Jonathan klopfte mit der flachen Hand auf die leere Seite des Bettes. »Komm zurück ins Bett.«
Siobhan wirkte unentschlossen.
Jonathan hatte den Verdacht, dass es hier nicht wirklich um Valentine nebenan ging. »Hey, komm schon. Egal, was es ist, können wir uns nicht später darüber Sorgen machen?«, bettelte er.
Doch sie schien nicht überzeugt, wickelte sich das Laken um den Körper wie das Gewand einer griechischen Göttin und setzte sich ans Klavier in dem sonst so karg eingerichteten Raum. Ihre Finger begannen gelangweilt und nicht besonders geübt, Bach zu klimpern – spielen konnte man das nicht nennen. Jonathan stand auf, zog sich seine Hose an und setzte sich zu ihr auf die Klavierbank.
»Wenn du damit Dämonen aufschrecken willst, wird dir das auch ohne Bach gelingen, Liebes«, sagte er.
Sie klimperte weiter. »Oh, Verzeihung. Ich wusste nicht, dass du die Klavierpolizei bist.«
Er lachte leise und schob ihre Hände vorsichtig beiseite. Dann begann er zu spielen. Seine schlanken Finger glitten mit einer Virtuosität und Leichtigkeit über die Klaviatur, dass sie es bereute, nicht doch wieder zu ihm ins Bett gekrochen zu sein. Sie wusste, was er noch so alles mit diesen herrlichen Händen anstellen konnte.
Jonathan bemerkte das leichte Beben ihres Körpers und schmunzelte.
Sie legte ihren Kopf an seine Schulter und zog mit dem Zeigefinger ihrer linken Hand hauchzart eine Linie über seine nackte Brust. Jonathan spielte ungerührt und absolut fehlerfrei weiter. Erst, als ihre Hand langsam von seiner Brust abwärts glitt und am Bund seiner Hose entlangfuhr, hörte sie einen falschen Ton. Es war nur eine winzige Abweichung, doch sie lächelte schadenfroh und sah, dass er Mühe hatte, sich nicht noch einmal zu verspielen.
Doch er spielte tapfer weiter. Und sie ließ ihn. Der letzte Akkord hallte noch nach, als Jonathan ihr Kinn hob und sie küsste.
»Komm zurück ins Bett«, raunte er.
Doch dazu sollte es nicht kommen. Der Geruch von verbranntem Papier lag in der Luft. Sie löste sich von ihm und blickte auf das sengende Stück Papier, das gerade in ihre offene Handfläche fiel.
»Eine Nachricht«, sagte sie überrascht und blickte Jonathan plötzlich überglücklich an. »Von Yael!«
»Yael?«
Sie entzifferte die nach und nach erscheinenden Buchstaben darauf. »Er will mich treffen.«
Jonathan sah sie verständnislos an. »Du kannst nicht raus. Sie werden dich in der Minute, in der du dieses Loft verlässt, aufspüren.«
Sie lächelte wissend und tippte mit dem Finger auf die Rune an ihrem Hals. »Das können sie gar nicht. Die Schattenrune macht jede Art von Aufspürzauber unmöglich. Außer Beleth kann niemand …«, sie verstummte, als sie sah, wie wütend Jonathan plötzlich war.
Er stand ruckartig auf.
Das war neben Valentine und Yael ein weiterer Name, den er gerade absolut nicht hören wollte. »Ich habe dich nicht da rausgeholt, damit du ihnen gleich wieder in die Arme läufst«, knurrte er.
Siobhan ging zu ihm und legte beschwichtigend eine Hand an seine Brust.
»Ich muss. Ich habe so viele Fragen an ihn.«
Ja, die hatte Jonathan auch.
Er seufzte, ging zu seiner Jacke und holte den Gegenstand hervor, für den er sechs Schattenjäger getötet hatte. Er reichte ihr den Spiegel der Engel, seufzte und sagte: »Was soll’s. Was auch immer Yael mit den Insignien vorhat, es kann nicht schlimmer sein als das, was Valentine plant.«
Siobhan blickte ihn fragend an und sah dann wieder auf den goldschimmernden Gegenstand in seiner Hand. »Was ist das?«
»Das ist der Spiegel der Engel.«
Ein amüsiertes Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie ihm den Gegenstand aus der Hand nahm. Sie musterte die Engelsrune auf dem Deckel, schüttelte den Kopf und sah ihn wieder an. »Es ist leicht, zu vergessen, dass du kein echter Verlac bist. Sonst würdest du es wissen.«
»Was wissen?«
»Das hier ist nur ein Requisit – eine Ablenkung. Das wissen nur die Verlacs. Meine Großmutter hat mir davon erzählt, als ich klein war.«
Er sah sie verwirrt an.
»Der Name Verlac offenbart ein Geheimnis. Verre bedeutet Spiegel. Lac, ist das Wort für See, beides zusammen ergibt das Wort Spiegelsee.« Sie ließ eine vielsagende Pause.
Jonathans Augen weiteten sich in plötzlicher Erkenntnis. »Lake Lyn! Der Spiegel ist Lake Lyn. Der See in Idris, aus dem sich Raziel erhoben hat. Natürlich. Daher auch Clarys Visionen.«
Siobhan gab ihm den Spiegel zurück.
»Wer weiß noch davon?«, wollte er wissen.
»Außer den Verlacs? Ich schätze niemand.«
Seine Augen funkelten. »Also niemand außer uns beiden.«
Siobhan war irritiert.
Erst jetzt wurde Jonathan bewusst, was er gerade gesagt hatte und blickte sie erschrocken und schuldbewusst zugleich an.
Kurz war es still zwischen den beiden.
Sie wagte es kaum, zu fragen. »Was ist mit dem echten Sebastian passiert?«
Jonathan konnte ihr nicht, in die Augen sehen.
»Was ist passiert? Hat er dich angegriffen? Musstest du dich verteidigen oder ...«, sie suchte nach weiteren Ausreden, die den Tod des echten Sebastian rechtfertigen könnten. Jonathan rührte sich nicht und mied weiterhin ihren Blick. Siobhan fühlte, wie der Boden unter ihren Füßen zu wanken begann.
Er bemerkte ihre Veränderung. Panik machte sich in ihm breit. Es war schon schlimm genug, dass Clary ihn als Monster sah. Er hob ruckartig seinen Kopf, griff sie grob an den Schultern und knurrte sie an: »Ich bin, was ich bin. Das hätte dir klar sein müssen, bevor du mit mir geschlafen hast.«
Er sah ihren erschrockenen Gesichtsausdruck, ließ sie wieder los und sah nun selbst etwas erschrocken aus.
Siobhan presste ihre Lippen zusammen und versuchte nicht zu heulen. Es war nicht, weil er sie angebrüllt hatte oder weil sie wusste, dass er recht hatte … oder wegen dessen, was er getan hatte. Es war schlimmer. Einem Teil von ihr war das nämlich völlig gleich. Dieser Teil von ihr war erwacht, als die Inquisitorin sie gedemütigt und Jace sie geschlagen hatte. Und dieser Teil von ihr war nicht William und Alice Branwells Tochter.
Jonathan ging ein paar Mal im Zimmer auf und ab, rieb sich das Gesicht und blieb dann wieder vor ihr stehen. »Bist du sicher, dass du diesen Hexenmeister treffen willst?«, fragte er. »Es ist riskant. Jeder hätte dir diese Nachricht schicken können.«
»Nein«, sagte sie leise, ging zu ihrer Kleidung am Boden, hob die beiden Messer daneben auf und sah ihn wieder an. Die Klingen der Messer leuchteten rötlich auf, als sie sie berührte. Dieses, für Engelsklingen ungewöhnliche rote Leuchten, war Jonathan schon aufgefallen, als sie sie zum ersten Mal in der Hand gehabt hatte.
»Was hat es mit den Dolchen auf sich?«, fragte er.
»Vielleicht solltest du das, deinen Vater fragen.«
»Ich frage aber dich«, entgegnete er. »Wieso hast du diese gewählt? Sie sind weder für den Kampf noch für die Verteidigung besonders geeignet. Das sind die Waffen eines Attentäters.«
»Ich habe sie nicht gewählt. Sie haben mich gewählt.« Siobhan drückte ihm plötzlich eines der Messer in die Hand. »Und ich denke, sie wurden auch nicht für einen Nephilim geschmiedet.« Die roten Runen auf den Klingen verblassten sofort, als Jonathan den Dolch in der Hand hielt. Er betrachtete den schwarzen, feinen Stahl in seiner Hand. Sie waren unfassbar leicht und doch lag so viel Schwere darin, dass ihm der Arm augenblicklich schwer, wie Blei wurde. »Was … wie ist das möglich?«
»Wie ich schon sagte. Sie wurden nicht für einen Nephilim geschmiedet«, sagte sie und nahm ihm das Dolchmesser wieder ab. Sofort reagierte die Waffe wieder auf ihre Berührung, leuchtete kurz auf und verblasste dann langsam wieder.
Jonathan begriff nichts davon, aber er hatte auf einmal wieder Beleths Worte im Ohr. ›Bist du sicher, dass ihr das richtige Monster gefangen habt?‹
Siobhan begann, sich anzukleiden.
»Was soll das werden?«, fragte er nervös.
Sie band ihre Haare zusammen und suchte nach ihren Schuhen. »Ich werde mich mit Yael treffen.«
»Auf keinen Fall werde ich dich allein gehen lassen.«
»Auf keinen Fall wirst du mich davon abhalten, meinen Bruder zu sehen.« Ihr Blick war unerwartet kühl.
»Deinen Bruder«, wiederholte er. »Das ist er nicht einmal.«
»Für mich schon.«
»Nein, er ist einfach nur ein feiger Warlock. Wo war er, als du ihn gebraucht hast? Wo?«
Kaum hatte er es ausgesprochen, spürte er den kalten, Stahl ihrer Klingen an seinem Hals. Jonathan beeindruckten die Messer an seinem Hals nicht. Es war nicht das erste Mal, dass sie ihn bedrohte.
»Ich habe recht und du weißt es«, sagte er.
Sie ließ die Messer wieder sinken und schwieg.
»Was läuft hier wirklich, Siobhan?«
Sie blickte zur Tür.
Er griff ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen.
»Du musst mich gehen lassen«, sagte sie leise.
»Warum nur habe ich den Eindruck, dass du nicht wiederkommen wirst?«
»Wir hatten nie eine Chance.«
Bevor Jonathan, ihr widersprechen konnte, spürte er einen brennenden kurzen Stich in seinem Bauch und blickte fassungslos an sich hinunter. Die bluttriefende Klinge ihres Dolches verließ seinen Bauch wieder, und er fühlte, wie diese bleierne Schwere nun seinen ganzen Körper in die Tiefe zog. Erschüttert starrte er sie an, bevor er zu Boden schlug. Sein Verstand war hellwach, aber sein Körper war gelähmt.
Siobhan hockte sich zu ihm hinunter, strich ihm zärtlich über die Wange, küsste ihn mit Tränen in den Augen auf den Mund und sagte: »Es tut mir leid, aber ich kann nicht bleiben, wenn es bedeutet, dass du gehen musst.«
Ihr Blick war so liebevoll, ihre Berührung so zart. Er verstand nichts davon, doch er wollte sie ebenso berühren. Dann fielen ihm die Augen zu und sein Bewusstsein entschwand.
ᛟ
Jace stand in Siobhans Zimmer im Institut und versuchte zum x-ten Mal, sie aufzuspüren. Doch auch das lange Haar, dass er auf ihrem Kopfkissen gefunden hatte, brachte ihm keinen Erfolg.
»Was tust du?«, fragte Clary.
Er wandte sich ihr zu. »Ich will nicht warten, bis Raphael euch zu ihr führt.«
»Warum?«
»Weil ich gesehen habe, wozu sie imstande ist, wenn man sie in die Enge treibt.«
Clarys Blick wurde mitfühlend. »Ach, Jace. Wen versuchst du hier zu beschützen? Und oder sie?«
»Was ist so schlimm daran, beides zu tun«, sagte er und erblickte plötzlich einen kleinen Stein zwischen all ihren Büchern auf dem Boden. Er hob ihn auf und sah zu Clary. »Ist das nicht das Elektrum, dass wir aus Izzys Peitsche extrahiert haben, um Jonathan aufzuspüren?«
Clary trat näher und betrachtete den Stein stirnrunzelnd. »Ich wusste doch, dass ich ihn im Atrium verloren habe. Sie hatte ihn also die ganze Zeit.«
»Die Frage ist nur, warum?«
»Ist doch klar. Du hast doch mitbekommen, was Elektrum bei ihr anrichtet. Sie wollte verhindern, dass wir sie damit entlarven.«
»Oder …«, er rieb sich den Nacken, »… sie wollte Jonathan damit enttarnen.«
Clary sah ihn zweifelnd an. »Warum legst du nur immer alles zu ihren Gunsten aus, Jace? Ich habe fast den Eindruck, dass sie etwas mit dir gemacht hat, genau wie mit Raphael. Dich beeinflusst oder so.«
Jace konnte nicht abstreiten, dass Siobhan tatsächlich etwas mit ihm gemacht hatte, aber selbst, wenn er versuchen würde es zu erklären, sie würde es nicht verstehen. Ja, Siobhan konnte lügen. Aber nur mit Worten. Ihre Gabe hingegen offenbarte eine Wahrheit, die man nur erkannte, wenn Siobhan einen ließ. Und sie hatte ihn gelassen. Ob nun absichtlich oder unabsichtlich. Was er gefühlt hatte, als sie sich nahegekommen waren, passte nicht zu dem, was Imogen über Siobhan behauptet hatte. Aber wie sollte Jace den anderen ein Bauchgefühl erklären? Nein, sie würden es nicht verstehen.
»Bist du etwa verliebt in sie?«, riss Clary ihn aus seinen Gedanken.
Er blickte sie verstört an. »Wie kommst du denn darauf?«
»Ich weiß, dass auf der Krankenstation irgendetwas zwischen euch gelaufen ist. Also sei ehrlich. Es ist okay, wenn das der Fall ist«, sie hielt einen Augenblick inne und fügte hinzu: »Aber, und das sind deine Worte, Gefühle beeinflussen das Urteilsvermögen.«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Clary, ich bin nicht verliebt in Siobhan. Du weißt genau, in wen ich verliebt bin.«
Clary sah betreten zu Boden, hob jedoch gleich wieder ihren Kopf. »Wenn man sein Herz erst einmal für die Liebe geöffnet hat, ist es leicht, auch andere hineinzulassen. Ich weiß das nur zu gut, glaub mir.«
Clary hatte noch nie so klar ausgesprochen, wie sie empfand. Es war, als hätte sie einen gewaltigen Felsbrocken gesprengt, der schon seit einer ganzen Weile auf ihrem Herzen gelegen hatte und ihr, jedes Mal, wenn sie Jace gesehen hatte, die Luft zugeschnürt hatte. Doch jetzt fühlte sie sich leichter. Befreit.
Jace bearbeitete, mit den Fingern der linken Hand, die schmerzhafte Prellung seiner Handknöchel. Er befürchtete, dass ihre Vermutung über seine Gefühle für Siobhan nicht ganz aus der Luft gegriffen waren. Und plötzlich beschlich ihn Angst. Eine kalte, irrationale und anschwellende Befürchtung: Was, wenn Siobhan ihn doch irgendwie manipuliert hatte?
»Hier seid ihr!«
Isabelle stand mit angesäuertem Gesichtsausdruck in der Tür und stemmte ihre Hände in die Hüften. »Also, was hat die Inquisitorin gesagt, Jace?«
Er sah sie fragend an.
Isabelle rollte mit den Augen. »Wolltest du nicht zu ihr und ein paar Fragen stellen?«
»Ach so. Das.« Jace winkte ab.
Diese merkwürdig unbeholfene Geste machte Isabelle misstrauisch.
»Was hat sie gesagt, Jace«, forderte nun auch Clary eine Antwort auf Isabelles Frage.
»Dass wir mit Mellartach Beleth töten können«, sagte er knapp.
Clary und Isabelle sahen sich erstaunt an.
»Schön, dass wir diese Information jetzt erst erhalten«, schimpfte sie.
»Die Hand eines Engels muss das Schwert führen, um einen Dämon wie Beleth endgültig zu töten«, erklärte Jace.
»Ein Engel?«, sagte Isabelle.
»Inquisitorin Herondale glaubt, dass wir das können, oder?«, schlussfolgerte Clary.
»Töten wir Beleth, ist auch Siobhan wieder sterblich. Natürlich!«, sagte Isabelle etwas zu begeistert, für Jaces Geschmack.
»Wenn hier jemand, jemanden tötet, dann bin ich das!«, sagte er. »Wir werden dieses verdammte Schwert wiederbeschaffen und ich werde Beleth damit töten. Ende!«
»Ende?« Isabelle sah ihn zweifelnd an. »Was heißt hier Ende? Du tust ja gerade so, als wäre Beleth unser größtes Problem? Im Moment ist er doch das kleinste. Aber Siobhan, Jonathan und Valentine – die sind ein riesiges Problem.«
Jace baute sich vor Isabelle auf und sah sie verärgert an. »Ich weiß nicht, ob dir entgangen ist, dass Beleth seit gestern mächtig an seinem Käfig rüttelt. Wer weiß, wie lange wir ihn darin noch halten können. Und Imogen, hat bisher keine Anstalten gemacht, ihn nach Idris verlegen zu lassen.
Warum wohl? Sie weiß genau, dass man ihn, egal, womit, nicht lange halten kann. Sie wird sich hüten, ihn nach Idris überstellen zu lassen. Also Izzy, was denkst du, wird passieren, wenn dieser Bastard es aus seiner Zelle herausschafft? Was wird dann wohl unser größtes Problem sein?«
»Hört auf zu streiten«, mischte Clary sich ein. »Es ist doch völlig egal, wer wie gefährlich ist. Wir benötigen zuerst Mellartach und wir wissen, wer es hat. Und wenn wir es haben, können weder Valentine noch Yael es benutzen. Warum stehen wir also noch hier herum? Lasst uns das verdammte Schwert wiederholen!«