Siobhan saß in der Bibliothek, versunken in Valentines Tagebücher. Isabelle wollte sie erst nicht so recht rausrücken, aber letztlich musste sie einsehen, dass es besser war, Siobhan so viel wie möglich an Informationen über Valentine und Jonathan zu überlassen – wie sie dachten, wer sie waren, vor allem aber, wie sie fühlten.
Es waren keine Tagebücher im eigentlichen Sinne, sondern eine nüchterne Chronik über Jace und Jonathan, die Valentine an einigen Stellen als Experimente bezeichnete. Auch wenn Jace nicht sein leiblicher Sohn war, schien Valentine, zumindest was die Erziehungsmethoden betraf, keine großen Unterschiede zwischen ihm und Jonathan gemacht zu haben. Ein wenig erinnerte dieser Valentine sie an ihren Vater. Auch er war ein strenger und fordernder Lehrer gewesen. Brutal hin und wieder. Und sehr darauf bedacht, dass seine Kinder stärker und besser zu sein hatten als alle anderen Shadowhunter. Andererseits konnte William Branwell zugleich ein liebevoller und gütiger Vater sein. Den Eindruck hatte sie von Valentine nicht. Und je mehr Siobhan über den angeblich so teuflischen Jonathan las, desto klarer wurde, dass nicht Jonathan böse war, sondern sein Vater.
Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und rieb sich die Augen. Es war leichter gewesen, daran zu glauben, dass Jonathan Morgenstern einfach nur ein gewissenloses Monster war, immerhin musste sie ihn zurück in die Hölle befördern. Siobhan wusste aber, dass Dämonenblut jemanden nicht zwangsläufig zu einem Monster machte. Genau wie das Blut eines Engels Jace und Clary nicht zu Engeln machte. Dennoch hatte Jonathan bereits die eine oder andere Grenze überschritten. Sich der Dunkelheit hinzugeben, anstatt sie zu bekämpfen, war verführerisch. Und auch sie haderte öfter damit, als sie zugeben würde.
»Hey«, sagte Jace und setzte sich zu ihr an den Tisch. »Izzy meinte, du hilfst uns bei der Suche nach Jonathan und Valentine.«
»Ja«, sagte Siobhan und musterte ihn neugierig. Jetzt, wo sie so viel über ihn gelesen hatte, über seine Kindheit und seinen Vater, sah sie ihn mit anderen Augen.
»Ist es nicht besser, wenn du dich noch ein paar Tage ausruhst, nach allem, was in der letzten Zeit so passiert ist?«, fragte er.
»Wenn du willst, dass ich an Langeweile sterbe, dann ja.«
Jace schmunzelte und deutete auf die Tagebücher. »Gruselig, oder?«
»Edom ist gruselig. Das hier ist traurig.«
Jace sah betroffen auf seine Hände auf dem Tisch. Nach einem Moment unangenehmen Schweigens rieb er sich das Kinn und lehnte sich zurück.
»Und? Was denkst du über Jonathan?«
Siobhan hob kurz die Schultern.
»Dir ist klar, dass, wenn wir ihn finden, wir ihn töten werden, oder? Also bemitleide ihn nicht zu sehr.«
Siobhan wusste das. Sie beschäftigte daher eine ganz andere Frage: »Wie geht es Clary damit?«
Jace sah sie erstaunt an. »Was meinst du?«
»Ihr habt vor, ihren Bruder zu töten. Das wird ihr sicher nicht gefallen.«
»Ehrlich gesagt, will sie selbst diese ganze Sache endlich zu Ende bringen.«
Siobhans sah ihn verständnislos an. »Diese ganze Sache? Er ist doch trotz allem ihr Bruder. Er kann doch nichts dafür, was Valentine ihm angetan hat.«
»Jonathan ist eine Gefahr für jeden. Vor allem für Clary. Er wollte Max töten, hat Valentine befreit und sicher wird er nicht zögern, jeden hier zu töten, sobald er nur die Gelegenheit dazu bekommt.«
Siobhan schwieg und schluckte runter, was sie dazu zu sagen hatte.
Jace bemerkte das. »Glaub nicht, dass Clary das leicht fällt.«
»Jonathan ist ihre Familie. Alles, was davon übrig ist, sogar. Es sollte ihr auch nicht leichtfallen. Ich weiß nicht, wenn er mein Brud…«
Jace unterbrach sie nun etwas verärgert: »Dein Bruder war kein psychopathisches Monster. Außerdem bist du mit deinen Geschwistern aufgewachsen. Clary kennt ihn nicht, nur seine Taten.«
»Und wenn sie ihn kennenlernt und ihre Meinung ändert?«
»Das wird sie nicht.«
Siobhan sah ihn ungläubig an.
Jace lehnte sich wieder nach vorn, legte seine Unterarme auf den Tisch und sah ihr forschend in die Augen. »Du willst mir also sagen, dass du, wäre Jonathan dein Bruder, ihm alles verzeihen könntest?«
»Es geht nicht nur um Vergebung, es geht um Akzeptanz. Er ist ihre Familie. Wie kann sie ihn so einfach aufgeben, nur weil er nicht so ist, wie sie ihn gerne hätte.«
»Wie sie ihn gerne hätte? Durch seine Adern fließt das Blut eines Dämons. Und er ist ein verdammter Mörder.«
»Sind wir das nicht alle? Davon abgesehen, das Dämonenblut hat er mit Warlocks, Seelies und anderen Schattenwesen gemeinsam. Töten wir sie deshalb?«
»Nun, wir töten die, die das Leben von Irdischen gefährden. Denn das ist unsere Aufgabe. Gerade du solltest das wissen.«
»Hat Jonathan das Leben Irdischer gefährdet?«
Jace und Siobhan sahen sich für einen ziemlich langen Augenblick angriffslustig an. Und plötzlich kam Jace ein äußerst beunruhigender Gedanke. »Du weißt, dass wir glauben, dass Yael den Kelch gestohlen hat.«
»Worauf willst du hinaus?«
»Ist er nicht so etwas wie ein Bruder für dich? Kann ich also davon ausgehen, dass, wenn Yael etwas tun würde, was den Rat, die Schattenjäger oder sonst jemanden gefährdet, dass du ihn gewähren lassen würdest.«
Siobhans Blick verfinsterte sich. »Ich würde Yael niemals töten. Das heißt jedoch nicht, dass ich andere nicht vor ihm beschützen würde, wenn es nötig sein sollte. Aber das wird es nicht, denn Yael hat den verdammten Kelch nicht gestohlen. Yael wäre sicher bei mir, wenn er wüsste, dass ich nicht mehr Edom bin. Und das wüsste er, wenn er auch nur auf demselben Kontinent wäre wie ich. Wahrscheinlich ist er nicht einmal in derselben Dimension.«
Jace hatte plötzlich Mitleid mit ihr. »Das ist der Punkt. Wie gut kennst du ihn denn noch?«
Siobhan schwieg.
Es änderte nichts. Selbst wenn er diesen verdammten Kelch gestohlen und Alicante zeitweise ins Nirwana geschickt hatte, um ihn zu bekommen – sie würde Yael nicht aufgeben. Wer war sie schon, über ihn zu urteilen?
»Siobhan«, sagte Jace nun etwas sanfter und legte seine Hand auf ihre. »Ich will nicht mit dir streiten. Ich versuche nur, dich zu verstehen. Und ich muss wissen, dass wir uns auf dich verlassen können, wenn es darauf ankommt. Können wir das? Weißt du, wo du stehst? Weil, wenn das nicht der Fall ist ... ich will nicht gegen dich kämpfen müssen, Shadow. Wirklich nicht.«
Siobhan wich seinem Blick aus und vertiefte sich wieder in die Tagebücher. Jaces frustriertes Schnaufen ignorierte sie.
Magnus stand im Flur neben der Bibliothek und hatte alles mit angehört. Er hatte nicht gedacht, dass er sich noch elender fühlen konnte, als er es ohnehin schon tat. Wenn er eins aus den vergangenen Monaten gelernt hatte, dann, dass Trug und Lügen, egal aus welchen Gründen, niemanden retteten. Die letzte der Insignien zu stehlen, um Alec vor Yael zu beschützen, schien ihm die einzige Möglichkeit gewesen, doch gerade wurde ihm bewusst, dass er damit niemanden schützen würde. Im Gegenteil. Alec musste erfahren, was Yael vorhatte und nur so konnte er auch Siobhan vor Yaels Wahnsinn schützen. Niemals würde Yael Christian Branwell so zurückbringen, wie er war. Das war unmöglich. Nicht einmal ein Engel konnte die Gesetze des Universums brechen. Was tot war, sollte tot bleiben. Würde er Yael den Spiegel bringen und dieser Siobhan dazu bringen, die Insignien zu verwenden, um ihren Bruder zurückzuholen, dann wäre zwar die Schattenwelt vor Valentines zerstörerischen Plan sicher, aber um welchen Preis? Nein, es war vielleicht an der Zeit, wieder Vertrauen in die Schattenjäger zu setzen und nicht die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Alec war ein guter Anführer, und mit Jace und Isabelle hatte er mächtige Krieger an seiner Seite. Sie würden Alec beschützen. Und Magnus würde es auch tun und wenn er dafür selbst auf dunkle Magie zurückgreifen müsste. Aber zuerst, und das war wohl das schwierigste, musste er Alec dazu bringen, ihn überhaupt wieder anzuhören.
Magnus war nicht der Einzige, der dieses Gespräch belauscht hatte. Jonathan hatte sich gerade im hinteren Teil der Bibliothek aufgehalten, als er sah, wie Jace sich zu Siobhan gesetzt hatte. Ihm gefiel das nicht. Unbemerkt bewegte er sich zwischen den hohen Bücherregalen entlang, bis er dicht genug war, um die beiden zu hören.
Es war also nicht verrückt gewesen zu glauben, dass Clary ihn lieben sollte, egal, was er getan hatte. Clary war das Problem, nicht er. Jonathan hatte sich so sehr bemüht, das zu sein, was er glaubte, sein zu müssen, damit seine Schwester ihn wenigstens als Sebastian Verlac mochte. Aber selbst das hatte nicht gereicht. Clary hatte ihn angewiesen, als sei er ein zu anhängliches Haustier. Jonathan fühlte sich benommen und stützte sich mit einer Hand am Regal ab. Etwas in ihm wollte zerstören … töten. Seine Wut in Zaum zu halten, gelang ihm nur, weil Siobhan dort saß. Und wenn er etwas nicht wollte, dann war es, dass sie etwas von seinem Zorn mitbekam … oder abbekam.
ᛟ
»Inquisitorin Herondale«, begrüßte Alec überrascht die Oberste des Rates, die bereits auf dem Stuhl hinter seinem Schreibtisch saß, als wäre es ihrer. Ihr Blick war streng und herablassend wie immer. Daran hatte auch ihre Verwandtschaft mit Jace nichts geändert.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Alec so höflich, wie es ihm unter diesen Umständen gelang. Er hatte nicht gewusst, dass sie bereits im Institut war und das war sicher auch so von ihr beabsichtigt.
Imogen blätterte demonstrativ in der Branwell Akte auf seinem Tisch und sah Alec verärgert an. »Warum wurde ich nicht umgehend über das Auftauchen von Siobhan Alice Branwell informiert?«
Alec war überrascht. Er hatte angenommen, dass die zwei verschwundenen Insignien, Valentines Flucht, Jonathans Anschlag auf Max oder dieser mächtige Dämon im Keller des Instituts ihr mehr Kopfzerbrechen bereiten sollte als das Auftauchen einer verschollenen Schattenjägerin.
Imogen stand auf und ging durch den Raum, drehte sich dann schwungvoll zu Alec und sagte mit Augen, so schmal wie Schlitzen: »Ich hatte gehofft, nie wieder diesen Namen hören zu müssen. Diese Familie bedeutet nichts als Unheil. Wo ist sie jetzt?«
»Branwell?«
»Natürlich. Wen sollte ich denn sonst meinen? Habt ihr sie wenigstens sicher verwahrt?«
»Verwahrt?« Alec verstand nicht, wovon die Inquisitorin sprach. »Warum sollten wi...«
»Du willst mir also sagen, sie spaziert hier einfach so im Institut herum?«
Alec sah sie verwirrt an. »Nun, sie hat uns geholfen Beleth zu fangen«, versuchte er sich an einer Erklärung.
»Hat sie das?«
»Ich verstehe nicht«, gab Alec zu.
»Wie solltest du auch? Du weißt nichts über die Branwells. Also werde ich es für dich kurz zusammenfassen. William Branwell ist das Vorbild von Valentine Morgenstern und alles, wofür dieses Monster heute steht.«
»Aber darüber steht nichts in den Akt...«
»Natürlich nicht«, unterbrach Imogen ihn erneut und setzte sich wieder hinter den Schreibtisch. »Der Rat hat damals ein paar Fehler gemacht. Einmal zu oft weggesehen und hin und wieder vorschnell gehandelt. Manchmal ist es besser, einige Dinge unter den Teppich zu kehren, als noch mehr Leute wie Valentine dazu inspirieren, das zu tun, was Branwell getan hat.«
»Was hat er denn getan?«
»Experimente mit Dämonenblut, verbesserte Schattenjäger, das ganze Programm eben. Zudem hat er sich mit einem dunklen Hexenmeister zusammengetan.« Die Sorgenfalten auf Imogens Stirn wurden immer tiefer. »Wir waren davon überzeugt, dass dieser Warlock mit Beleth verschwunden ist. Doch nachdem, was kürzlich in Idris passiert ist, wissen wir, dass dem nicht so ist. Das trägt eindeutig die Handschrift von Yael Cauver. Und niemand hasst uns mehr als dieser Warlock.«
Alecs ließ sich in den Sessel sinken und starrte einen Moment ins Leere.
»Warum wurden wir nicht darüber in Kenntnis gesetzt, wenn dem Rat von Anfang an klar war, wer dahintersteckt?«, fragte er.
»Die Aufzeichnungen von Branwell und Cauver sind verschlüsselt. Vieles ist bis heute im Unklaren. Es spielte nach der Verbannung Beleths aber auch keine Rolle mehr. Die Branwells waren ausgelöscht und Cauver verschwunden. Der Rat dachte, dieses Kapitel sei damit abgeschlossen.«
Alec schüttelte leicht den Kopf. »Hat der Rat nicht immer die Branwells als leuchtendes Beispiel für unsere Art gepriesen? Ich verstehe das nicht.«
»William Branwell arbeitete auf sehr gefährlichem Terrain, aber ohne Zweifel waren seine Absichten nicht schlecht. Nur seine Methoden waren es. Seine Verluste haben ihn anfällig für das Böse gemacht. Doch er und seine Familie waren äußerst erfolgreiche und hoch angesehen Jäger. Und sie haben nie ein Menschenleben gefährdet. Valentine hingegen, er hat alles, was William damals begonnen hat, missinterpretiert und zu seinen eigenen Wahnideen gemacht.«
Alec rieb sich die Stirn. »Was werfen Sie Siobhan Branwell also vor?«
Imogen erhob sich, zog ihr Kostüm zurecht und sagte: »Nun, es ist schon ein wenig seltsam, dass sie alle zur selben Zeit wieder auftauchen. Beleth, Yael und Branwell. Sie hat über siebzig Jahre in der Hölle verbracht und keine neunzehn in unsere Welt. In diesen wenigen, irdischen Jahren hat sie alles verloren. Nicht durch Dämonen, sondern durch Irdische und den Rat. Also, was glaubst du? Wie viel Vertrauen möchten wir in jemanden mit ihrer Geschichte setzen?«
»Das verstehe ich. Glauben Sie mir. Aber, ich kann sie nicht einfach, wegen eines Verdachts ...«
»Sie hat ihren Vater getötet.«
»Sie hat was?« Alec stand jetzt auch. »Ich dachte, Beleth hätte ihren Vater getötet?«
»Hat sie das erzählt, ja?«, zischte Imogen und Alec verstummte.
»Sei nicht so naiv, Alexander. Warum gibst du nicht gleich noch Jonathan Morgenstern eine Führung durchs Institut.«
»Was hat denn das damit zu tun?«
»Jonathan und Siobhan haben vermutlich mehr gemein als nur den fortgeschrittenen Wahnsinn ihrer Väter. Was denkst du, macht die Hölle aus einem Schattenjäger? Alles, was die Hölle nach so langer Zeit wieder ausspuckt, ist verdorben.«
ᛟ
Siobhan und Jace saßen immer noch in der Bibliothek und blätterten in Valentines Tagebüchern. Als plötzlich zwei Wachen auf sie zukamen. Zunächst wollte sie die nicht beachten, aber sie wirkten angespannt und starrten sie an. Ihre Hände lagen an den Griffen ihrer Klingen und ihr Blick verriet, dass sie bereit waren, sie einzusetzen.
Jace folgte Siobhans Blick und war irritiert.
»Was ist?«, fragte er und erhob sich langsam.
Die Wache zeigte auf Siobhan. »Wir müssen sie mitnehmen. Befehl von Inquisitorin Herondale.«
»Was?« Jace baute sich jetzt vor den beiden auf. Angriffslustig ohne Frage, aber gleichermaßen erstaunt. »Mit welcher Begründung?«
»Es ist ein direkter Befehl der Inquisitorin, dafür brauchen wir keine Begründung, also geh mir aus dem Weg, Wayland«, sagte die Wache provokant.
Jace funkelte ihn gereizt an.
In diesem Augenblick kam Alec um die Ecke. »Jace, lass gut sein.« Alecs Blick ging zu Siobhan, die weniger überrascht wirkte. »Wird es Probleme geben?«, fragte er sie ernst.
Jace bemerkte, dass auch Alec seine Hand fest um den Griff eines seiner Dolche gelegt hatte. »Was ist hier los, verdammt?«, fragte Jace aufgebracht.
Siobhan hatte befürchtet, dass so etwas passieren würde, doch nicht, dass es jetzt schon passieren würde. So war das nicht geplant. Sie hatte noch nicht einmal eine Spur zu Jonathan, nur einen Verdacht, nach allem, was sie gelesen hatte. Aber jetzt? Was auch immer jetzt passierte oder was diese Schattenjäger glaubten, über sie zu wissen, war nichts Gutes.
»Siobhan?«, hörte sie Jaces Stimme wie durch einen Filter.
Was sollte sie tun? Sie hatte keine Waffen und selbst wenn, würde sie die wirklich gegen diese Schattenjäger einsetzen? Wahrscheinlich nicht. Sie hatten nichts damit zu tun. Sie sah zu Jace, der wohl gerade hoffte, dass das alles nur ein großes Missverständnis war. Und langsam erhob sie sich. Die Wachen und auch Alec wichen etwas zurück.
»Ich nehme an, die Inquisitorin ist eingetroffen?«, sagte sie kühl.
»Du weißt also, worum es geht?«, fragte Alec.
»Nein, aber der Rat benötigte noch nie sehr viel, um einen Branwell zu verurteilen.«
Jace wurde zunehmend nervös und hatte nun ebenfalls eine Hand an der Klinge. »Alec, was ist hier los?«, fragte er und sein Blick wanderte zwischen ihm und Siobhan hin und her.
»Schon gut«, sagte sie. »Das klärt sich sicher auf.«
Sie hielt ihre Hände so vor den Körper, dass eine der Wachen ihr die Handfesseln anlegen konnte.
Alec sah entschuldigend zu Jace. »Das ist nur, bis wir wissen, was hier wirklich vor sich geht. Ich erkläre dir alles, Jace. Aber nicht hier.«
ᛟ
Zumindest waren die Zellen im Institut keine dunklen, feuchten Keller, wie sie es in London waren. Eigentlich war es gar nicht so schlimm, fand Siobhan. Es war warm, vielleicht etwas zu hell, aber sauber. Eine große Scheibe trennte sie vom Gang und der Zelle gegenüber. Schon von dem Moment an, wo die Wachen sie in die Zelle geführt hatten, stand dort, direkt hinter dem Glas, ein junger Kerl hispanischer Abstammung und sah sie an. Steif, wie eine Schaufensterpuppe, stand er dort und starrte, als würde er jeden Moment durch die Scheibe springen wollen.
»Du bist Raphael, nicht wahr?«, sagte sie.
Er schien sie nicht zu hören. Vielleicht lag es an den Zellen. Sie ging zu der weißen Pritsche am anderen Ende ihrer Zelle und setzte sich. Die Schattenrune an ihrem Hals brannte wie glühender Stahl unter ihrer Haut, seit sie den Aufzug zu den Zellen verlassen hatten. Beleths Zelle musste ganz in der Nähe sein. Sie stand wieder auf, legte ihr Gesicht an die Scheibe, und versuchte etwas zu erkennen. Der Gang endete, nicht weit links von ihrer Zelle, an einer massiven Iridium-Tür, vor der zwei Schattenjäger Wache hielten. Zwei weitere Wachen standen rechts von ihr neben dem Aufzug. Hier herauszukommen war nicht unmöglich, aber wenn sie eines in Edom gelernt hatte, dann Geduld.
Raphael starrte sie immer noch an und allmählich empfand sie diesen hungrig gierigen Blick als störend. Sie vergewisserte sich, dass keine der Wachen sie gerade beachtete, legte ihre Hand gegen die Scheibe und schloss die Augen. Es dauerte nur einen Augenblick und dann lag Raphael bewusstlos am Boden.
»Bitte. Gern geschehen«, murmelte sie, ging zurück zur Pritsche, setzte sich und harrte der Dinge, die da kommen würden. Noch hatte sie die Hoffnung, dass sie sich aus – was auch immer der Rat glaubte – herauswinden konnte. Sie hatte nichts verbrochen und sie hatte niemandem geschadet. Siobhan dachte plötzlich an Sebastian und hoffte, dass er sie nicht genauso ansehen würde, wie Alec und Jace eben. Enttäuscht, verwirrt, misstrauisch. Ein naiver Wunsch.
Sie seufzte. Wo war Yael, wenn man ihn brauchte. Überhaupt wäre alles so viel leichter gewesen, wenn er sie gefunden hätte und nicht diese Schattenjäger. Er hätte ihr geholfen Jonathan zu finden, sie hätten ihn zurück nach Edom geschickt und alles wäre gut gewesen. Sie hätte nie einen Fuß in dieses Institut setzen müssen. Und sie wäre niemals Sebastian Verlac begegnet, der jetzt alles so viel komplizierter machte.
Sie legte sich hin und dachte an seine freundlich blauen Augen, die Wärme seiner Lippen auf ihren, sein verhaltenes und immer irgendwie geheimnisvolles Lächeln. Zurück nach Edom zu müssen, erschien ihr schon allein deswegen keine Option mehr.
ᛟ
Yael beobachtete das Institut aus sicherer Entfernung. Magnus hatte in den Jahren einiges dazugelernt, denn die Schutzzauber um und in dem Gebäude, waren für Yael nicht zu durchdringen. Yael fühlte Beleths Präsenz. Gefangen in einer Form, die ihn schwächte, dass es wohl länger dauern würde, bis sich Beleth daraus würde befreien können. Aber das würde er. Bisher hatte nichts, keine Hölle, kein Zauber, kein Bann ihn lange halten können. Beleth war zu mächtig. Allerdings wäre Yael dann gern sehr weit weg, wenn es so weit war. Dass es diesen Schattenjägern überhaupt gelungen war, Beleth zu fangen, konnte nur darauf hindeuten, dass Siobhan ihnen geholfen hatte. Er wusste nicht, ob ihn das erleichterte oder beunruhigte. Sie war Beleths Schwäche, aber auch seine größte Stärke. Das lag ganz bei ihr. Das war es nicht, was Yael damals beabsichtigt hatte, als er die beiden verlinkt hatte. Siobhans Verbindung zu Beleth sollte ihr seine Unsterblichkeit verleihen, damit Yael niemals wieder jemanden verlieren müsste, den er liebte.
Doch er hatte die Rechnung ohne Lilith gemacht. Er hatte nie beabsichtigt, dass Siobhan Opfer seines Hasses auf Beleth wurde. Und er hasste Beleth. Wie nur ein Sohn seinen Vater hassen konnte.