London 1926
Yael saß in seinem Arbeitszimmer in der Branwell Stadtvilla, als ein hagerer Mann in elegantem Anzug und mit lächerlich hohem Zylinder den Raum betrat. Yael legte Mary Shelleys ›Frankenstein‹ zur Seite und schlug die Beine übereinander.
»John«, begrüßte er ihn knapp. »Ich hoffe, du hast gute Nachrichten für mich?«
»In der Tat. Ich halte immer meine Versprechen. Es ist an der Zeit, auch deines zu halten, mein Freund.«
Yael öffnete die Schublade seines Schreibtisches und hielt eine kleine Phiole mit Blut zwischen Daumen und Zeigefinger in die Höhe.
Polidoris Augen leuchteten. »Oh, Bruder, wie lange haben wir darauf gewartet.«
»Ich bin nicht dein Bruder«, sagte Yael kalt.
Polidori grabschte mit seinen langen, dünnen Fingern nach der Phiole.
»Was ist mit dem Blut der anderen?«, fragte Yael.
Ein breites Grinsen überzog Polidori schmales Gesicht. »Mit dem deines Vaters hier, habe ich sie alle. Alle sieben – Beleth, Asmodeus, Azazel, Eidolon, Baal, Mammon und Leviathan.«
Yael wollte gar nicht wissen, wie der Hexenmeister, der weder besonders alt, noch besonders mächtig war, dieses Kunststück vollbracht hatte. Aber manchmal reichte auch nur außergewöhnliche Überzeugungskraft und Verschlagenheit. Fähigkeiten, die er seinem Vater Mammon zu verdanken hatte.
Polidori sagte mit feierlichem Ton in der Stimme: »Das ist der Anfang. Alles wird sich ändern, wenn es erst einmal geboren ist.« Er presste die geschlossene Hand mit der Phiole darin an seine Brust und lächelte selig.
»Wir werden sehen«, sagte Yael.
»Oh, ich bin so aufgeregt. Wie es wohl aussehen wird. Was wird es können? Wird es so sein, wie seine Väter? Du solltest ihm einen Namen geben. Überlass das nicht Alice Branwell. Ich mag sie nicht«, sagte Polidori naserümpfend.
Yael stand auf, ging durch den Raum, stellte sich vor das Fenster, verschränkte die Arme hinter seinem Rücken und blickte auf die Straße. »Es spielt keine Rolle, wie sie es nennen wird. Solange wir wissen, was sein richtiger Name ist.«
»Legion«, säuselte Polidori verzückt, nickte eifrig und mit dem diabolischen Grinsen eines Wahnsinnigen.
Yael hingegen wirkte besorgt und nicht begeistert.
»Du magst diese Familie zu sehr«, vermutete Polidori abfällig.
Yael schwieg.
»Nicht gut, gar nicht gut. Nicht, nicht, nicht gut … beschädige es nicht. Verdirb es nicht …«, zischelte Polidori vor sich hin und ging.
ᛟ
William wälzte sich die dritte Nacht in Folge ruhelos in seinem Bett herum. Es war ihm unmöglich, eine Entscheidung zu treffen. Doch jedes Mal, wenn er in Alices blasses Gesicht sah, brach es ihm das Herz. Er hatte sich für die Zeit von Alices Genesung eine Auszeit vom Institut genommen. Die fünfjährigen Zwillinge Christian und Lucile waren begeistert, endlich wieder auf dem riesigen Anwesen der Familie in Idris herumtollen zu können. Er hatte das Blut, das Polidori ihm gegeben hatte, immer und immer wieder getestet und es stimmte. Es war anders, nahezu unzerstörbar und es hatte auch nichts mit dem Blut üblicher Dämonen gemein. Es glich aber auch nicht im Geringsten dem eines Menschen. Tatsächlich war es und erstaunlicherweise dem Blut eines Nephilim am ähnlichsten.
Wenn es also nur darum ging, seinem ungeborenen Kind, mit diesen paar Tropfen, das Leben zu retten, dann hätte er das bereits getan. Aber wenn Polidori Unrecht hatte und das Blut eines gefallenen Engels sein Ungeborenes in ein Monster verwandeln würde, dann musste er vorbereitet sein, auch wenn der Gedanke daran ihm jetzt schon die Kehle zuschnürte.
Er spürte plötzlich Alices warme Hand auf seiner Schulter.
»Kannst du nicht schlafen, Schatz?«, fragte sie.
Er drehte sich seufzend zu ihr und blickte sie liebevoll an. »Egal, welche Möglichkeiten ich in meinem Kopf durchgehe, es besteht immer die Wahrscheinlichkeit, dass wir unser Kind ohnehin verlieren«, sagte er leise.
Sie strich sanft über seine Wange.
»Aber es gibt nur eine Möglichkeit, sein Leben zu retten, Will. Yael hat mir versichert, dass er sich um sie kümmern wird. Er wird wachsam sein und dafür sorgen, dass, selbst wenn sie anders ist, er es nicht zulassen wird, dass das, was sie in sich trägt, zum Vorschein kommt.«
»Und du vertraust ihm?«
»Mit dem Leben meiner ungeborenen Tochter«, sagte sie.
William lächelte traurig, küsste seine Frau und stand auf. Seit zwei Tagen lag die fertige Spritze auf der Kommode neben dem Bett. Er hatte nur etwa ein Milliliter des Inhalts der Phiole aufgezogen. Als er die Spritze mit der langen Nadel in den Händen hielt, fand er diese winzige Menge nicht mehr ganz so furchterregend. Die Menge macht das Gift, erinnerte er sich an Polidoris Worte. Und das hier, das war gar nichts. Oder?
Er setzte sich zu seiner Frau aufs Bett, machte ihren Bauch frei und sah sie noch einmal prüfend an. Sie nickte und lächelte ihm aufmunternd zu. William setzte die Nadel exakt so in Alices Bauch, dass er gekonnt die Nabelschnur, die das ungeborene Kind versorgte, punktierte. Kurz zögerte er, doch dann drückte er beherzt die winzige Menge dämonischen Blutes aus der Spritze in den Leib seiner Frau.
New York Institut Gegenwart
»Ich reiß dir dein beschissenes Rückgrat aus dem Leib!«
Jace fuhr herum und starrte erschrocken in die tiefschwarzen Augen von Sebastian, der – in jeder Hand eine Klinge – wie ein wild gewordenes Tier auf ihn zustürmte. Siobhan hing bewusstlos an ihren Stuhl gefesselt. Blut rann ihr aus Nase und Lippe.
Imogen Herondale rappelte sich gerade auf, gab einen spitzen Schrei von sich und kreischte: »Jace! Pass auf!« Sie drückte sich in den hintersten Winkel der Zelle und musste mit ansehen, wie Jace gerade so dem heftigen Hieb von Jonathan ausweichen konnte.
Genauso schnell hatte auch Jace jetzt eine Klinge in der Hand und hielt sie lauernd auf Augenhöhe, als im gleichen Augenblick das gellende Geräusch des taktischen Alarms ausgelöst wurde. Jace war zu perplex, um diese Situation auch nur annähernd zu verstehen. Er musste reagieren, nachdenken, konnte er später.
Jonathan hatte so lange auf diesen Moment gewartet, seinen ewigen Rivalen endlich loszuwerden, doch nun zögerte er. Er wusste, was dieser Alarm bedeutete. In weniger als einer Minute würde das ganze Institut abgeriegelt sein. Und er darin gefangen. Genau wie Siobhan. Er würde seine Gelegenheit bekommen, Jace das Herz mit seiner Klinge zu durchbohren. Er würde sich Zeit dabei lassen, es vielleicht ein oder zweimal verfehlen. Doch, nicht jetzt. Sein Blick ging zu Siobhan. Mit einer blitzschnellen Bewegung durchtrennte sein Schwert erst die linke und dann die rechte von Siobhans Handfesseln, er griff sie sich und verschwand so schnell, wie nur ein Dämon es konnte.
Jace fluchte, schmiss wütend sein Schwert zu Boden und blickte zu Imogen, die immer noch fassungslos und wie angewurzelt in der Ecke verharrte. »Alles okay?«, fragte er.
Das schien ihr Stichwort, denn wie bei einem Roboter änderte sich sofort ihre Mimik und Körperhaltung und sie wurde wieder zu der kühlen und stets über alles erhabenen Inquisitorin, als die er sie kennengelernt hatte. Wütend stampfte sie aus der Ecke.
»Das ist genau das, was nicht passieren sollte«, donnerte sie los. »Wie konntet ihr die Situation hier nur so falsch einschätzen?«
Jace wusste gar nicht, was er fühlen, denken, geschweige denn sagen sollte. Der Zorn seiner Großmutter war ihm egal, er musste erst einmal begreifen, was passiert war. Sebastians schwarze Augen ließen nur einen Schluss zu. Und Siobhan war … ? Was zur Hölle? Alles um Jace herum, begann sich zu drehen. Er musste sich an dem Stuhl abstützen, weil seine Knie nachgeben wollten. Wie konnte er sich nur so sehr täuschen?
»Jace!«, riss ihn die herrische Stimme von Imogen zurück in diese Welt. Das laute und unaufhörliche Geplärre des Alarms war auch nicht gerade hilfreich beim Denken.
»Jace! Nun setz dich endlich in Bewegung, sonst werden sie entkommen!«
Erst jetzt löste sich seine Schockstarre und er rannte los. Auch, wenn das absolut sinnlos war. Jonathan war kein Idiot und schon längst über alle Berge. Auf dem Gang gesellten sich andere Schattenjäger zu ihm, er gab Befehle, rief ihnen zu, nach wem sie Ausschau halten sollten und stieg in den Aufzug. Oben angekommen empfingen ihn Clary, Isabelle und Alec.
»Was ist passiert?«
»Sebastian hat Siobhan befreit«, sagte Jace bitter.
»Er hat was?«, riefen Clary und Isabelle zeitgleich.
Alecs Miene versteinerte.
»Verdammt!«, fluchte Jace wütend und trat einen Stuhl aus dem Weg. Er blieb stehen, lief einige Male auf und ab, rieb sich unaufhörlich den Nacken, fuhr sich durch die Haare, rieb sich über den Mund und blieb dann wie angewurzelt stehen.
Die Drei waren geschockt, machten sich aber auch zunehmend Sorgen um Jace. Clary berührte ihn zaghaft am Arm, doch er entriss sich ihrer Berührung, sah erschüttert auf und sagte: »Wie konnten wir das nur übersehen?«
»Was meinst du?«, fragte Clary.
»Verlac ist Jonathan. Er war es die ganze Zeit. Dieser Scheißkerl! Und Siobhan reagiert auf Elektrum, wie er es damals hätte sollen. Was ist hier los?«
Isabelle klappte der Unterkiefer nach unten. Clary zitterte am ganzen Leib und Alec fluchte so laut und so ungehobelt, wie Jace es noch nie von ihm gehört hatte.
Jace blickte leicht benommen auf Siobhans Blut an seiner Faust.
»Sebastian ist Jonathan. Bist du sicher?«, fragte Alec, der sich allmählich wieder unter Kontrolle hat.
»Ja, es war ziemlich eindeutig, dass er mir die Eingeweide aus dem Leib schnitzen wollte, hätte Imogen den Alarm nicht ausgelöst. Seine Augen waren schwarz und er bewegte sich wie ein Dämon.«
Clary fiel ihm plötzlich um den Hals. Jace schloss die Augen und erwiderte die Umarmung. Es fühlte sich gut an. Auch, wenn nichts gut war. Absolut gar nichts.