Die dunkelste Stunde des Tages,
ist die Stunde vor dem Sonnenaufgang.
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Siobhan fühlte sich benommen. Ihre Arme und Beine waren wie festgeschweißt. Ihre Augen zu öffnen, war unmöglich.
»Muss das wirklich sein?«, hörte sie Jonathans Stimme. Sie konnte ihren Kopf nicht in die Richtung zu drehen, aus der seine Stimme gekommen war.
»Ja! Das muss es!«, schimpfte Valentine. »Dieser dreckige Hexenmeister. Ich will wissen, was er mit dem Kelch gemacht hat! Wieso funktioniert er nicht? Bist du sicher, dass sie dich nicht belogen hat, was Lake Lyn betrifft?«
Siobhan hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen.
»Sie wird wach«, hörte sie Jonathan sagen, dann Schritte auf Beton, die sich ihr näherten. Jemand berührte ihr Gesicht und drehte ihren Kopf.
»Siobhan?«
Ihre Kehle fühlte sich zugeschwollen an, der Mund trocken und ihre Lippen verklebt. Sie konnte nichts von sich geben, außer einem leisen Stöhnen.
»Wieso musstest du ihr das antun?«, knurrte Jonathan.
»Du hast doch gesehen, was sie mit der alten Herondale gemacht hat. Es ist besser so«, antwortete Valentine.
Kurz war es still.
Siobhan fühlte Jonathans Nähe, seine warmen Hände.
»Geh beiseite!«, befahl Valentine ruppig und im nächsten Augenblick spürte sie den kalten, harten Schlag in ihrem Gesicht. Ihre Augen sprangen auf und starrten ihn an.
»Na, geht doch«, grollte er.
Ihr Blick irrte umher. Sie versuchte herauszufinden, wo sie war. Sie lag auf etwas Hartem. Ihre Hände und Füße waren fixiert und der Raum besaß keine Fenster. Überall an den Wänden befanden sich Engelsrunen und weitere Symbole, die nichts mit den Nephilim zu tun hatten.
Da wusste sie es. Ihr Blick schnellte zurück zu Valentine.
»Willkommen Zuhause, Branwell«, sagte Valentine selbstgefällig. »Dein Vater hatte hier ein nettes, kleines Labor für seine Experimente. Das muss ich schon sagen. Und der Rest eures Anwesens ist nicht minder beeindruckend. Eine Schande, dass der Rat es so lange vor mir versteckt hat. Und was für eine Schande, dass dein dummer Hexenmeister mir, vor seinem Tod, nicht verraten konnte, was er mit dem Kelch angestellt hat.« Valentines Blick wurde eisig und seine Finger griffen so fest ihr Kinn, dass es schmerzte und sie laut aufstöhnte.
Siobhans zorniger Blick ging an Valentine vorbei zu Jonathan, der dort stand und ihren Blick mied – wie schon zuvor, als er Yael getötet hatte.
»Du brauchst gar nicht nach Jonathan zu schielen. Er wird dir nicht helfen. Du hattest deine Chance. Am Ende weiß der Junge eben, zu wem er gehört und wem er vertrauen sollte.«
Siobhan spuckte Valentine ins Gesicht.
Seine Antwort darauf war ein weiterer harter Schlag.
»Okay, du willst es auf die Tour«, zischte er. »Kannst du haben« und schlug abermals zu.
Jonathan hatte bei beiden Schlägen gezuckt. Seine Hände waren zu Fäusten geballt, doch er war nicht imstande auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Sein Körper bestand nur noch aus Spannung, alles schmerzte und sein Inneres war zu einer wirren, undefinierbaren Masse aus Angst, Wut und Elend verschmolzen.
»Also«, zwang Valentine sie wieder, ihn anzusehen. Er hielt ihr den Kelch so dicht vor das Gesicht, dass sie dessen Energie darauf spüren konnte. Es fehlte ihm jedoch das typisch henochische Glühen eines Engelsartefaktes, wenn ein Nephilim es berührte.
»Was hat dein Warlock damit angestellt? Warum funktioniert er nicht?«, bellte Valentine wie ein wütender Köter.
Siobhan sah ihn schadenfroh an. »Ich weiß nicht, was Sie meinen.«
Das war gelogen. Sie hatte sehr wohl eine Ahnung, was Yael getan hatte. Dafür kannte sie ihn zu gut.
Plötzlich betrat einer von Valentines Schattenjägern das alte Labor.
»Der Rat hat bereits alle verfügbaren Truppen zum Brocelyn Wald gesandt. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis wir keine Zugangsmöglichkeit zum See mehr haben«, sagte er.
Valentine sah ihn grimmig an. »Also, weiß der Rat auch vom See. Verdammt!«
»Und da wäre noch etwas«, sagte der Schattenjäger, »Der Dämon ist aus dem Institut entkommen.«
»Was?«, mischte sich Jonathan ein. Sein Blick ging kurz zu Siobhan.
Valentine hob kurz die Schultern. »Das sollte uns hier nicht weiter stören. Ein Dämon kann nicht nach Idris vordringen. Das ist unmöglich.«
Siobhan murmelte: »Er war schon einmal hier. Genau in diesem Haus.«
Valentines Kopf schnellte herum. Nachdenklich rieb er sich das Kinn. »Und er ist an einen Nephilim gebunden. Er kann somit überall dahin, wo du bist. Jonathan, finde heraus, was der Warlock mit dem Kelch gemacht hat.«
Dann verstaute er das Artefakt in seiner Tasche. Er tätschelte seinem Sohn im Vorbeigehen die Wange und sah ihn nun tief und warnend in die Augen. »Ich muss los und dafür sorgen. Also musst du hier die Stellung halten. Ich zähle auf dich. Und lass dich nicht wieder von ihr um den Finger wickeln. Finde heraus, was Yael mit dem Kelch gemacht hat.«
Jonathan nickte und sah Valentine hinterher, der mit seinen Schattenjägern davoneilte. Als er wieder zu Siobhan blickte, merkte er, dass sie ihn wütend ansah. »Mach mich los.«
Er sah sie verständnislos an.
»Er wird nicht zurückkommen«, sagte sie. »Er hat dich einmal verlassen und er wird es wieder tun.«
Jonathan ging zu ihr. »So, wie Yael dich verlassen hat, dich in der Hölle hat schmoren lassen und erst dann kam, als du etwas für ihn erledigen solltest?«
Siobhan drehte ihren Kopf zur Seite.
»So, wie du mich verlassen hast«, fügte Jonathan etwas leiser hinzu.
Sie sah ihn wieder an. »Ich hätte gar nicht hier sein dürfen. Nicht hier, nicht in dieser Zeit. Wir hätten uns niemals begegnen dürfen.«
Ein kurzes, irritiertes Zucken zwischen seine Augen verriet, dass seine mühsam aufrecht gehaltene, kalte Fassade zu bröckeln drohte. Doch dann hielt er ihr plötzlich ein Buch vor die Nase. »Weißt du, was das ist?«
Sie wandte ihr Gesicht wieder ab.
»Ja, das dachte ich mir!« Wütend öffnete er eines von Yaels Tagebüchern, dass er wohl im Haus entdeckt haben musste und las laut daraus vor: »Heute ist es so weit. Ich werde Beleth an Siobhan binden. Wenn sie ist, was sie sein sollte, dürfte die Hölle kein Problem für sie darstellen.« Jonathan hielt kurz inne und versuchte, in Siobhans Gesicht zu lesen. Doch, nichts. Er blätterte um. »Ich hoffe, die Bindung zwischen ihr und Beleth ist bereits stark genug, denn sonst wird der Zauber nicht funktionieren. Diese Schattenrune ist launisch. Ich war lange Zeit eifersüchtig, weil ich dachte, mein Vater habe Gefühle für sie, als er mir als sein Sohn jemals entgegenbringen wollte. Doch Fakt ist, das Konzept väterlicher Liebe ist ihm nach wie vor fremd. Und ein Tropfen Blut mache ihn nicht zu ihrem Vater, hat er oft genug betont. Verdächtig oft.« Jonathan hielt inne und sah sie aufmerksam an.
Siobhan war es dieses Mal, die ihm nicht in die Augen sehen konnte. Doch wie Valentine zuvor, griff er ihr Kinn und zwang sie so, ihn anzusehen.
»Hattet ihr zwei eine kuschlige Zeit in Edom?«
Sie schwieg.
Er ließ von ihr ab, stampfte wütend zur anderen Seite des Raumes und sah sie zornig an. Er schüttelte den Kopf und gab ein zynisches, bitteres Lachen von sich. »Ich habe dir vertraut«, brüllte er mit dämonisch, schwarzen Augen. »Wie noch nie jemandem zuvor.«
Eine Träne rann ihr aus dem Augenwinkel.
Er blickte abwesend ins Leere. »Ich hätte alles für dich getan, Branwell. Ich wusste, dass du Geheimnisse hast, aber ich dachte, wenn wir vielleicht noch etwas Zeit hätten, dass du dann … keine Ahnung. Stattdessen …«, er verstummte.
»Ich versuche, dich zu beschützen«, sagte sie leise.
Er ging wieder zu ihr, seine Hand berührte ihre Wange. Sein Blick war flehend, seine Lippen fast auf ihren und seine Hand begann zu zittern.
»Ich würde dir so gern glauben.«
Plötzlich fühlte Jonathan eine unheilvolle Energie, die sich ihm von hinten näherte, er schnellte herum und sah Beleth dort stehen.
»Du bist so erbärmlich, Morgenstern«, sagte der. »Sie gibt sich für dich auf und du benimmst dich wie ein ungeliebtes, bockiges Kind. Was du auch bist. Machen wir uns nichts vor.«
Der Dämon stand in der Tür, die Hände tief in den Taschen seiner Hose und mit einem verächtlichen Lächeln auf dem Gesicht. Wie kam es, dass dieser Bastard jedes Mal aussah, wie aus dem Ei gepellt? Jonathan sah ihn grimmig an und hatte bereits in jeder Hand ein Schwert.
Beleth trat unbeeindruckt näher.
»Die Sache ist die, Morgenstern – Siobhan ist hier, weil sei deinen kleinen, flegelhaften Hintern zurück in die Hölle befördern sollte. So, jetzt ist die Katze aus dem Sack. Schon klar, dass sie dir das nicht auf die Nase bindet, oder?« Er lachte leise und zwinkerte Siobhan frech zu.
»Was?«, Jonathans Miene und Körperhaltung froren augenblicklich ein.
»Aber …«, Beleth seufzte und schüttelte seufzend den Kopf, »… ich hätte mir denken können, dass sie wieder etwas Dummes tut. So ist sie eben.«
»Halt den Mund«, versuchte Siobhan, ihn zu stoppen.
Doch ihn interessierte das nicht. Er ging einen weiteren Schritt auf Jonathan zu und sagte, nun weniger entspannt, und mit einem drohenden Funkeln in seinen Augen: »Lilith will dich zurück, Morgenstern. Dich oder sie. So ist ihr Deal.«
Jonathan schluckte. Fühlte er sich zuvor elend, so war das, was er jetzt fühlte, vergleichbar mit dem Moment, als sein Vater ihn in die Hölle verbannt hatte. Der Dämon mit dem Engelsgesicht tippte ihm grob gegen die Brust und sagte leise: »Sie war schon immer eine wenig unberechenbar, unsere Siobhan. Sie konnte nicht einmal die widerlichsten Kreaturen töten, ohne sich danach schuldig zu fühlen. Kannst du dir das vorstellen? Ihre Empathie ist ein Fluch. Andererseits, gut für mich.« Er lachte wieder. Diesmal auf eine zweideutige und äußerst unangenehme Art.
»Sei still«, fuhr Siobhan Beleth erneut an und zerrte an ihren Handfesseln.
Beleth hielt inne, blickte kurz zu ihr und wandte Jonathan den Rücken zu. »Ich bezweifle jedoch, dass sie jetzt noch viel Mitgefühl für dich übrighat.«
Jonathan überlegte Beleth in den Rücken zu stechen. Aber, was sollte das bringen? Dieser Dämon war unbesiegbar. Beleth hob plötzlich seine Hand, bewegte kaum merklich die Finger und Siobhans Fesseln an Handgelenken und Füßen lösten sich. Ohne sich noch einmal umzudrehen, sagte er: »Wir sehen uns«, löste sich einen Schwarm Nachtfalter auf und verschwand
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Der ohrenbetäubende Lärm des Alarms im Institut zerrte an Alecs Trommelfellen und seinen ohnehin schon gespannten Nerven. Jace war blass. Immer mehr Leichen wurden nach oben gebracht. Zum Teil entsetzlich verstümmelt. Ohne Frage, Beleths Werk.
»Es war nicht deine Schuld, Jace«, redete Clary auf ihn ein, aber er stand nur da, mit beiden Händen auf den Tisch gestützt und stierte vor sich hin.
»Ich frage mich, wie lange die Inquisitorin schon tot ist«, sagte Alec leise zu Isabelle, die jetzt auch einen besorgten Blick zu Jace warf.
»Was, wenn sie zu diesem Zeitpunkt, als Jace mit ihr geredet hat, schon dieser Hexenmeister war, der Beleth herausgelassen hat?«
»Es ist unfassbar. Kannst du dir vorstellen, wie lange Polidori hier Arzt war, ohne dass auch nur einer von uns geahnt hat, wer oder was er wirklich ist?«, sagte Isabelle.
»War«, korrigierte Jace und knirschte mit den Zähnen. Der taktische Alarm hörte in diesem Moment auf zu plärren und alle atmeten auf.
»Ich verstehe das alles nicht«, sagte Clary.
»Ich schon.« Jace stieß sich energisch vom Tisch ab und blickte verbittert in die Runde.
»Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Raphael hat uns zu Valentines Loft geführt, dann in die Bar. Yael ist tot und wir sind immer zu spät. Valentine hat nun alles, was er braucht.«
»Aber warum haben sie den Spiegel zurückgelassen?«, grübelte Isabelle und sah auf das goldene Artefakt in Clarys Händen.
Clary drehte den Spiegel schon seit einer Weile nachdenklich in ihrer Hand. Öffnete ihn und schloss ihn wieder. Doch plötzlich blickte sie auf und sagte: »Weil das nicht der Spiegel ist.« Sie nahm ihre Stele und zeichnete eine Rune darauf. Das vermeintliche Engelsartefakt zerfiel sofort zu Staub.
Alle starrten entsetzt auf die Asche in ihrer Handfläche. »Das ist kein Insigne. Sonst wäre das nicht passiert«, sagte sie, und ihre Augen weiteten sich in schlagartiger Erkenntnis. »Natürlich! Meine Träume, die Visionen, alles seitdem ich im See … in Idris … es ist der See!«
»Lake Lyn!«, Alec und Isabelle sagten es fast gleichzeitig.
Kurz sahen sich alle verblüfft an.
Jace war der Erste, der sich wieder gefasst hatte.
»Kein Wunder, dass Raphael Siobhan nicht mehr aufspüren konnte. Sie sind bereits in Idris.«
»Oh, bei den Engeln«, sagte Isabelle erschrocken. »Was, wenn es zu spät ist?«
Jaces Blick ging zur Seite, zu dem Bereich, wo die Opfer Beleths aufgebahrt waren. Magnus stand dort, und blickte wie versteinert auf eines der Totentücher.
»Nein«, sagte Jace. »Noch, sind wir nicht zu spät.«
Er ging zu den Waffenschränken und stattete sich von Kopf bis Fuß mit allem aus, was tödlich war und was er verstauen konnte. Alec wollte es ihm gleichtun, doch Jace hielt ihn zurück.
»Nein, du musst hierbleiben. Wir wissen noch nicht, ob Beleth zurückkommen wird. Wir benötigen ein funktionierendes Institut. Wir können hier nicht alles und jeden führungslos zurücklassen. Du und Magnus – kriegt euch wieder ein, rauft euch zusammen – keine Ahnung, aber ihr müsst hier die Stellung halten. Isabelle, Clary und ich kümmern uns um Valentine und Jonathan, und wenn es sein muss, auch um Siobhan. Ich habe dermaßen die Schnauze voll. Das alles muss jetzt aufhören.« Er sah zu Isabelle und Clary, die ebenso entschlossen nach den Waffen griffen.
Alle sahen Alec nun erwartungsvoll an.
»Okay. Aber seid vorsichtig.«
Jace ging auf ihn zu, umarmte ihn und sagte: »Ich bin die Vorsicht in Person.«
Alec schüttelte sorgenvoll den Kopf und ließ die Drei ziehen.
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Jonathan stand immer noch wie angewurzelt, während Siobhan, auf wackligen Beinen, durch das Labor ihres Vaters wankte. Sie schaffte es nur mühsam zu der anderen Seite des Raumes, dorthin wo ihre Dolche lagen und griff nach ihnen, als Jonathans Finger sich fest um ihr Handgelenk schlossen und sie daran hinderten.
Er sagte immer noch keinen Ton, sah sie nur emotionslos an.
»Ich hätte dich schon unzählige Male zurück nach Edom schicken können«, sagte sie und strauchelte.
Jonathan hielt sie unter den Armen aufrecht. »Ich weiß.«
Siobhan hatte Mühe, die Augen offenzuhalten. Ihr Körper wurde immer schwerer. »Der Kelch …«, lallte sie.
»Was ist damit?«
Siobhans Augen fielen zu.
Jonathan schüttelte sie leicht. »Was ist damit?«
Ein müdes Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Er kann ihn nicht … Yael hat ihn an mich … nur ich kann …« Bevor sie den Satz beenden konnte, erschlaffte ihr Körper.
Jonathan bewahrte sie vor dem Fall und hob sie auf seine Arme.
»Schon gut«, sagte er leise. »Niemand geht zurück nach Edom.« Seine Lippen berührten ihre Stirn, er verharrte so einen Moment und trug sie dann zur Tür hinaus.
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Valentine stand am Ufer des Sees und blickte wütend auf den Kelch in seiner rechten Hand. Jedes Mal, wenn die Spitze des Schwertes auch nur ansatzweise das Wasser berührte, breitete sich ein gleißender, himmlischer Schein auf der Wasseroberfläche aus. Wenn er jedoch den Kelch dazu ins Wasser hielt, verschwand das Licht wieder. Egal, wie oft Valentine es probierte, es war immer dasselbe. Wütend schleuderte er den Kelch ins hohe Ufergras. »Was verdammt, hat dieser Warlock damit gemacht!«
Einer seiner Schattenjäger kratze sich ratlos die Stirn und mutmaßte: »Vielleicht ist das ja nicht der richtige Kel...«
Seine Stimme erstarb unter blutigem Gurgeln, verursacht durch Valentines Dolch, der plötzlich in seiner Kehle steckte. Der Schattenjäger sackte zu Boden. Valentine ging zu ihm, zerrte seinen Dolch aus dessen Hals, wischte das Blut an dessen Kleidung ab und verstaute die Waffe wieder an seinem Gürtel. Dann blickte er in die Runde.
»Noch, jemand hier mit einer schlauen Idee?«
Jeder der Anwesenden senkte sofort seinen Blick.
»Ich«, hörte er plötzlich die Stimme seines Sohnes aus der Nähe.
Valentines Blick irrte umher, doch in der Dunkelheit konnte er kaum etwas erkennen. Er wollte gerade mit seiner Stele die Nachtsichtrune aktivieren, da sah er Jonathan mit dem Mädchen auf dem Arm aus dem Dickicht kommen.
»Sie kann es«, sagte Jonathan.
»Sie kann was?«, fragte Valentine.
»Der Hexenmeister hat dafür gesorgt, dass nur sie den Kelch benutzen kann«, erklärte Jonathan.
Valentine ging auf seinen Sohn zu und sagte: »Ich bin stolz auf dich, Jonathan. Das hast du wirklich gut gemacht.«
Jonathan schenkte ihm ein falsches Lächeln und legte Siobhans Körper im hohen Gras ab. Die Behutsamkeit, mit der er das tat, machte Valentine misstrauisch. »Was hat sie dir erzählt?«, wollte er wissen und trat wieder einen Schritt zurück.
Jonathans Blick ging kurz an Valentine vorbei zum See, wo das Seelenschwert im nassen Sand der Uferböschung steckte. »Nicht viel. Aber ich kann logisch denken«, sagte er scheinheilig.
Valentines Augen wurden schmaler. »Sie muss ihn also nur halten und er wird funktionieren?«
Jonathan hob kurz die Schultern und blickte zu dem Kelch, der unweit von ihnen im hohen Gras lag. Valentine hob ihn eilig auf, ohne Jonathan aus den Augen zu lassen.
»Was hast du vor, Jonathan?«, fragte er mit bedrohlichem Unterton in der Stimme. »Deine Schwäche für sie ist offensichtlich.« Sein Blick ging kurz zu Siobhan. »Und das wird dein Untergang sein.«
»Ist das so«, sagte Jonathan unbeeindruckt.
»Du hast keine Chance gegen mich, Junge. Ich habe dich ausgebildet.«
Jonathans Mundwinkel zuckte amüsiert. »Nicht nur du hast mir etwas beigebracht.«
Pfeilschnell hob er seine rechte Hand und durch eine unsichtbare Kraft wurde Valentine mehrere Meter zurück ins hohe Gras geschleudert. Jonathan hob schnell den Kelch auf, den Valentine fallen gelassen hatte und sah zu Siobhan, die sich nun auch wieder zu regen begann. Er hockte sich neben sie, strich ihr das Haar aus dem Gesicht und drückte ihr den Kelch in die Hand. Sofort begann das Engelsartefakt golden zu glühen.
»Alles wird gut. Versprochen.«
Valentine hatte sich wieder aufgerappelt, sofort Schwert in der Hand und er ging zornigen Schrittes auf Jonathan zu. Einige seiner Schattenjäger wollten sich ihrem Anführer anschließen, doch er hielt sie mit einer energischen Geste davon ab.
Jonathan stand augenblicklich und parierte die erste Attacke seines Vaters mühelos. Ein zweiter Hieb streifte sein Gesicht und hinterließ einen tiefen Schnitt an seiner Wange. Jonathan grinste und verpasste seinem Vater einen Tritt, dass dieser beinahe das Gleichgewicht verlor, doch das Dutzend Schattenjäger, welches Valentine dabeihatte, scherte sich nun nicht mehr um Valentines Anweisungen und sie stürmten alle auf Jonathan zu, der nun doch etwas Mühe hatte, den Attacken auszuweichen. Er wurde dabei immer weiter von Siobhan weggetrieben und sah nur noch, wie Valentine das Mädchen am Handgelenk griff und über den Boden zum Ufer des Sees zerrte, dann das Schwert in den See legte, und ihre Hand mit dem Kelch ebenso ins Wasser tauchte.
Erst jetzt gelang es Jonathan, einen Schattenjäger nach dem anderen zu töten. Doch es war bereits zu spät. Über und über mit dem Blut der Schattenjäger besudelt stand er dort, in jeder Hand ein Schwert und musste mit ansehen, wie der See zu leuchten begann.
»Raziel!«, rief Valentine und stieg über Siobhans Körper hinweg einen Schritt tiefer ins Wasser. »Erhöre mich! Ich rufe die Insignien der Engel an und hole dich in dieses sterbliche Reich.«
Aus der Mitte des Sees schoss plötzlich ein grelles, goldgelbes Licht empor und formte nach und nach die Umrisse eines gewaltigen, geflügelten Wesens. Valentines Körper bebte vor Faszination und Demut vor dieser beeindruckenden himmlischen Macht.
Eine dröhnende Stimme ertönte. »Es ist tausend Jahre her, dass ich zuletzt gerufen wurde«, sprach der Engel. »Warum rufst du mich jetzt, Nephilim?«
Valentine wollte gerade seinen Wunsch formulieren, den Wunsch, der die gesamte Welt von dämonischem Blut der Halbwesen reinigen sollte, als ein Ruck durch seinen Körper ging.
Und dann noch einer.
Glühend heißer Schmerz folgte umgehend. Perplex sah Valentine an sich hinunter und bemerkte zwei spitze, rot leuchtende Klingen aus seiner Brust ragen. Er konnte kein weiteres Wort formulieren, da Siobhans Klingen je in seinem rechten und linken Lungenflügel steckten. Er fühlte, wie sich seine Atemorgane bereits mit Blut füllten und spuckte den ersten Schwall der salzig warmen Flüssigkeit in seine Hand. Überrascht starrte er auf das helle Rot, fuhr herum und sah ebenso erstaunt in Siobhans Gesicht.
Die Klingen steckten immer noch in seinem Körper. Keine Spur mehr von ihrer Schwäche – weder in ihren Augen noch in ihrer Haltung. Wie war das möglich? Die Menge an Betäubungsmittel, die er dem Mädchen verabreicht hatte, hätte einen Ochsen lahmgelegt.
Dann sah er es – das helle, feurige Schimmern der Schattenrune an ihrem Hals. Das konnte nur eins bedeuten. Beleth war ganz in der …
Valentine kam nicht dazu, diesen Gedanken zu Ende zu denken, weil die zwei Klingen, die immer noch in seinem Rücken steckten, ruckartig herausgerissen wurden und durch ein Schwert ersetzt wurden. Die blau leuchtende Klinge seines Sohnes hatte sein Herz und seine Wirbelsäule durchstoßen. Das Letzte, was Valentine hörte, war Jonathans Stimme an seinem Ohr: »Lebwohl, Vater.«
Jonathan zog sein Schwert wieder aus Valentines Körper und sah ungerührt zu, wie der letzte Rest Leben aus Valentine schwand.
Siobhan stand wankend vor ihm, durchnässt bis auf die Knochen. Er sah sie an und wusste zum ersten Mal genau, was er empfand. Es war jedoch zu überwältigend, um es in Worte zu fassen. Also küsste er sie und sagte dann: »Befreie dich von Lilith.«
Siobhan blickte kurz über ihre Schulter, wo die Erscheinung des Engels zu einem grell leuchtenden, abwartenden Schein in der Dunkelheit geschrumpft war. »Raziel müsste Lilith vernichten, um diese Vereinbarung nichtig zu machen. Ist es wirklich das, was du willst?«
Jonathan schluckte. Er wusste es nicht. Er wusste nur, dass er Siobhan auf keinen Fall gehen mehr lassen wollte.
Als hätte sie seinen Gedanken gehört. »Du musst mich gehen lassen, Jonathan.«
Er schob sie von sich, schnaubte wütend, zerrte eines seiner Messer aus dem Halfter und schnitt sich in die Handfläche, sodass sein Blut in den See tropfte. »Nein.«
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Jace, Clary und Isabelle schlichen durch den Brocelyn-Wald und konnten kaum glauben, was sie sahen. Die Hälfte der Truppen von Idris, war unter dem Kommando eines Generals, der Valentines Zirkel angehörte.
Schattenjäger, die sich gegenseitig bekämpften, während Valentine am Lake Lyn machen konnte, was er wollte. Sie mussten das um jeden Preis verhindern.
»Es ist nur noch dieses Lager zwischen uns und dem See«, sagte Jace. »Ich werde sie eine Weile beschäftigen, dann könnt ihr euch dort an der Lichtung zum See vorbeischleichen.«
»Nein. Ich lenke sie ab«, sagte Clary. »Ihr geht zum See.«
Jace sah sie ungläubig an.
»Isabelle hat ihre neue Peitsche. Das Elektrum darin, ist das Einzige, was Jonathan und Siobhan aufhalten kann. Und du bist der einzige Kämpfer, der es mit Valentine aufnehmen kann.«
Clary hatte recht. Trotzdem … »Clary, ich lasse dich hier nicht zurück.«
Sie wedelte mit ihrer Stele und rollte mit den Augen. »Ich komme schon klar. Nun geht schon!«
In diesem Augenblick erhellte ein gleißend helles Licht die beginnende Nacht über dem Wald. »Oh, verdammt«, schimpfte Isabelle. »Wir sind zu spät!« Kurz starrten die Drei sich erschrocken an und dann gab es keine weitere Diskussion mehr. Clary machte sich sofort auf den Weg zum Lager der abtrünnigen Schattenjäger und sorgte für die Ablenkung, die Jace und Isabelle nutzten, um unbemerkt an ihnen vorbeizukommen.
Als sie an der Böschung zum See ankamen, bot sich den beiden ein groteskes Bild. Überall am Ufer lagen getötete Schattenjäger. Valentines Leute. Am Ufer selbst, bis zu den Knien im Wasser, standen Jonathan und Siobhan und küssten sich. Zu ihren Füßen schwamm eine weitere Leiche und färbte das Wasser um die beiden herum dunkelrot. Jace erkannte, dass es Valentine war. Und hinter den beiden schimmerte das himmlische Licht des erweckten Engels Raziel.
Der Engel war gerufen, aber offenbar wurde noch kein Wunsch geäußert.
Jonathan und Siobhan hatten die beiden noch nicht bemerkt und schienen sich wohl nicht ganz einig, über … was auch immer. Doch im nächsten Augenblick griff Jonathan nach einem Messer, schnitt sich in die Hand und ließ sein Blut in den See tropfen.
»Fuck«, schimpfte Jace, kaum aus der Deckung und spurtete auf die beiden zu. Noch während er rannte, zog er einen seiner Dolche aus dem Gürtel und schleuderte ihn auf Jonathan.
Jace wusste genau, was er tat. Er hatte die Stelle in Jonathans Nacken anvisiert, die den dritten und den vierten Halswirbel verband. Er würde auf der Stelle tot sein und er würde, was auch immer für einen Wunsch er vorhatte zu formulieren, nicht mehr dazu kommen.
So war der Plan.
Die Realität sah anders aus. Jaces Dolch blieb in Siobhans Hals stecken. Sie hatte Jace entdeckt, als er die Uferböschung hinuntergestürmt kam und Jonathan im letzten Moment beiseitegestoßen.
Jace blieb wie angewurzelt stehen.
Jonathan begriff erst gar nicht, was passiert war. Sein Herz wollte kurz aufhören zu schlagen, als er sah, wie das Blut fontänenartig aus Siobhans Hals schoss. Er sank in die Knie und hielt sie so vor dem Fall.
Sie sah ihn erschrocken an und gurgelte: »Ich … k… kann nicht sterb... en … ist schon … okay.«
Sein Kopf schnellte zu Jace, der an einer Art Schockstarre zu leiden schien, er schleifte Siobhan aus dem Wasser ans Ufer und stürzte sich sofort auf ihn. Jace konnte gerade noch die wütende Attacke abwehren.
Ihre Schwerter prallten mit voller Wucht aufeinander.
»Der Dolch war für dich bestimmt«, knurrte Jace.
Die Antwort darauf war eine Salve von Schlägen und ein abschließender kräftiger Tritt gegen seinen Körper, sodass Jace das Gleichgewicht verlor und auf dem Rücken landete. Unnatürlich schnell war Jonathan bei ihm. Mit hassverzerrter Fratze und Augen so schwarz wie Teer lauerte er über ihm und drückte ihm sein Schwert gegen den Hals. Das scharfe Metall schnitt bereits in Jaces Fleisch. Seine Arme zitterten unter der Anstrengung und er konnte nichts dagegen tun, dass Jonathan mit seiner noch freien Hand einen Dolch aus dem Ärmel schob und ihm ihn in die Seite rammte.
Isabelle war unterdessen bei Siobhan am Ufer und hielt ihren Kopf.
Die Wut auf Siobhan war nicht weniger, aber als sie in die ängstlichen Augen des Mädchens blickte, fühlte sie doch etwas Mitleid. Der Sand unter Siobhan war getränkt von ihrem Blut und immer noch strömte es ungehindert aus der Arterie an ihrem Hals.
Isabelle presste ihre Hand fester auf die Stelle.
»Du kannst nicht sterben. Ist doch so«, sagte sie und blickte wieder zu Jace, der offenbar ernsthafte Schwierigkeiten hatte, gegen den, vor Wut tobenden Jonathan anzukommen. Sie musste Jace helfen.
Jonathan fletschte die Zähne und er brüllte Jace ins Gesicht: »Dachtest du wirklich, du bist besser als ich?«
»Ich weiß es«, presste Jace unter Anstrengung und Schmerzen hervor.
Doch Jonathans Klinge grub sich immer tiefer in sein Fleisch. »Ich werde dir jedes Körperteil einzeln abschneiden und den Brocelyn Wölfen zum Fraß vorwerfen!«, knurrte Jonathan.
Doch plötzlich wurde dessen Arm samt Klinge von Jaces Hals weggerissen. Jonathan sprang auf und fuhr herum. Isabelles Peitsche hatte sich um sein Handgelenk gewickelt und fraß sich langsam durch seine Haut.
Aus Jonathans kurz verblüfftem Gesichtsausdruck wurde ein eisiges, fast schadenfrohes Grinsen, als er Isabelle, samt ihrer Peitsche langsam zu sich heranzog. Sie sah ihn etwas erschrocken an, verstärkte dann jedoch wieder den Griff um ihre Peitsche und hielt stand.
»Verrotte in der Hölle!«, sagte sie mit einem leichten Zucken in ihren Augenwinkeln. Und bevor er verstehen konnte, weshalb ihn dieses kleine Zucken so verunsicherte, durchbohrte Jaces Klinge von hinten seinen Körper. Fassungslos blickte Jonathan an sich hinab. Blut schoss in seinen Mund und dann sank er zu Boden.
Jace und Isabelle ließen erschöpft von ihm ab.
Beide wussten, dass es nur noch eine Frage von Minuten war, bis es endgültig vorbei war mit ihm. Jonathan zog sich mit letzter Kraft zum Ufer. Dorthin, wo Siobhan lag. Und sie ließen ihn.
Tränen bildeten helle Schlieren durch Blut und Dreck. Jonathan berührte ihre Wange. »Ich …«, war das Letzte, was er noch sagen konnte, bevor er starb.