbst etwas verblüfft, auf den blutigen Schnitt direkt vor seinem Gesicht und verneinte kopfschüttelnd.
Jace ließ den Arm langsam wieder sinken. »Okay, Doc, eine Idee?«, wandte er sich an Polidori. Der Arzt schien genauso ratlos, deutete dann auf Siobhan und fragte: »Soll ich mich auch um sie kümmern? Sie sieht etwas blass aus.«
»Das wird nicht nötig sein, Doktor Polidori«, antwortete ihm Imogen Herondale stattdessen. Sie und zwei der Leibwächter, die sie aus Idris herbegleitet hatten, kamen den schmalen Gang entlang. Mit eisiger Miene blieb sie vor Siobhans Zelle stehen und musterte das Mädchen.
Polidori nickte und schwebte in weißem Kittel wie ein Gespenst zum Aufzug.
»Was macht dieser Vampir hier draußen?«, fragte Imogen mit strenger Miene.
Raphael wirkte verärgert, doch Jaces ermahnender Blick hielt ihn davon ab, in Gegenwart der Inquisitorin etwas Dummes zu tun oder zu sagen. Stattdessen ließ er sich widerstandslos in die Zelle bringen und wieder einschließen.
Imogen betrat Siobhans Zelle.
Siobhan konnte nicht anders, als an die hageren, langen Finger von Nosferatu zu denken. Kurz vor ihr machte die Inquisitorin halt und stierte ihr in die Augen, als würde sie dort etwas suchen.
Sie hielt dem eisernen Blick der Inquisitorin stand. Es war sogar Imogen, die dieses Blickduell vorzeitig beendete. Verärgert gab sie ihren Leibwächtern mit einer Geste zu verstehen, dass sie das Mädchen auf den Verhörstuhl setzen sollten.
Jace behagte das Ganze nicht. Er fühlte sich an das Verhör von Valentine in genau dieser Zelle erinnert. Aber das hier war nicht Valentine.
Die Wächter setzten die Schattenjägerin auf den Stuhl und schnallten ihre Handgelenke mit Lederriemen fest und gingen. Jace wollte gerade etwas sagen, als Imogen ihn drohend ansah und er sich augenblicklich zurücknahm. Er wagte es nicht, Siobhan in die Augen zu sehen. Seine Großmutter beschämte ihn. Aber da sie eben nicht nur seine Großmutter, sondern auch die Inquisitorin war, wusste er nicht, was er dagegen tun sollte.
Imogen baute sich mit verschränkten Armen vor Siobhan auf und blickte auf sie herab. »Ich hätte nicht gedacht, jemals wieder eine Branwell vor mir zu haben.«
»Und ich hätte niemals gedacht, dass die Herondales immer noch so selbstgerecht und verstockt sind wie zu meiner Zeit.«
»Sag mir, Siobhan«, entgegnete Imogen ungerührt. »Was habt ihr mit dem Kelch der Engel vor?«
Siobhan sah sie verständnislos an.
»Du kannst dir sicher vorstellen, dass wir Möglichkeiten haben, Antworten aus dir herauszubekommen.«
»Nicht, wenn Sie die falschen Fragen stellen.«
»Also weißt du etwas«, fauchte Imogen.
Siobhan lächelte müde. »Nein, aber ich besitze die Gabe logischen Denkens.«
»Du willst also behaupten, Yaels Diebstahl hat nichts mit deinem und Beleths plötzlichem Auftauchen zu tun?«
»Woher soll ich das wissen? Ich habe Yael Cauver seit über siebzig Jahren nicht mehr gesehen.«
Jace kannte Siobhan bereits besser, als er es sich eingestehen wollte und wusste augenblicklich, dass Siobhan die Wahrheit sprach.
Imogen hingegen …
»Was genau werfen Sie mir vor, Inquisitorin Herondale?«, fragte Siobhan. Ihr Blick ging kurz zu Jace, an dem gerade nichts souverän oder selbstsicher wirkte, wie es sonst der Fall war. Er wirkte eher, wie ein erschrockener Welpe, der nicht so recht wusste, was Frauchen von ihm wollte.
»Nun, vielleicht fangen wir damit an, dass du mir erzählst, wieso du deinen Vater ermordet hast?«
»Was lässt Sie annehmen, ich hätte ihn ermordet?«
Imogen zerrte jetzt eine alte Akte aus ihrer Tasche hervor, blätterte darin herum und sah Siobhan dann über den Rand ihrer Lesebrille verächtlich an. »Das Branwell Anwesen wurde nach dem Vorfall untersucht. Im Keller des Hauses weisen zahlreiche Symbole auf die unerlaubte Anwendung schwarzer Magie. Alles deutet auf die Beschwörung eines Erzdämons hin. William Branwells Leiche wurde neben einem weiteren Pentagramm gefunden, seine Kehle war aufgeschlitzt, sein Blut auf dem Boden verteilt. Neben der Leiche fand man die Mordwaffe und mit den Fingerabdrücken von Siobhan Branwell. Es ist davon auszugehen, dass sie ihren Vater getötet hat, um das oder ein weiteres, dunkles und nicht genehmigtes Ritual zu vollenden.« Imogen klappte die Akte wieder zu und sah Siobhan siegessicher an.
»Wir haben einen Dämon gefangen. Das ist alles. Egal, was ich ihnen jetzt sage, es macht doch ohnehin keinen Unterschied.«
Jace drängte sich plötzlich zwischen Imogen und Siobhan.
»Aber für mich macht es einen Unterschied. Ich will wissen, was damals passiert ist.«
Überrascht wandte Siobhan ihren Blick von Imogen ab, die nur widerwillig ihrem Enkel Platz gemacht hatte.
»Ich weiß, dass du keine Mörderin bist«, sagte er.
»Und wenn ich es doch bin?«
»Das glaube ich nicht. Das ist es nicht, was ich gespürt habe, als wir …«, er verstummte, blickte kurz verlegen zu Imogen und dann wieder zu Siobhan. »Du weißt schon. Also, willst du mir erzählen, was genau damals passiert ist, bevor irgendwelche Vermutungen dich auf ewig in den Guard bringen?«
Das wollte sie, aber es war klar, dass die Wahrheit keinen Unterschied für die Inquisitorin machen würde. Also schwieg sie.
Während Jace frustriert schnaufte, blickte Imogen verächtlich und voller Hass auf das Mädchen hinab. Jace bemerkte das, und wollte sie beschwichtigen. Doch, bevor Jace etwas zu Siobhans Verteidigung vorbringen konnte, zerrte Imogen sich ihren schwarzen Anhänger von der Halskette und presste ihn Siobhan auf den Handrücken. Das Elektrum brannte sich wie Salzsäure durch die obersten Schichten von Siobhans Haut und legte Muskeln und Sehnen darunter frei.
»Ich wusste es«, fauchte Imogen voller Abscheu.
Siobhans Reflex, ihre Hand wegzuziehen, wurde durch die Lederfesseln an ihren Handgelenken unterbunden. Der verzögert einsetzende Schmerz war so heftig, dass Siobhan, kurz aller Sinne beraubt, laut aufstöhnte. Benommen sah sie Jace schockiertes Gesicht und dann Imogens selbstgefälliges Lächeln. Siobhans Blick haftete an dieser boshaften, alten Frau. Oh ja, sie wollte ihr auch wehtun.
Imogen zuckte plötzlich zusammen, griff sich an den Hals, dann an die Brust, wieder an den Hals … es war, als würde sie einen Herzinfarkt erleiden und gleichzeitig ersticken. Panisch und hilflos zugleich bemühte Jace sich um seine Großmutter, die in starrer Angst immer wieder auf Siobhan deutete. Erst jetzt begriff Jace, machte einen Satz auf Siobhan zu, sah sie mit glasigen Augen an, zögerte … und schlug zu.