Um die Angst vor dem Monster unter dem Bett zu verlieren, muss man manchmal selbst zum Monster unter dem Bett werden.
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Wenn Engel fallen – so sagt man – weiß die ganze Hölle darüber Bescheid. Doch Siobhans Fall schien sich nicht in Edom herumgesprochen zu haben. Was für die Engel galt, traf wohl nicht auf die Nephilim zu.
Sie versuchte, sich zu bewegen, doch jeder Muskel ihres geschundenen Körpers schien gefroren, jeder Knochen gebrochen und jeder Gedanke war auf nur ein einziges Gefühl reduziert – Schmerz. Unsäglicher, alles verzehrender Schmerz. Sie öffnete ihren Mund zu einem Schrei, doch außer einem Schwall Blut kam nichts heraus. Sie starrte zitternd auf das langsam schwindende Licht weit oben – unerreichbar von nun an. Wer hätte gedacht, dass der Fall tatsächlich ein physischer, Knochen-zertrümmernder Aufprall auf den kalten, harten Boden der Hölle war.
Sie tastete mit klammen Fingern nach ihren gesprungenen Lippen. Tränen liefen ihr aus den Augenwinkeln, Blut aus den Ohren. Sie hatte den Eintritt in die Hölle überlebt. Mehr oder weniger. Kein ewiges Feuer, das sie verzehrte oder Scharen von Dämonen, die über sie herfielen. Nicht einmal furchttriefende Finsternis. Nein, es war vielmehr, wie an einem wolkenverhangenen Tag an der südenglischen Küste – grau, nasskalt und windig.
Allmählich fühlte sich ihr Körper nicht mehr so zertrümmert an. Er schien sich auf unnatürliche Art und Weise zu regenerieren. Sie konnte ihren Kopf bereits zur Seite drehen und erkannte die Straße, auf der sie lag. Genau wie die Häuser und die kleinen Geschäfte drumherum. Es war das düstere Abbild der kleinen Straße in London, in der sie gewohnt hatten. Nicht weit vom Institut entfernt. Sie konnte die Spitze der Kathedrale sogar von hieraus sehen.
Und dennoch war alles anders.
Es fehlten die kleinen Törtchen in der Auslage der Bäckerei, das warme Licht des gemütlichen Cafés an der Ecke, die Autos am Straßenrand, das Surren der antiken Straßenlaternen, Farbe, Leben – es fehlte Leben. Das hier war die ausgestorbene, kalte und verlassene Version einer Welt, in der schon lange nichts Gutes mehr existierte. Siobhan wusste, dass die Hölle – die Reiche der Hölle – nur eine von vielen Parallel-Dimensionen ihrer Welt war – eine düstere Schattendimension, in der das Böse die Oberhand gewonnen hatte und alles Gute restlos ausgelöscht war.
Würde das mit ihr auch geschehen? Würde alles, was sie noch menschlich machte, verblassen, wie die Farbe aus dieser Version von London? Würde sie selbst zu einem Dämon werden, wie jeder gefallene Engel seit Anbeginn der Zeit? Oder würde sie hier einfach nur bis in alle Ewigkeit existieren, als … was auch immer sie war?
Plötzlich flammte die frische Schattenrune an ihrem Hals auf und brannte sich so tief in ihr Fleisch, dass sie sich am Boden krümmte wie ein Fötus im Mutterleib. Sie presste ihre Hand auf die Rune. Aber sie fühlte sich nicht heiß oder glühend an. Es brannte in ihr und kroch wie eine siedend heiße Schlange unter jeden Zentimeter Haut. Dieses Feuer ließ jede ihrer Schattenjägerrunen verblassen. Sie fror nicht mehr, obwohl der eisige Wind immer noch da war. Er machte ihr nur nichts mehr aus. Genau wie Schmerz war Kälte einem sehr viel mächtigeren Gefühl gewichen – Zorn. Es war Beleth. Sie spürte seine Ankunft in Edom. Langsam erhob sie sich und betrachtete das Blut an ihren Händen. Nicht ihr Blut, das ihres Vaters. Sie hatten es geschafft. Ihre Opfer waren nicht vergebens gewesen. Beleth war nun ebenso in dieser Dimension gefangen. Irgendwo. Hoffentlich weit weg von ihr.
Mit einem Kraftakt schaffte sie es aufzustehen. Sie kannte sich hier aus. Es war zwar nicht dasselbe London, das sie kannte, aber es war das Gleiche. Also würde es auch hier dieses Haus am Ende der Straße geben, dass einst ihr Zuhause war.
Es sollte zehn irdische Jahre dauern, bis sie dort ankam.
Doch Zeit hatte in Edom eine andere Bedeutung. Gefangen in einem, sich immer wiederholenden, Alptraum fand sie sich jedes Mal, wenn sie die viktorianische Stadtvilla mit der blauen Tür fast erreicht hatte – Blut atmend und mit zertrümmerten Knochen – wieder dort auf der Straße liegend, wo sie gefallen war.
Sie fiel genau 10950-mal, bevor es ihr endlich gelang, diese verdammte Tür zu öffnen. Doch sogleich bereute sie, nicht einfach auf der Straße liegen geblieben zu sein. Lieber auf immer und ewig, blutend und mit zertrümmerten Knochen dort, als zu sehen, was sie jetzt sah.
Ruckartig sog sie zu viel Luft in ihre Lungen und erstarrte. Der in der Mitte weit geöffnete Körper von William Branwell war komplett ausgeweidet und wie eine Fledermaus auf ein hölzernes Gestell gespannt. Seine toten, leeren Augen starrten sie an, während etwa ein halbes Dutzend Dämonen sich gierig an seinen Innereien labte. Solche Dämonen hatte sie noch nie gesehen. Ihre Körper waren eine groteske Mischung aus Mensch und Drache, ihre lederartige und dennoch fast durchsichtige Haut, war faltig und feucht. Sie sonderten den Geruch von Verwesung ab und ihre Augen waren dunkle, leere Löcher. Genau wie ihre zahnlosen Münder. Gierig und geräuschvoll sogen sie Gedärm in diese widerwärtigen runden Öffnungen und spuckten sich gegenseitig an, wenn sie es zu hastig taten. Siobhan zitterte so heftig, dass der Dielenboden unter ihren Füßen knarrte. Die dunklen, glotzenden Augen der Monster richteten sich nun auf sie. Siobhan hatte keine Waffen hier in Edom und ihre Kleidung bestand nur noch aus ein paar blutigen Stofffetzen. Der Gedanke, dass diese ekelerregenden Kreaturen sich gleich auf sie stürzen und das Gleiche mit ihr, wie mit ihrem Vater machen würden, ließ sie stoßweise und unregelmäßig atmen. Was, wenn sich auch das ebenso immer und immer wiederholte, bis sie auch den letzten Rest ihres ohnehin schon müden Verstandes verlor?
Wimmernd sank sie auf die Knie und erwartete ihr unausweichliches Ende. Die Kreaturen schlichen um sie herum wie Raubtiere um verletzte Beute. Sie hatten es nicht eilig. Als der Erste schließlich einen Satz auf sie zu machte, wurde er von ihrem festen Griff um seinen dürren klebrigen Hals gestoppt. Es war mehr ein Reflex als eine gezielte Abwehr. Doch beide, Siobhan und der Dämon, waren gleichermaßen überrascht von dieser Wendung.
Die vermeintlich hilflose Beute stellte sich als ein wehrhaftes Wesen heraus. Und nicht nur das. Hätte das Monster Augen, wären sie ihm jetzt wohl aus den Höhlen gesprungen. Siobhans Griff um seinen Hals war so kraftvoll, dass alles, was sich unterhalb seines Kopfes befand, nur noch hilflos herumzappelte. Siobhan fühlte, wie diese unselige Kraft in ihr zu wuchern begann. Sie sprang auf und wirbelte herum, nachdem sie den nur noch röchelnden Dämon gegen die Wand geschleudert hatte. Ja, das fühlte sich gut an! Ein linkisches Lächeln schlich sich in ihr Gesicht. Dunkle, adrige Linien überzogen jetzt ihre Hände und Unterarme. Sie betrachtete sie erstaunt und widmete sich nun den anderen. Die hielten sie immer noch umzingelt, fauchten und spuckten sie an. Das schürte ihre Wut nur noch mehr. Also griff sie einfach blind in das Gemenge aus ekligen Armen, Beinen und feisten Wänsten und riss so lange daran herum, bis sich das, was auch immer sie gerade in der Hand hatte, laut schmatzend, von deren Körpern löste. Das wiederholte sie unzählige Male.
Es war ein Massaker, welches an Abartigkeit nur noch von dem grausigen Gekreisch der Dämonen übertroffen wurde. Bis sich nichts mehr regte.
Siobhan stand, über und über mit Körperflüssigkeiten und Dämonenschleim besudelt, in der Mitte ihres alten Wohnzimmers – oder dieser Version davon – und schnaufte wie ein Stier in der Manege. Woher sie diese Kraft hatte, ahnte sie. Doch jetzt war nichts mehr davon übrig. Zu Tode erschöpft sank sie wieder auf die Knie. War es das? War das jetzt ihr Leben? Eine Existenz, bestimmt durch den täglichen Kampf ums Überleben, der sie mehr und mehr in das verwandeln würde, was sie geschworen hatte zu bekämpfen? Oder gehörte sie am Ende genauso hierher, wie jedes dieser Wesen, das sie gerade getötet hatte. Der einzige Unterschied war, dass man es ihr nicht ansah. Noch nicht.
Ihr Blick glitt über die leblosen Kreaturen zu ihren Füßen. Sie verstand diese Wesen und warum sie waren, wie sie waren. Es war das unausweichliche Ende für jede Kreatur, die in eine Welt wie dieser geboren wurde oder auf Ewigkeit existieren musste.
»Ich wusste schon am Tag unserer ersten Begegnung, dass du außergewöhnlich bist. Und da warst du noch nicht einmal geboren.«
Siobhan riss ihren Kopf in die Höhe und sah jemanden in der Tür stehen. Seine Umrisse waren unscharf, überhaupt war alles sehr unscharf. Sie rieb sich Dämonenspeichel aus den Augen und sah ihn nun deutlicher. Seine ebenmäßigen, symmetrischen Gesichtszüge, das helle und freundliche Azur seiner wachen Augen und die geschwungenen Lippen, auf denen sich jetzt ein Lächeln formte, das nur ein Engel lächeln konnte.
»Beleth«, sagte sie und ließ ihren Kopf wieder sinken. »Weißt du, die Hölle ist riesig, aber nein …«, sie verstummte und schüttelte müde den Kopf.
Er schnaufte amüsiert und trat etwas näher, sichtlich darauf bedacht, nicht in einen der zerrissenen Körper zu treten.
»Ist schon ein wenig eklig«, sagte er mit gerümpfter Nase. »Mit denen hatte ich auch schon zu tun. Wirklich ganz dumme und widerwärtiger Kreaturen.«
Siobhan blickte ihn nun mürrisch an. Er lachte leise, hockte sich vor sie hin und streckte seine Hand nach ihrem Gesicht aus. Sie zuckte zurück. Siobhan wusste, wer Beleth war und wozu er imstande war. Auch seine Spielchen waren ihr bekannt. Der schöne Dämon, sanft und freundlich, wiegt er seine Opfer in Sicherheit, um ihnen im nächsten Augenblick, die Kehle, das Herz oder ein anderes lebenswichtiges Organ aus dem Leib zu reißen. Vorzugsweise so schnell, dass man in den letzten Sekunden des Bewusstseins noch mitbekam, um welches Organ es sich handelte.
Beleth wirkte plötzlich verärgert. »Du denkst, ich würde dir etwas tun?«
Siobhan schwieg. Sie wusste, dass es so war.
Er ließ seine Hand wieder sinken, erhob sich und ging ein paar Schritte, bis zu der grotesken Verunstaltung ihres Vaters.
»Hübsch, nicht wahr?«, sagte er.
Ihr hasserfüllter Blick, schien ihn wieder zu amüsieren.
»Du hast vergessen, wer dir in Frankreich das Leben gerettet hat, Liebes. In diesem beschaulichen Dörfchen. Damals, als die Wölfe deine Familie in Stücke gerissen haben. Keine Sekunde haben sie daran gedacht, dich in Sicherheit zu bringen. Deine Mutter und Schwester waren zu sehr damit beschäftigt, diese dummen Irdischen vor diesen noch dümmeren Wölfen zu beschützen.«
Abrupt stemmte Siobhan sich auf, stampfte auf ihn zu und stand nun dicht und mit geballten Fäusten vor ihm. »Sie haben getan, wozu wir bestimmt sind. Und ich bin eine Dämonenjägerin wie sie.«
»Du warst sechs Jahre alt, kleine Siobhan. Ohne mich wärst du Hundefutter.«
Siobhan kämpfte mit den Tränen. Sie hatte so vieles seitdem verdrängt. Es war leichter gewesen, überhaupt nicht mehr zu sprechen als über das, was in Frankreich tatsächlich war.
Beleth hob ihr Kinn und ihren Blick damit so, dass sie ihm in die Augen sehen musste. Nach allem, was sie seit ihrem Eintritt in die Hölle hatte durchmachen müssen, war das … nicht unbedingt das Schlimmste. Der Blick des Engels, der er einst war, war friedlich und rein. Trügerisch, ermahnte sie sich.
»Ich habe dich nach Edom verbannt«, sagte sie leise. »Du wirst mich dafür leiden lassen, denn das ist deine Natur.«
»Wahrscheinlich, fy Nghariad«, sagte er flüsterleise, sein Lächeln schwand und etwas anderes kam zum Vorschein. Doch sie fürchtete sich nicht mehr. Nicht vor ihm. Und so standen sie, knöcheltief im Blut und den Eingeweiden ihres Vaters und den dampfenden Kadavern unzähliger Dämonen, und blickten sich lauernd in die Augen.
Ja, sie erinnerte sich wieder an Beleth und an jede, ihrer Begegnungen.
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Isabelle war auf dem Weg zum Trainingsraum, als Sebastian, mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen, an ihr vorbeiging. Sie wusste, warum das so war, und sie gönnte es den beiden aus tiefstem Herzen.
Siobhan bemerkte Isabelle gar nicht, als diese den Raum betrat.
Isabelle schmunzelte, beobachtete sie einen Augenblick und sagte: »Na? Ein wenig ins Schwitzen gekommen beim Training?«
Siobhan zuckte zusammen und ließ fallen, was sie gerade in der Hand hatte.
»Du hast mich erschreckt.«
»Ach was. Ist mir gar nicht aufgefallen«, erwiderte Isabelle und blickte auf die am Boden liegenden Übungsstöcke, die Siobhan jetzt wieder aufsammelte und dabei etwas Unverständliches vor sich hinmurmelte.
»Was war das?«, fragte Isabelle interessiert.
»Was, war was?«
»Das war doch kein Englisch, oder?«
Siobhan war gar nicht aufgefallen, dass sie in walisisch geflucht hatte.
»Doch«, sagte sie knapp. »Was gibt es? Ich bin beschäftigt.«
»Ja, das sehe ich«, sagte Isabelle und lächelte wieder. »Ich wollte nur sagen, dass es mir leidtut, wie mein Bruder dich behandelt. Und ich wollte dich auch nicht verletzen. Aber du musst verstehen, wir kennen dich kaum und du gibst nicht allzu viel von dir preis. Also, sei uns nicht böse, wenn wir hin und wieder etwas misstrauisch sind.«
Siobhan wusste das. Aber sie hatte zurzeit nicht viel Einfluss, auf das, was sie wütend machte.
»Ich will auch nicht so sein«, gab Siobhan zu, verstummte und sah zu Boden.
Isabelle kam zu ihr hinauf. »Aber was?«
Siobhan blickte sie wieder an. »Aber dein Bruder macht mich manchmal so wütend. Und ich kann das nicht kontrollieren, seit …«
»Seit?«
»Beleth hier ist.« Sie berührte die Rune an ihrem Hals. »Er leidet. Und es ist nicht sein Zorn. Da ist echter, physischer Schmerz.«
Isabelle sah sie erstaunt und entsetzt zugleich an. »Du fühlst das?«
»Ich fühle, dass er leidet. Und seine Wut.« Siobhan hatte nicht vor, weiter ins Detail zu gehen.
Izzy fühlte, wie sich ein zentnerschwerer Stein auf ihre Brust legte. Sie hatten Siobhan nicht erzählt, wie sie Beleths Zelle ausbruchssicher gemacht hatten, nachdem sie kein Elektrum in Idris hatten auftreiben können. Dass unzählige, hauchdünne und skalpellscharfe Elektrum-Fäden ihn daran hinderten, seine körperliche Form anzunehmen, er es aber unaufhörlich versuchte. Plötzlich kam es selbst Izzy grausam vor – jetzt, wo sie wusste, was für Auswirkungen, das auf Siobhan hatte.
»Was kann ich tun?«, fragte sie.
»Erzähl mir alles, was du über Jonathan Morgenstern weißt«, sagte Siobhan unvermittelt.
Isabelle zog die Stirn in Falten. Sie hatte mit allem gerechnet, aber nicht mit einer Frage zu Jonathan. »Clarys dämonischer Bruder? Was hat das mit Beleth zu tun?«
»Nichts«, sagte Siobhan. »Aber ich brauche etwas zu tun. Etwas, dass mich ablenkt. Shadowhunter-Arbeit.«
Izzy fand die Idee gar nicht so schlecht. »Das stimmt. Du könntest uns tatsächlich helfen. Und deine Gabe könnte dabei von Nutzen sein.«
»Ich dachte da mehr an Messer und Dolche«, murrte Siobhan.
Isabelle lächelte. »Ich mag dich. Wirklich. Und die wirst du bekommen, Siobhan. Aber nicht jetzt.«
Siobhan nickte und lächelte ein freundliches Lächeln. Natürlich dachte gar nicht daran, Jonathan Izzy und den anderen zu überlassen. Immerhin war Jonathan Morgenstern ihre Freifahrkarte aus der Hölle. Lilith hatte sich klar ausgedrückt, wie, sie ihn wiederhaben wollte. Nicht tot, nicht in Einzelteilen, sondern wohlbehalten in einem Stück. Besser noch freiwillig und reumütig. Es war entweder das, oder Siobhan würde den Rest der Ewigkeit in Liliths Folterkeller dahinvegetieren. Lieber er als sie.