Magnus betrat das Institut widerwillig. Sein Vertrauen in die Politik der angeblichen Offenheit war erschüttert. Er hatte immer befürchtet, dass genau so etwas zwischen ihn und Alec kommen könnte. Vielleicht waren ihre Welten doch zu verschieden. Allerdings konnte er seine Gefühle auch nicht einfach so abschalten.
»Magnus, vielen Dank, dass du kommen konntest.«
Magnus hob die Brauen. »Zweimal an einem Tag. Ich habe zwar gesagt, ich werde dir mit diesem Dämon helfen, das heißt aber nicht, dass du mich wegen jeder Kleinigkeit herbestellen kannst.«
»Ich weiß. Es tut mir leid.«
»Hm«, machte er. »Ja, das habe ich schon einmal gehört.«
Magnus Anspielung auf die Lüge wegen des verschwundenen Seelenschwertes schmerzte Alec. Magnus war ziemlich nachtragend, was diese Sache betraf. Leider war er auch nicht der einzige Unterweltler, der das Vertrauen in die Schattenjäger verloren hatte. Eine weitere Sache, mit der Alec sich zurzeit herumschlagen musste. Seine Arbeit als Institutsleiter hatte er sich einfacher vorgestellt.
»Also, was gibt es, Alexander. Was ist so wichtig, dass ich dafür die Martini-Nacht im Pandemonium sausen lassen musste?«
Alec wartete, bis sie in seinem Büro angekommen waren. Dann erzählte er von der neuen Schattenjägerin und was er bisher von ihr wusste. Magnus saß die ganze Zeit nur da und hörte zu. Seine Mimik und seine Körperhaltung waren nicht zu deuten. Und als Alec fertig war, schwieg der Hexenmeister noch immer.
»Magnus?«
Erst jetzt blickte er auf, als wäre er gerade aus einem Traum erwacht.
»Hast du mir zugehört?«
»Natürlich habe ich das.« Er stand auf und stellte sich vor das Bücherregal, mit dem Rücken zu Alec.
»Was ist los?«
Langsam drehte der Hexenmeister sich wieder um. Sein Blick ging ins Leere. »Ich erinnere mich an die Branwells«, sagte er. »Tragische Familiengeschichte. Wirklich tragisch …«, er hielt inne und sah Alec mit ernster Miene an. »Und du sagst, sie erinnert sich nicht an Edom?«
»Nein, aber vielleicht kannst du ihre Erinnerungen wiederherstellen. Wir benötigen jede Information über diesen Dämon, die wir bekommen können.«
Magnus kam unvermittelt auf ihn zu. Seine Augen funkelten wie die einer Katze. »Du weißt ja nicht, wovon du da sprichst!«
Alec erschrak und war in gleichem Maß über Magnus Verhalten verärgert. »Dann klär mich auf!«
»Wenn sie sich nicht erinnert, dann aus einem triftigen Grund. Dieser Bindungszauber, das … dieses Ritual … niemand, sollte so etwas tun, hast du verstanden? Niemand! Es war falsch, es war grausam.« Er drehte seinen Kopf weg und versuchte, sich zu beruhigen.
»Wie meinst du das?«
Magnus setzte sich in einen der Sessel und faltete seine Hände, während seine Augen Alec bis ins Mark durchdrangen. »Für so einen Zauber bedarf es einer Menge dunkler Magie. Wirklich dunkle und mächtige Magie. Ehrlich gesagt hätte ich nicht gedacht, dass das funktioniert. Ich kenne keinen Hexenmeister, keine Hexe, die so etwas bewerkstelligen würde.«
Das war nicht ganz richtig.
»Meinst du, sie hat gelogen?«
»Das kann ich erst sagen, wenn ich sie gesehen habe. Wie sieht sie aus?«
»Wie sie aussieht?« Alec war irritiert.
»Ist sie gealtert?«
»Keinen Tag. Ein Nebeneffekt von Edom?«
»Nein«, sagte Magnus. »Edom würde die Alterung nicht verlangsamen oder ganz aufhalten. Sie war jedoch über siebzig Jahre an einen unsterblichen Dämon gebunden, sicher ist das der Grund. Glaub mir, dass sie ihre Erinnerung daran verloren hat, ist ein Segen für sie.«
ᛟ
Isabelle stand schon eine Weile in der Tür und beobachtete Siobhan bei den Versuchen, etwas zum Anziehen zu finden. Siobhan hob eine schwarze Jeans in die Höhe und sah Isabelle fragend an. »Kann man sich damit bewegen?«
Isabelle gab ihre lässige Haltung auf und schmunzelte. »Zieh das hier dazu an.« Sie hielt ihr ein passendes Shirt entgegen, das aus dem ebenso seltsam dehnbaren Stoff war wie die Hose. Siobhan sah sie ungläubig an, hatte aber zu viel Respekt vor der selbstbewussten Brünetten. Also zog sie sich an und stand nun zweifelnden Blickes vor Isabelle.
»Das ist überhaupt nicht bequem«, murrte sie.
Isabelle biss sich amüsiert auf die Unterlippe. Die Ärmel des Shirts waren zu lang für die kleine Engländerin. Izzy schob sie etwas höher und sagte: »Du gewöhnst dich schon daran«, als ihr Blick auf die runenfreie Haut der Unterarme fiel. Sie konnte ihre Neugier nicht länger zurückhalten.
»Was ist mit deinen Runen passiert? Und was ist das da für eine an deinem Hals? So eine habe ich noch nie gesehen. Ich will jedoch nicht behaupten, dass ich alle Runen des Grauen Buches kenne. Einige darin sind nur wenigen Auserwählten vorenthalten.«
Siobhan zog ihren Arm ruckartig aus Isabelles Hand und sah sie misstrauisch an.
»Tut mir leid«, sagte Isabelle, »Ich wollte ni...«
Unvermittelt ging Siobhans Blick an Isabelle vorbei. Ihre Pupillen weiteten sich schlagartig. Isabelle drehte sich um und sah ihren Bruder mit Magnus hereinkommen. Der Hexenmeister lächelte, doch Isabelle kannte den Hexenmeister gut genug, um zu wissen, dass das kein gutes Lächeln war. Sie sah fragend zu Alec. Der gab ihr nur mit einer unauffälligen Geste zu verstehen, jetzt keine Fragen zu stellen.
Magnus ging auf Siobhan zu wie jemand, der nicht sicher war, ob sein Gegenüber angreifen oder flüchten würde. »Hi, Siobhan«, sagte er mit sanfter Stimme und hatte große Mühe, nicht sofort mit allem herauszuplatzen, was er von ihr wissen wollte.
»Ich bin Magnus Bane. Sicher erinnerst du dich nicht an mich.«
Sie rührte sich noch immer nicht. Sah ihn nur an. Ihre Miene zu deuten, war selbst für ihn schwer. Doch dann lächelte sie. Verhalten zwar, aber es schien ein freundliches Lächeln. »Ein Hexenmeister? Hier im Institut?«
»Schätzchen, glaub mir, ich wäre gerade auch lieber woanders.«
Er sah kurz zu Alec, der etwas genervt mit den Augen rollte.
»Ich erinnere mich an deinen Vater William«, sagte er. »Du bist seine Jüngste, nicht wahr?«
Sie nickte.
»Dein Vater jagte Beleth sechs Jahre lang.«
Sie lächelte immer noch dieses merkwürdige Lächeln.
»Diesen mächtigen Dämon auf diese Art zu verbannen, war sehr mutig. War das deine Idee oder die deines Vaters?«
»Die meines Vaters.«
Magnus suchte in ihren Augen nach einem Anzeichen von Lüge, doch er fand nichts darin. Aber er fand auch nichts anderes darin. Was genauso beunruhigend war. Er hatte die Familie damals in London zum ersten Mal getroffen. Siobhan war etwa vier Jahre alt gewesen. Sie war das freundlichste und unbekümmerteste Geschöpf, dem er jemals begegnet war. Und das in einer Zeit, in der es kaum Freundliches oder Unbekümmertes gegeben hatte. Er sah auf die Rune an ihrem Hals.
»Weißt du, wie Beleth aus Edom entkommen ist?«
»Wie ich schon sagte, ich erinnere mich nicht an Edom.«
Sie fasste sich – offenbar unbewusst – an die Rune auf ihrem Hals. Seine Augen wurden schmaler. Er trat einen Schritt zurück, studierte die Rune für einen Moment und sagte schließlich: »Wo du hingehst, da gehe ich hin. Wo du bleibst, da bleibe ich.«
»Was?«, sagten Alec und Isabelle fast zeitgleich. Jeder Shadowhunter kannte diesen Schwur.
»Ja, so ist sie herausgekommen. Ihre Verbindung zu Beleth hat ihn nach Edom gezogen. Und als er entkam, hat sie das ebenfalls befreit.«
»Verbindung zu Beleth?«, wiederholte Isabelle erschrocken.
»Lass dir das von deinem Bruder erklären«, murmelte Magnus. Dann zeichnete er Siobhans Rune in die Luft. Golden schimmernd flackerte die magische Projektion des Symbols im Raum. »Kommt sie euch denn nicht bekannt vor?«, fragte Magnus.
Beide starrten auf die Rune. Magnus seufzte entnervt und machte eine weitere ausschweifende Handbewegung. Er spiegelte die Rune horizontal.
»Und jetzt?«
Alec trat näher. Jetzt schien sie ihm schon vertrauter.
Magnus spiegelte die Rune erneut. Diesmal vertikal.
Isabelles Augen weiteten sich. »Das ist eine Parabatai-Rune!«
»Ja. Nun ja«, sagte Magnus. »So etwas in der Art. Eine Schattenversion davon.« Sein Blick ging wieder zu Siobhan, die plötzlich abwesend wirkte.
»Hey, ist alles in Ordnung?«, fragte Isabelle besorgt.
Siobhan war kreidebleich und schwankte etwas.
»Vielleicht sollte sie sich etwas ausruhen«, sagte Alec.
Isabelle war über Alecs zurückhaltende Art verwundert. Sonst war er das Misstrauen in Person. Vor allem, wenn es um plötzlich auftauchende Shadowhunter ging, wie es bei Clary oder Sebastian der Fall war. Aber aus irgendeinem Grund schien Alec der Engländerin zu vertrauen.
Magnus hingegen wirkte angespannt. Geradezu verstört.
Und das wiederum verstörte Izzy.
Sebastian Verlacs Apartment
»Was soll das werden?«, fragte Valentine.
Jonathan legte das Messer weg, stützte sich mit ausgestreckten Armen auf dem Küchentresen ab und sah ihn drohend an.
»Wonach sieht es denn aus?«
Valentine hatte während Jonathans Abwesenheit mehrfach versucht, sich von diesem Stuhl und den Fesseln zu befreien, doch sein Sohn hatte nichts dem Zufall überlassen und dafür gesorgt, dass Valentine Morgenstern nirgendwohin ging. Dabei hatte er zuerst gedacht, jemand seiner Anhänger hätte ihn vor der Verlegung nach Idris, und somit vor der sicheren Todesstrafe, bewahrt. Stattdessen war es Jonathan, der nur lieber selbst seine Rachegelüste an ihm abreagierte. Die Art, wie raffiniert, hinterhältig und kaltblütig Jonathan bei Valentines Befreiung vorgegangen war, machte ihn sogar etwas stolz. Und es war das beste, was ihm in dieser Situation passieren konnte. Er hatte den Jungen großgezogen, er wusste, wie man ihn manipulierte.
»Wenn du vorhast, uns etwas zu kochen, solltest du bedenken, dass ich zum Essen meine Hände benötigen werde.«
»Ich koche nicht für dich.«
»Nicht?«
Jonathan sah ihn kurz misstrauisch an und machte dann weiter. »Nein.«
»Wenn du Besuch erwartest, nehme ich an, du versteckst mich im Schrank, wie du es mit der armen Seele Verlac wochenlang getan hast?«
»Glaub mir, Vater, würde ich Besuch erwarten, würde ich dich an einem wesentlich ungemütlicheren Ort verstecken.«
»Also kein Besuch«, sagte Valentine und beobachtete seinen Sohn einen Moment. »Ist das für jemanden im Institut? Für Clary?«
»Nein.«
»Isabelle Lightwood?«
Jonathan verneinte kopfschüttelnd.
»Jace?«
Wütend knallte Jonathan nun das Messer auf den Tisch, stapfte auf Valentine zu, packte ihn am Hals und drückte gerade so fest zu, dass der gerade noch atmen, aber nicht mehr sprechen konnte. Valentine konnte die Hitze Jonathans unbändigen Zornes sogar physisch spüren. Die Haut an seinem Hals begann zu brennen, als würde jemand ein heißes Bügeleisen daranhalten. Genauso unvermittelt wie er über Valentine hergefallen war, ließ Jonathan wieder von ihm ab und widmete sich weiter der Zubereitung des Essens. Kurz war es still zwischen den beiden. Aber Valentine war niemand, der so schnell aufgab.
»Ich wusste nicht, dass du kochen kan...«
»Das ist für jemand anderen«, unterbrach Jonathan seinen Vater entnervt.
»Jemand anderen?«
Schweigen.
»Hm«, machte Valentine. »Ist sie ein Shadowhunter?«
»Sie ist wie ich«, sagte Jonathan.
»Niemand ist wie du, mein Sohn.« Und er musste es wissen, denn er hatte ihn geschaffen.
»Wie heißt sie?«
»Siobhan.«
»Woher kommt sie?«
Jonathan lächelte in sich versunken. »Direkt aus der Hölle.«
Valentines Mundwinkel zuckten irritiert und amüsiert zugleich.
»Es gibt keine anderen Shadowhunter wie dich.«
»Ich weiß«, sagte Jonathan, lächelte immer noch und schnippelte unbeirrt weiter. »Aber sie hat ein Geheimnis. Und ich denke nicht, dass es etwas ist, was den anderen gefallen wird. Ganz und gar nicht.«
Valentine bemerkte Jonathans Schadenfreude. »Meinetwegen, aber inwiefern hilft dir das, deine Pläne umzusetzen?«
»Meine Pläne?«
»Nun, du hast das Schwert. Du weißt sicher, wo der Kelch ist. Fehlt nur noch der Spiegel. Ist dir überhaupt klar, was für eine Macht dir die Insignien der Engel verleihen werden?«
Es war ihm bewusst. Er war jedoch nicht daran interessiert. Rache an seinem Vater, das war bisher das Einzige, was Jonathan angetrieben hatte, seit er wieder hier war. Allmählich begann er jedoch den Reiz daran zu verlieren, seinen Vater zu foltern.
»Du könnest Clary haben. Oder deinen Körper vom Dämonenblut reinige…«
»Reinigen?«, unterbrach Jonathan ihn.
»Hast du noch nie darüber nachgedacht, wie es wäre, dein Leben zurückzubekommen? Junge, du bist so nah dran, alles zu bekommen, was du dir je erträumt hast.«
»Was weißt du schon über meine Träume? Ich bin dir völlig egal. Du bist besessen von dem Gedanken, die Unterwelt zu vernichten. Das ist alles, was dir wichtig ist. Weder ich, noch Clary oder sonst jemand interessiert dich.«
»Wenn du mich so sehr verachtest, Sohn. Warum hast du mich dann noch nicht getötet?«
»Gerade, weil ich dich so sehr verachte.«
Valentine seufzte und sagte mit nun sanfter und väterlicher Stimme: »Du siehst das völlig falsch. Ich liebe meine Kinder. Mehr, als du dir vorstellen kannst. Und wer sagt, dass wir nicht alles haben können?«
Jonathan schwieg, dann sah er seinen Vater wieder mit diesem verschlagenen Lächeln an. Valentine hätte seinen linken Arm gegeben, um zu wissen, was gerade im Kopf seines Sohnes vor sich ging.