Als Jonathan und Siobhan am nächsten Morgen in das Institut zurückkamen, herrschte dort eine eigenwillige Unruhe. Isabelle sah die beiden ankommen, strahlte kurz über das ganze Gesicht und kam ihnen mit einem verschmitzten Lächeln entgegen.
»Ihr seht müde aus. Fast so, als hättet ihr nicht geschlafen.«
Siobhan wäre am liebsten sofort wieder umgedreht und gegangen. Genaugenommen würde sie genau das jetzt tun. Doch der unauffällige, aber feste Griff von Sebastians Hand an ihrem Arm, hielt sie davon ab. Sie blickte kurz zu ihm auf. Freundlich lächelnd, blickte er Isabelle an und ließ ihre Anspielung elegant unkommentiert.
Es war nicht, was Isabelle vermutete, was den beiden den Schlaf geraubt hatte. Nach einem üppigen Abendessen hatte Jonathan Siobhan sein Bett angeboten und hatte selbst mit der Couch vorliebgenommen. Doch weder er, noch Siobhan hatten in dieser Nacht ein Auge zugetan. Zu viel kreiste in ihren Gedanken. Und der drängende Wunsch, dem anderen nahe zu sein – sehr viel näher – war auch nicht gerade schlaffördernd. Und genau wie Siobhan, hatte auch Jonathan berechtigte Sorge, was bei zu viel Nähe passieren würde. Er wusste nicht, was der Grund für ihre Zurückhaltung war, aber er wusste genau, was seiner war. Etwas, das auf keinen Fall in ihrer Gegenwart zum Vorschein kommen durfte.
»Guten Morgen«, antwortete Sebastian mit bewundernswertem Gleichmut auf Isabelles immer noch breites Grinsen, blickte sich kurz um und fragte: »Was ist los? Ziemliche Aufregung hier?«
Isabelle winkte ab, drehte ihm den Rücken zu und ging Richtung Zentrale. »Ach, das ist nur, weil sich Inquisitorin Herondale angekündigt hat«, erklärte sie.
Jonathan bemerkte, dass Siobhans Miene augenblicklich einfror. Ihre Augen wurden kälter als Liliths Atem. Isabelle sprach weiter. »Die Inquisitorin will sich unseren Erzdämon ansehen, bevor sie ihn nach Idris überstellen lässt.«
Wieder schienen Isabelles Worte, einen waren Kälteschauer bei Siobhan auszulösen. Jonathan begann sich Sorgen zu machen. Falls sie ein doppeltes Spiel spielte, wie Valentine behauptete, musste sie sich aber wesentlich mehr anstrengen, ihre Gefühle im Zaum zu halten, wenn sie nicht auffliegen wollte.
»Und es gibt Neuigkeiten aus Alicante«, fügte Isabelle hinzu.
Vor der großen Wand mit den Monitoren in der Zentrale blieb sie stehen und erwartete die anderen.
Jace, Alec und Clary wirkten weniger so, als würde sie der Sieg über Beleth derart beglücken wie Isabelle. Sie waren ausgelaugt und erschöpft. Jonathan bezweifelte, dass das mit einem Kater nach einer Siegesfeier oder der Freude über Siobhans rasche Genesung zu tun hatte.
Sein Blick ging wieder zu Siobhan, die sich wohl gerade an einem Unsichtbarkeitszauber versuchte. Natürlich interessierte ihn, was gerade in ihrem Kopf vorging, aber er würde das ganz sicher nicht hier und jetzt erörtern. Und er wollte auch nicht, dass einer der anderen das tat. Daher lenkte er die Aufmerksamkeit auf sich.
Er rieb sich mit einer überschwänglichen Geste die Hände und fragte: »Also, was gibt es Neues aus Alicante?«
Isabelle antwortete ihm mit bedeutungsvoller Miene. »Es ist alles wieder da – die Waffen, das Elektrum, die Wachen. Alles.«
»Nicht alles«, korrigierte Alec und verschränkte die Arme vor der Brust. »Der Kelch ist es nicht.« Er sagte es mit finsterer Miene und sein Blick ging zu Siobhan, die nichts von allem mitzubekommen schien. Es war, als hätte sie komplett abgeschaltet.
»Doch inzwischen deute alles auf einen, der zufälligerweise ein enger Freund der Familie Branwell war, wie ich erfahren habe. Ein Hexenmeister namens Yael«, fuhr Alec fort.
Erst als der Name fiel, blickte Siobhan auf und sah nun etwas verwirrt in die Runde. Sie hatte keine Ahnung, worum es ging – sie hatte nicht zugehört. Ungefähr seit – Inquisitorin Herondale und Überführung nach Idris – nicht mehr. »Was ist mit ihm?«, fragte sie ahnungslos.
Jonathan übernahm das Reden, bevor Alec sie anschnauzen konnte. »Es wird vermutet, dass Yael den Kelch der Engel gestohlen hat«, beantwortete er ihre Frage.
»Warum sollte er so etwas tun?«
Sie fragte es mit solch kindlicher Unschuld, dass Jonathan ihr die Ahnungslosigkeit sogar abnahm.
Alec hingegen nicht. »Sag du es mir!«
Siobhan blickte ihn fragend an und rückte automatisch etwas näher an Jonathan heran. Er mochte das.
Alec sah nun Hilfe suchend zu Jace. Doch von seiner Seite war keine Hilfe zu erwarten. Der sah aus, als hätte er einen verdorbenen Burrito gegessen, oder etwas von Isabelles Frühstück.
Isabelle schaltete sich ein, berührte Siobhan sanft am Arm und sagte: »Schätzchen, ich weiß, dass du nichts damit zu tun hast …«, das demonstrative Räuspern ihres Bruders ignorierte sie, »… aber wenn du etwas weißt, dann sag es uns. Egal, was es ist.«
Siobhan sah sie wütend an. So wütend, dass Isabelle unvermittelt wieder einen Schritt zurückwich. »Es hat sich nichts geändert, oder? Absolut gar nichts«, sagte Siobhan. »Der Rat, die Institute – immer noch das gleiche, heuchlerische Pack.« Ihre Stimme war jetzt genauso kalt wie ihr Blick. »Oh, du kennst einen Hexenmeister, der noch dazu nicht nach unserer Pfeife tanzt? Lass uns doch deine Runen entfernen und zusehen, wie dich die Wölfe fressen.« Siobhan blickte Isabelle drohend in die Augen, ihr Atem ging schwer und ihre Körperhaltung sprach Bände. Jeder in der Runde wusste, dass sie von dem redete, was ihrem Bruder widerfahren war. Niemand hielt sie auf, als sie wütenden Schrittes die Zentrale, Richtung Wohnquartiere verließ.
Jace sah ihr nach und überlegte einen Moment, ob er ihr hinterhergehen sollte. Die Art, wie Alec Siobhan behandelte, gefiel ihm nicht. Er verstand natürlich, dass Alec vorsichtig war, was sie betraf. Es war sein Job, ihr nicht zu vertrauen, aber Jace teilte Alecs Misstrauen nicht ganz. Vielleicht das Dümmste, was er je getan hatte, aber Siobhan hatte Alec auch noch nie das Leben gerettet. Und nein, das war bestimmt keine Berechnung. Jace hatte genau den Ausdruck in Siobhans Augen gesehen, kurz bevor sie ihn und Sebastian weggestoßen hatte, um sie vor dem Skerpia zu beschützen, dessen Gift die beiden Schattenjäger in Sekunden getötet hätte. Das war keine Berechnung, das war Angst. Sie wollte sie schützen. Ja, es lag auf der Hand, dass sie einiges vor ihnen verbarg, aber Boshaftigkeit war es bestimmt nicht. Er sah zu Alec und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf.
»Was?«, fragte der genervt und hob seine Schultern.
Auch Clary erinnerte sich noch gut daran, wie Alec sie zu Beginn behandelt hatte. Isabelle war die Erste, die es dann aussprach.
»Alec, du bist so ein Arsch manchmal.«
»Ich?«, sagte der fassungslos. »Ich bin ein Arsch? Bin ich denn der einzige hier, der findet, dass Branwell eben verdammt noch mal so klang, wie Valentine?«
Er hatte nicht unrecht, fand Jonathan. Doch das musste bestimmt niemand jetzt tiefer erörtern. Er setzte seinen verständnisvollen Gesichtsausdruck auf und sagte: »Wenn der Rat Izzy damals verurteilt hätte, wegen ihrer Beziehung zu Meliorn. Und ihre Runen entfernt worden wären, würdest du das jetzt sicher auch etwas anders sehen, Alec.«
Jetzt sah Alec doch etwas betroffen aus. Clary schenkte Isabelles Bruder einen tröstenden Blick, sah dann kurz in die Runde und fragte: »Also, was jetzt?«
Alec rieb sich den Nacken, tippte auf den großen Monitor vor sich und wischte mit dem Finger ein paar Mal hin und her. Dateien von Hexenmeistern öffneten sich.
»Ich kann keinen Eintrag zu diesem Yael oder ein Foto von ihm finden?«, fluchte er. »Wie kann das sein? Ich möchte wissen, mit wem wir es zu tun haben, wenn ich schon nicht weiß, was er vorhat.«
Jace hob erstaunt die Brauen. Magnus hatte Alec offensichtlich doch noch nicht alles gebeichtet. Er rieb sich verlegen den Nasenflügel und sagte kleinlaut: »Also, es gibt da schon ein Foto.«
»Ach so?«, blickte Alec ihn verblüfft an. »Warum weiß ich davon nichts?«
Kurz ging Jaces Blick zu Clary, die genau wusste, von welchem Foto Jace sprach. »Als wir in dem Branwell Haus in Idris waren, habe ich ein Foto der Branwells mitgenommen.«
»Okay. Gut«, sagte Alec. »Vielleicht können wir es mit unserer Datenbank abgleichen und finden ihn so.«
»Magnus hat es«, sagte Jace eilig.
»Magnus?«, fragte Alec, dem gerade etwas schummerig wurde.
Jace fühlte sich nicht besser, und es half ja nichts, früher oder später würde Alec ohnehin von seiner verblüffenden Ähnlichkeit mit Yael erfahren, also … »Ich habe aber eine Kopie in die Datenbank geladen«, sagte Jace und öffnete nach kurzem Zögern das Foto auf dem Bildschirm.
Was schon auf dem kleinen Foto gut zu erkennen war, verdeutlichte sich auf den großen Monitoren nun um ein Vielfaches – Alec und Yael könnten Zwillingsbrüder sein, so gravierend war ihre Ähnlichkeit.
Isabelle riss die Augen auf und gab einen undefinierbaren Laut von sich. Jonathan versteckte sein sardonisches Grienen elegant, Jace und Clary blickten besorgt zu Alec. Und Alec war erstarrt.
»Dieser … ich habe ihm vertraut«, knurrte er, nach dem sich seine Schockstarre wieder gelöst hatte. Jeder im Raum wusste, dass er Magnus meinte. Isabelle berührte ihren Bruder sanft am Arm, doch der entzog sich ruppig ihrer Berührung und verließ ohne ein weiteres Wort die Zentrale.
Isabelle sah verärgert zu Jace. »Du wusstest davon? Warum hast du nichts gesagt?« Ihr Blick ging gleichermaßen tadelnd zu Clary.
»Magnus hat mir versichert, dass Alecs Ähnlichkeit zu Yael nur am Anfang eine Rolle gespielt hat. Er liebt Alec.«
»Und du glaubst ihm das?«
»Ja, verdammt.«
Isabelle sah kurz zu Sebastian, der nachdenklich das Foto auf dem Bildschirm betrachtete, seufzte leise, wandte sich wieder an Jace und sagte: »Wenn wir es mit einem Hexenmeister aufnehmen müssen, sind wir auf Magnus Hilfe angewiesen. Aber unter diesen Umständen wird Alec sich lieber die Zunge abbeißen, als jemals wieder mit Magnus zu reden. Du kennst ihn, Jace. Alec ist Stolz und Sturheit in Person.«
»Ich weiß«, sagte Jace. »Ach, verdammt«, fluchte er laut. »Und ich dachte, wir hätten das Drama hinter uns.«
›Nicht einmal annähernd‹, dachte Jonathan, denn er hatte auf dem vergrößerten Foto etwas entdeckt. Der Siegelring an Yaels Hand, die auf Siobhans kleiner Schulter ruhte, trug nicht irgendein Siegel – es war Beleths Siegel. Etwas, was noch keinem aufgefallen war, da das Bild sehr unscharf war. Irritierend war hauptsächlich die Tatsache, dass dieses Foto entstanden war, als Siobhan noch klein war. Bevor ihre Mutter und Schwester in Frankreich von Werwölfen getötet worden war und bevor Europa von den Legionen Beleths überrannt wurde. Die Familie hatte mit Beleth also schon lange vor dessen offiziellen Auftauchen in London um 1939 zu tun. Ob nun wissend oder unwissend. So oder so. Dieser Yael wurde allmählich zu einer ziemlich irritierenden Angelegenheit.
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Siobhan hatte ihr Zimmer im Institut auf den Kopf gestellt, um etwas zum Anziehen zu finden, was nicht nach Mundie aussah. Sie zerrte ein Kleidungsstück nach dem anderen aus der Kommode und von den Kleiderbügeln des Wandschrankes, in dem sie sich am liebsten verkrochen hätte, und fand schließlich etwas.
Sie war ein Shadowhunter, verdammt. Also wollte sie auch so aussehen. Sie hatte es satt, dass sie hier fast jeder wie ein Fremdkörper, ein Kind oder eine wahlweise, wie eine Terroristin behandelte. Früher waren die anderen Shadowhunter ehrfurchtsvoll beiseite gewichen, wenn ein Branwell ihren Weg kreuzte. Selbst in Edom gab es Dämonen, die sich lieber von ihr ferngehalten hatten. Nun, das hatte wohl mehr mit Beleth zu tun, aber egal.
Wenn Siobhan Branwell zu Hass imstande wäre, würde sie alles und jeden hier hassen. Doch Wut musste vorerst reichen. Davon gab es hier genug.
Sie stand vor dem großen Standspiegel und blickte auf ihr Ebenbild. Es war nicht perfekt, aber die moderne Kampfkleidung der Shadowhunter verdeutlichte, dass sie ganz und gar kein hilfloses, kleines Mädchen war, sondern eine erwachsene und durchtrainierte Kriegerin. Ihre Haare hatte sie zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden. Um die Hüfte trug sie den leichten Ledergurt, der mit zusätzlichen Riemen am Oberschenkel befestigt war und der normalerweise eine Menge Messer, Dolche und anderes Kampfgerät beherbergen konnte.
Jace und Sebastian trugen fast die ganze Zeit ihre Waffen bei sich, warum sollte ihr das nicht genauso zustehen? Siobhan hatte keinen genehmigten Zutritt zur Waffenkammer. Nicht einmal eine Stele hatte man ihr gegeben. Auch wenn sie keine Runen mehr trug, bedeutet es nicht, dass eine Stele nicht hin und wieder ganz nützlich sein konnte. Zum Beispiel, um Schlösser zu knacken oder Türen zu öffnen, Ketten und Mauern zu sprengen – es gab genug Runen, die man aktivieren konnte, die nicht auf den Körper aufgetragen werden mussten. Sie bemerkte, wie Zorn ihr bis in den kleinsten Winkel der Seele zu kriechen versuchte.
›Zorn vernebelt den Verstand, Kind‹, mahnte sie die klare Stimme ihrer Mutter. Das stimmte. Wenn sie jetzt etwas nicht benötigte, dann eingeschränktes Denken. Gerade jetzt, wo sich die Inquisitorin angekündigt hatte. Sie würde Fragen stellen. Eine Menge Fragen. Aber es gab etwas, was Siobhan tun konnte, um diesen nagenden und absolut nicht hilfreichen Zorn zu bändigen.
Der Trainingsraum war noch unbesucht an diesem Morgen. Sie ging zu den Waffenständern und griff sich zwei der Kampfstöcke. Isabelle hatte sie beim ersten Training gefragt, was ihre Waffe sei. Inzwischen wusste hier wohl jeder, was Siobhans Waffe war. Doch wenn es um Kampfgerät ging, bevorzugte sie Stöcke, Messer, Dolche – alles, was nicht zu lang und zu schwer war. Leichte, schnelle Waffen, die sie, da sie weder Rechts- noch Linkshänderin war, beidhändig einsetzen konnte.
Sie setzte den ersten Schlag. Die Bodenfestigung des Übungsdummys klapperte bedrohlich. Aber Siobhan fing gerade erst an.
Jonathan war gerade im Sicherheitsraum neben der Zentrale angekommen und kontrollierte, wie an jedem Morgen, die Monitore der Überwachungskameras. Er schaltete sich durch die Räume und stoppte, als er zu den Kameras im Trainingsbereich kam. Er hatte Siobhan zwar schon in Aktion gesehen, aber beim ersten Mal, war sie geradezu schüchtern vorgegangen und beim zweiten Mal, war er selbst zu sehr damit beschäftigt gewesen, Dämonen zu töten. Er schaltete alle Monitore auf die Kameras des Trainingsraums und setzte sich davor. Dann lehnte er sich entspannt zurück, legte ein Bein lässig über das andere und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Einer seiner Mundwinkel zuckte und sein Blick verriet eine gewisse innere Anspannung.
Ihr schlanker, athletischer Körper bewegte sich mit der Eleganz und der Geschmeidigkeit einer Raubkatze. Jede ihrer Hiebe und angedeuteten Konter waren perfekt. Ihre Geschwindigkeit beeindruckend. Genau wie die ungezügelte Wut, die aus ihren Attacken sprach. Jonathans Gedanken glitten in eine sehr abenteuerliche Richtung, die sich auch sofort mit einem angenehm schmerzhaften Ziehen in seiner Lendengegend bemerkbar machte.
Siobhan spürte, wie mit jedem ihrer Schläge, die Wut etwas abflachte. Mit einem beherzten, letzten Hieb gegen den Hals des Dummys, zerbrach der kurze Stock in ihrer rechten Hand und der dümmlich glotzende Kopf der Attrappe flog in hohem Bogen durch den Raum. Sie betrachtete stolz das zerbrochene Stück Holz in ihrer Hand und warf es dann zu Boden. Sie wollte sich gerade einen neuen Stock nehmen, als sie eine, ihr noch unbekannte, Stimme vernahm. »Wow, das war krass. Echt beeindruckend. Wirklich. Weiß Izzy schon, dass sie Konkurrenz hat?«
Siobhan drehte sich ruckartig um. Ein paar Meter entfernt in der Tür stand ein junger Kerl. Neugierige, braune Augen, zerzauste, lockige und ebenso braune Haare und der ahnungslos, freundliche Blick eines Irdischen. Er grinste jetzt ein ebenso irdisches Grinsen und betrat den Raum. An der unteren der drei Stufen zum Trainingsparkett blieb er stehen und grinste immer noch.
Etwas an ihm irritiere Siobhan. Sie benötigte genau eine Sekunde, um zu wissen, was es war. Genauso schnell, hatte sie eines der Übungsschwerter in der Hand, stand dicht vor ihm und hielt ihm die stumpfe Klinge an die Kehle.
»Vampir«, war alles, was sie sagte, aber ihr Blick sprach Bände.
Simon riss erschrocken die Augen auf und die Hände in die Höhe. »Warte, warte!«, rief er, schielte kurz auf die stumpfe Klinge an seinem Hals und entschied, dass sie ihm auch damit ziemlich wehtun konnte. »Ich habe dir das Leben gerettet. Ich bin Simon. Simon Lewis der wahrscheinlich harmloseste Vampir von ganz New York. Und ich hab 'ne Band. Eine Ein-Mann-Band sozusagen. Aber … Na ja, ist ja auch egal.«
Sie ließ die Klinge langsam sinken. »Clarys Simon?«
Er rieb sich erleichtert den Hals und nickte. Korrigierte aber sogleich. »Nein, also nicht mehr. Ich … also das ist etwas kompliziert.«
Siobhan hing das Schwert wieder zurück in die Wandhalterung und sagte: »Das ist es doch immer, Simon Lewis.«
Er nickte verhalten und lächelte wieder sein unbedarftes Lächeln.
Siobhan musterte ihn neugierig. »Du bist also einer von den beiden, die …«
»Ja«, unterbrach er sie eifrig. »Das war echt anstrengend. Ich meine, Nephilim-Blut ist schon … also, wie soll ich sagen …«, er hoffte wohl, dass sie ihn jetzt unterbrach, doch stattdessen blickte sie ihn aufmerksam an und schien auch den Rest seines Gestammels hören zu wollen. Er gab auf, winkte ab und setzte sich auf den Treppenabsatz.
Siobhan mochte ihn, er war natürlich. Echt. Außerdem hatte er etwas Beruhigendes an sich. Das war gut, denn ihre Wut war wie weggeblasen, seit er da war. Sie setzte sich zu ihm.
»Irgendwelche Gelüste, Shadowhunter zu fressen?«
Er blickte sie begeistert an und sagte, nicht ohne Stolz: »Nein, absolut nicht. Das ist echt merkwürdig. Mir macht das gar nichts aus. Keine Gelüste nach Shadowhunter. Mir geht es geradezu blendend«, sagte er.
Siobhan nickte anerkennend. »Wow, das macht dich nicht nur zum harmlosesten, sondern auch zum sympathischsten Vampir in ganz New York.«
Er blickte sie verschmitzt an. »Wie viele kennst du denn? Hab gehört, du warst eine Weile auswärts.« Simon biss sich im selben Augenblick auf die Zunge und sah sie erschrocken an. Doch zu seinem Erstaunen lachte sie. Nicht laut und brüllend oder lang anhaltend, aber immerhin. Es war ein sympathisches, samtenes Lachen. Dann saßen sie stumm nebeneinander und starrten nachdenklich vor sich hin.
»Was ist mit dem anderen Vampir?«, fragte sie nach einer Weile.
Simon machte einen bekümmerten Gesichtsausdruck. »Bei Raphael ist das etwas anders. Aber er hat auch eine Geschichte mit Nephilim-Blut. Das wird schon wieder.«
»Haben sie ihn auch gehen lassen?«
Simon schüttelte den Kopf. »Nein, das wird noch eine Weile dauern, bis er das überstanden hat.«
»Tut mir leid«, sagte Siobhan leise.
»Ich weiß«, sagte Simon, der wie kein anderer ein Gespür dafür hatte, ob jemand etwas aufrichtig meinte oder nicht.
Clary sah Jace mit ausgestreckten Armen auf einer der oberen Ebenen auf ein Geländer gestützt stehen und nach unten blicken. Sie gesellte sich zu ihm und folgte seinem Blick nach unten. Von dieser Position aus konnte man den gesamten Trainingsbereich einsehen und auf einer der Ebenen erkannte sie Simon und Siobhan. Sie saßen dicht beieinander und unterhielten sich wohl. Clary kräuselte die Stirn.
»Die scheinen sich ja gut zu verstehen.«
Jace musterte sie kurz von der Seite. »Eifersüchtig?«
»Nein. Und du?«, konterte sie und sah ihn herausfordernd an.
Er schmunzelte und blickte wieder nach unten. »Quatsch. Es interessiert mich nur, wie dein Simon das immer wieder schafft, dass ihn jeder gleich mag.«
»Du konntest ihn zu Beginn gar nicht ausstehen«, erinnerte Clary ihn.
»Dafür hatte ich ja auch gute Gründe.«
Clary sah ihn nachdenklich an.
»Hast du gestern noch mit ihm geredet?«, fragte er.
Ihr Gesicht wirkte jetzt etwas gequält.
»Ja, aber es war eine blöde Idee, mit ihm reden zu wollen, während er total high von Nephilim-Blut alles toll fand, was ich zu sagen hatte. Ich denke, er erinnert sich heute nicht mal daran, dass ich überhaupt da war.«
»Jammerschade«, sagte Jace mit gespielt betroffener Miene. »Dabei hatte er keine Chance, vor deiner Ansprache zu fliehen. Wer weiß, wann du ihn mal wieder eingesperrt in einer Zelle vor dir hast.«
Sie boxte Jace gegen den Oberarm.
Er blickte sie völlig unbeeindruckt an. »Was sollte das bitte sein?«
»Blödmann«, sagte sie, lächelte aber und ging dann kopfschüttelnd weiter.
Siobhan und Simon grinsten um die Wette, als er ihr versuchte zu demonstrieren, wie Musik sich heutzutage anhörte – was Alternative, Ethno oder Rock war. Ihre Kenntnisse der modernen Musik endeten bei Jazz und Swing. Er raufte sich zum Spaß die Haare, wenn sie ihn zum wiederholten Male anguckte, als würde sie sagen: Was zum Geier?
»Oh Mann, du musst wirklich zu meinem nächsten Konzert kommen. Ich weiß nicht, wie ich dir das sonst erklären soll.«
»Du könntest mir auch Musik auf eines dieser kleinen Abspielpod...dings pressen, so eines, wie Clary hat.«
Simon musste über diese Formulierung schmunzeln. »Ja, das ist natürlich viel einfacher«, gab er zu und schlug sich mit dem Handballen gegen die Stirn.
Siobhan lächelte.
Simon mochte ihr Lächeln. Es hatte etwas Reines und Ungefährliches. Ganz im Gegenteil zu dem Eindruck, den er noch vor etwa fünfzehn Minuten von ihr hatte, als sie den Dummy enthauptet hatte und Simon shadowhuntermäßig die Vampirzähne ziehen wollte. Bildlich gesprochen.
»Brauchst du einen Partner, der nicht so schnell den Kopf verliert?«, unterbrach Sebastian Verlac diese friedliche Zweisamkeit und hob den Kopf des Dummys vom Boden auf. Er sah Siobhan an, als wäre Simon gar nicht anwesend.
Simon hatte das Gefühl, dass sich sofort die ganze Atmosphäre in dem Raum verändert hatte. Auch Siobhan war anders. Sie wirkte unruhig und ein wenig kühler. Das sprichwörtlich fünfte Rad am Wagen zu sein, kannte Simon schon, also klopfte er sich mit den Handflächen auf die Oberschenkel und stand auf. »Ich muss jetzt sowieso los. Vampirzeugs erledigen und so.«
Siobhan sah ihn an, als wäre ihr gerade erst wieder eingefallen, dass er noch da war und nickte abwesend. »Ja. Mach das«, sagte sie und schaute wieder zu Sebastian, der bereits um die Ständer mit den Übungswaffen herumschlenderte und nach einer geeigneten Waffe zu suchen schien. Als Siobhan wieder zu Simon sehen wollte, war der bereits fort.
Sie stand auf und beobachtete, wie Sebastian einen der längeren Übungsstöcke nahm, ihn in seiner Hand herumwirbeln ließ und sie herausfordernd ansah. Seine Augen funkelten in gespannter Erwartung.
Sie lächelte frech. »Ziemlich großspurig.«
»Na, dann komm her und …«
Blitzschnell hatte sie zwei Kampfstöcke zur Hand und stand vor ihm, noch bevor er den Satz beenden konnte. »Und was?«
Er griente, schlug zu und sie parierte mühelos.
»Hm«, machte sie und spottete. »Ich denke, du wirst genauso deinen Kopf verlieren, Verlac.«
Er stand plötzlich hinter ihr, einen Arm unter ihrem Kinn, den anderen von hinten um ihren Bauch geschlungen und antwortete: »Bei dir? Vielleicht, Branwell.«
Sie befreite sich aus der Zange und traf ihn diesmal mit einem gezielten Schlag gegen den Brustkorb. Der Atem blieb ihm für eine Sekunde weg, dann kam er Schmerz und ein Lächeln stahl sich in sein Gesicht.
»Schludrig«, sagte er, was ihm sogleich den zweiten Schlag, dieses Mal gegen die Milzregion, einbrachte.
»Dito«, sagte sie. Ließ dann ihre Deckung sinken, weil es nicht so aussah, als würde er gerade eine allzu große Herausforderung darstellen. »Also entweder, hast du keine Lust oder du stehst auf Schmerz«, lästerte sie.
»Nein und ja«, entgegnete er und bevor sie realisieren konnte, wie er das gemeint hatte, fand sie sich mit dem Rücken gegen die Wand unter seinem festen Griff gefangen.
Ihre Mundwinkel zuckten amüsiert. »Angeber.«
Sein Blick hatte jetzt etwas Lauerndes und sein Körper presste ihren fest gegen die Wand, während er ihre Arme dabei so an ihren Körper drückte, dass es schwer wäre, sich aus dieser Lage zu befreien. Vielleicht strengte sie sich auch gerade nicht besonders an. Seine freie Hand lag an ihrem Hals, es war kein fester Griff, fast schon zärtlich legten sich seine Finger um ihren Hals.
»Ist etwas zu heiß hier drinnen, findest du nicht auch?«, sagte sie mit Unschuldsmiene.
Er lachte, ließ sie los und entschuldigte sich: »Tut mir leid. Das war wohl etwas plump.«
Sie nickte, konnte ihr Grinsen aber nicht verstecken. »Ein wenig.«
Jaces Kiefermuskeln zuckten unaufhörlich. Isabelle musterte ihn aufmerksam. Er hatte ihre Anwesenheit noch nicht bemerkt und zuckte förmlich zusammen, als sie sagte: »Das ist kein Training, das ist ein Balztanz.«
Jace sah sie mürrisch an. »Ja.«
Seine knappe Antwort machte Isabelle neugierig. »Du weißt schon, dass die beiden ein Paar sind, oder?«
Er stützte sich ruckartig von dem Geländer ab und sah Isabelle befremdet an. »Wann ist das denn passiert?«
Isabelle hob vielsagend die Brauen. »Also, passiert ist ganz sicher heute Nacht etwas zwischen den beiden. Und wenn man sie so beobachtet, kann man davon ausgehen, dass es bei einer Nacht nicht bleiben wird.«
Izzy schien das ganz toll zu finden. Jace hingegen – nicht so sehr. Er wusste nicht einmal genau, warum. Aber es hatte mehr mit Sebastian, als mit Siobhan zu tun. Nicht, dass er den Briten nicht leiden konnte, aber er fand nicht, dass er der Richtige für Branwell war. Sebastian Verlac hatte etwas Lauerndes und Besitzergreifendes an sich. Versteckt hinter seiner, englisch höflichen Art vermutete Jace hin und wieder etwas Gefährliches.