»Das Erste, was ein Shadowhunter in der Hölle verliert, sind die Runen, nicht wahr?«
Es war nur ein Flüstern in Siobhans Ohr, doch dann war es unangenehm präsent und so nah, als käme es aus ihr selbst. Sebastians Stimme wiederholte diesen Satz immer und immer wieder. Unnatürlich überlagerte sich seine Stimme, als wären es mehrere. Siobhan öffnete die Augen, doch es änderte nichts an der Finsternis um sie herum. Es war weder kalt noch warm, es war nichts – die absolute Leere. Nur diese Stimmen und ihr ungleichmäßiger Atem …
»So werden sie uns finden, Shadow. Still. Sei still!«
Jaces Stimme war lauter und eindringlicher als Sebastians. Sie versuchte, ihren Atem anzuhalten, doch es gelang ihr nicht. Im Gegenteil, ihre Atmung begann nun in ein panisches Japsen überzugehen. Das Blut rauschte so laut in ihren Ohren, dass es die Stimmen fast überdeckte.
»Siobhan!«
Noch eine Stimme. Sie war lauter, eindringlicher und so kalt wie das Blut, das gerade in ihren Adern gefror. Sie presste ihre Hände auf die Ohren und schmeckte Salz und Blut auf ihren Lippen.
»Du weißt, was du zu tun hast.«
Sie sank wimmernd die Knie. Ihre Arme hingen jetzt schlaff neben ihrem Körper und sie nickte.
»Vergiss nicht, was du zu verlieren hast. Bring ihn mir. Bring ihn mir zurück!«
»Verschwinde aus meinem Kopf!«, brüllte Siobhan, so laut sie konnte. Ihre Stimme überschlug sich, die Kehle brannte und ihre Worte lösten sich in krächzendem Husten auf.
»Siobhan! Wach auf!«
Erschrocken riss sie die Augen auf und brüllte Isabelle ins Gesicht: »Ich bin wach!«
Isabelle schreckte zurück und starrte sie mit ihren großen, braunen Augen an. »Was zur Hölle?«
Siobhan versuchte, sich zu orientieren. Ihr Blick irrte durch das Zimmer, Isabelle saß neben ihr und die Tür zu stand weit offen.
»Ich habe dich gehört«, erklärte Isabelle. »Hattest du einen Albtraum?«
Siobhan zweifelte daran, dass sie sich tatsächlich in diesem schönen Zimmer, diesem weichen und warmen Bett und in der Gesellschaft dieser Schattenjägerin befand, die sich wirklich um sie zu sorgen schien. Edom hatte mitunter sehr spezielle Methoden, jemanden wie Siobhan zu quälen.
»Hey«, sagte Isabelle mit samtener Stimme, nahm Siobhans Gesicht in die Hände und sah ihr in die Augen. »Es ist alles in Ordnung. Du bist in Sicherheit. Alles ist gut. Niemand wird dir etwas tun. Hast du verstanden?«
Der verstört ängstliche Ausdruck in Siobhans Gesicht brach Isabelle das Herz. Sie drückte das Mädchen an sich und sah sie so mitfühlend an, wie eine Mutter ihr krankes Kind. Siobhan wagte es nicht, auch nur einen Laut von sich zu geben. Was, wenn sie sich immer noch in dieser verderblichen Finsternis befand. Jedes Wort würde sie verraten, schlimmer noch, sie würde die Dämonen anlocken, während sie fast nackt und blind im Nichts kauerte. Ohne eine Möglichkeit, sich zu verteidigen oder wegzulaufen. Ein Wohin gab es an diesem Ort nicht. Sie würde die Dämonen nicht sehen können. Aber deren bestialischer Gestank, deren bebendes Knurren und das schleimige Schmatzen ihrer stinkenden Mäuler während sie sie lauernd umrundeten, das würde sie wahrnehmen.
»Siobhan, sieh mich an«, mahnte Isabelle erneut.
Und erst in diesem Moment fand Siobhans Geist zurück in diese Dimension. »Was machst du in meinem Zimmer?«, fragte sie.
Isabelle lächelte und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Ach, dem Engel sei Dank, da ist sie ja wieder.«
»Was?«
Isabelle winkte ab. »Du hattest einen Albtraum. Du hast mir echt, für einen winzigen Augenblick, etwas Angst eingejagt, Kleines.«
»Ich? Dir?«
»Ja. Kaum zu glauben, nicht wahr?«, schmunzelte Isabelle und erhob sich von Siobhans Bett. »Willst du mir davon erzählen?«, fragte sie.
»Wovon?«
»Von der Hölle.«
»Ich erinnere mich nicht«, hielt Siobhan an ihrer Lüge fest.
»Was ist mit dem Albtraum. Du bist schreiend aufgewacht.«
»Bin ich das?«
Isabelles Blick musterte sie nun argwöhnisch, doch Siobhan hielt diesem Blick stand. Dann hellte sich Isabelles Gesicht wieder auf. »Gut, dann erzähl mir etwas, aus der Zeit davor?«
»Die Zeit davor?«
»Ja. Ich weiß gar nichts über dich.«
»Die Shadowhunter-Datenbank soll sehr ausführlich sein, habe ich gehört.«
Isabelle setzte sich jetzt wieder an den Bettrand. »Mich interessiert nicht, was da steht. Ich will wissen, wer du wirklich bist und das verrät mir kein Computer.«
»Was willst du wissen?«
Isabelle lächelte vieldeutig. »Gab es da jemanden? Also damals, in deiner Zeit?«
»Wieso? Bist du interessiert?«, lenkte Siobhan ab.
»Was? Nein, ich meinte … wieso … ähm, wärst du interessiert?« Isabelle bekam rote Wangen und fügte hinzu. »Oh, ich fühle mich geschmeichelt, aber ich … also …« Sie verstummte und suchte nach den richtigen Worten.
Siobhan war froh, dass Izzy so leicht zu irritieren war.
»Nun erzähl schon«, lenkte Izzy ab.
»Da gibt es nichts zu erzählen.«
»War er oder sie ein Shadowhunter?«
»Nein.«
»Werwolf? Vampir? Hexenmeister? Nun mach es nicht so spannend.«
Siobhan sah sie irritiert an. »Wieso sollte ich und ein Unterweltler … ?« Sie verstand die Frage nicht. Zu ihrer Zeit war es Schattenjägern nicht gestattet, eine Beziehung mit jemand anderem, als einem Schattenjäger einzugehen. Eine Tatsache, an die ihr Bruder unbarmherzig vom Rat erinnert wurde.
Isabelle klopfte sich mit der flachen Hand an die Stirn. »Ich vergaß, damals gab es das Abkommen nicht.«
»Welches Abkommen?«
Isabelle berichtete über Valentines Aufstand vor Jahren. Ab dem Moment, wo der Name Morgenstern gefallen war, horchte Siobhan auf, ließ sich das jedoch nicht anmerken.
»Shadowhunter dürfen Unterweltler ehelichen?«
Isabelle rieb sich verlegen die Nase. »Na, ganz so ist es nicht. Aber zumindest werden derartige Beziehungen toleriert.«
Das Thema schien Isabelle nicht zu behagen.
Siobhan sah an Isabelle vorbei. »Mein Bruder wäre noch am Leben, hätte es das damals schon gegeben. Also heute natürlich auch nicht mehr, aber er … es wäre auf jeden Fall anders ausgegangen.«
»Willst du mir davon erzählen?«, fragte Isabelle betroffen.
»Der Rat hat ihm die Runen entfernen lassen und ihn verbannt, weil er einen Hexenmeister liebte. Für einen Shadowhunter zu dieser Zeit ein Todesurteil.«
Isabelle schluckte. Die Vorstellung, dass genau das gleiche Schicksal Alec hätte ereilen können, wären sie nur ein paar Jahrzehnte früher geboren worden, schnürte ihr die Kehle zu. »Das ist grausam«, raunte sie mit glasigen Augen.
Siobhan schwieg.
Isabelle wagte es nicht, noch weitere Fragen zu stellen.
»Was ist mit dir? Gibt es da jemanden?«, fragte Siobhan unvermittelt.
Isabelle dachte an Raphael und fühlte, wie sich ihr Magen schmerzhaft zusammenzog. »Nein«, log sie. »Ich bin frei wie ein Vogel.« Dann stand sie auf und hielt Siobhan ihre Hand entgegen. »Genug Trübsal geblasen. Es ist Zeit für ein kräftiges Frühstück. Du bist so blass und mager.«
Siobhan sah an sich herunter.
Isabelle bemerkte Siobhans zweifelnden Blick und schmunzelte. »Das war ein Scherz. Komm schon. Jace und Clary müssten bald zurück sein. Wir haben noch viel vorzubereiten, wenn der Plan funktionieren soll.«
Sebastian Verlacs Apartment
»Du bist ein Narr, Jonathan«, brüllte Valentine seinen Sohn an. »Du hättest sie töten sollen. Was, wenn sie dich verrät? Oder es schon getan hat?« Er zerrte an seinen Ketten und versuchte sich erneut, vom Stuhl zu befreien.
»Ich denke nicht«, sagte Jonathan gelassen. »Hätte sie etwas gesagt, dann wär hier schon Mister Selbstgerecht aufgetaucht, um mich zur Strecke zu bringen.«
»Wahrscheinlich warten sie, bis du wieder in das Institut zurückkehrst, um dich dort zu stellen. Komm schon, Junge. Sei kein Idiot. Binde mich los und ich löse das Problem für dich.«
»Oh ja, ich würde gern sehen, wie du dort hinausgehst und das Problem löst.« Er lachte zynisch. »Und du nennst mich einen Narren.«
Valentine seufzte kopfschüttelnd und gab es auf, an den Ketten zu rütteln. »Was ist denn so besonders an diesem Mädchen, dass du solch ein Risiko für sie eingehst?«
»Neugier«, sagte er. »Und … ich weiß nicht, ich habe das Gefühl, sie schon ewig zu kennen. Und auch wieder nicht.«
»Natürlich, nachdem, was du mir erzählt hast, wart ihr beide zur gleichen Zeit in Edom.«
Jonathan funkelte Valentine wütend an. »Was glaubst du, ist die Hölle? Ein Dorf, in dem jeder, jeden kennt? Eine lauschige kleine Gemeinde mit Grillabenden am Wochenende?«
Valentine hob kurz seine Mundwinkel. »Nun, Grillabende gab es da sicher …« Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden, weil sich Jonathans Seraphklinge in seinen Bauch bohrte. Sein Sohn lauerte schwer atmend über ihm und zog die Klinge quälend langsam wieder heraus. Sein Gesicht war zu einer hasserfüllten Fratze verzerrt, die Augen schwarz und leer.
Valentine stöhnte auf und blickte erstaunt an seinem Bauch hinunter. Aus einem kleinen Riss in seiner Kleidung lief Blut. Die Kleidung darüber sog es nicht schnell genug auf, so tropfte es bereits auf seine Oberschenkel und lief dann langsam seine Beine entlang bis auf den Boden.
Jonathan wischte die Klinge an Valentines Ärmel ab, richtete sich auf und beobachte fasziniert, wie das Leben langsam aus Valentines Körper lief und eine immer größer werdende Pfütze zu seinen Füßen hinterließ.
»Junge«, ächzte Valentine. Sein Ton wurde ungewohnt bittend. »Sohn! Hör zu. Ich kann dir helfen.«
Jonathan schnellte wieder auf ihn zu und presste seine Finger in die Wunde.
Valentine schrie auf.
»Wie willst du mir helfen, Vater, hm?« Seine Augen waren wieder tiefschwarz. »Wie du mir damals geholfen hast? Als du mich in dieses Monster verwandelt hast? Oder als du mich nach Edom verbannt hast?«
Valentine unterdrückte den reißenden Schmerz mit ein paar heftigen Atemstößen. Er japste: »Wärst du ein Monster, hättest du dieses Mädchen bereits getötet.«
Jonathan taumelte benommen zwei Schritte zurück. Die Worte seines Vaters trafen ihn wie ein Schlag ins Gesicht.
Valentine war gerissen. Sobald er eine Schwäche an seinem Gegenüber entdeckt hatte, stürzte er sich darauf und zerlegte sein Opfer in dessen Bestandteile. Er kannte die Schwächen seines Sohnes genau und deshalb hatte er auch nie befürchtet, dass Jonathan ihn tatsächlich töten würde. Diese plötzlich, aufgetauchte Schattenjägerin schien Valentines Pläne zwar etwas durcheinanderzubringen, aber sie offenbarte Jonathans größte Schwäche nur noch mehr – der Junge wollte akzeptiert werden, verstanden und geliebt, wie jedes andere Kind auf dieser Welt auch. Und da er diese Liebe nie von seinen Eltern bekommen hatte, musste er sie sich woanders holen. Seine Fixierung auf Clary war nicht wirklich überraschend. Doch Valentine hatte diese unnatürliche Art der Zuneigung schon lange mit Sorge betrachtet. Seine Schwester würde ihm nicht geben, was er wollte und sobald Jonathan sich dessen bewusst würde, würde er sie zerstören. Und alles Andere gleich mit. Valentine war sicher nicht der Vater des Jahres, aber ein Schicksal wie dieses wollte er Clary ersparen. Vielleicht hatte sich das Blatt aber nun gewendet. Diese neue Schattenjägerin begann nun auch Valentine zu interessieren. Durch sie könnte er Jonathan, und somit seine beste Waffe im Kampf gegen den Rat, vielleicht doch noch unter Kontrolle bringen.
»Jonathan, hör mir zu …«, säuselte Valentine benommen vom hohen Blutverlust, »Ich verstehe das. Du fühlst dich mit ihr verbunden. Und vielleicht seid ihr das auch, aber du wirst meine Hilfe benötigen. Denn sollte sie tatsächlich ein dunkles Geheimnis hüten, dann wird diese selbstgerechte Bande von Herondales und Lightwoods keine Sekunde zögern, die Kleine und ihren Dämon wieder dahin zu befördern, wo sie hergekommen sind.«
Jonathan starrte seinen Vater an.
Die Worte ›Die Kleine und ihr Dämon‹ zündelten in ihm wie Höllenfeuer. Er dachte an die Schattenrune an ihrem Hals und an die Möglichkeiten, die so eine Verbindung mit sich brachte. Vielleicht konnte er das auch? Diese Art der Bindung erforderte nicht unbedingt die Zustimmung des Gegenübers. Ein unheilvolles Lächeln schlich sich in sein Gesicht. Er zückte seine Stele, heilte Valentine und löste die Ketten.
»Ich helfe dir mit deinen albernen Insignien.«
Valentine rieb sich die schmerzenden Arme und Handgelenke und lächelte siegessicher.
»Aber, im Gegenzug möchte ich, dass du mir alle Informationen über den Branwell-Clan besorgst. Auch die unbequemen. Vor allem die. Alles!«
Valentine hob überrascht die Brauen. »Sagtest du Branwell?«