»Das könnte funktionieren«, gab Alec zu.
Siobhan hielt seinem forschenden Blick stand. Sie war schwer einzuschätzen. Das, was sie vorschlug, war riskant. Sehr riskant. Wie mächtig Beleth tatsächlich war, konnte niemand mit Sicherheit sagen. Was, wenn das, was sie behauptete, nicht stimmte? Wenn sie sich irrte oder log? Das Desaster der ersten Begegnung mit Azazel hatte Alec noch gut in Erinnerung, und Magnus seitdem Alpträume. Allerdings würde im Notfall Clarys Sonnenlichtrune funktionieren. Was auch immer für ein Spiel Branwell spielte, von Clarys und Jaces speziellen Fähigkeiten wusste sie nichts und das musste auch so bleiben, denn sie hatten es mit einem wesentlich gefährlicheren Gegner als Azazel zu tun. Das war das Einzige, dessen er sich gerade sicher war.
Siobhan wusste, dass Alec Lightwood ihr nicht traute. Es war ihr egal. Was ihr jedoch etwas ausmachte, war die Tatsache, dass sie gerade jeder in diesem Raum mit dem gleichen Unbehagen ansah. Sie hätte etwas sagen sollen, um das zu ändern, aber Worte beherrschte sie nicht sonderlich gut.
Das musste sie auch nicht, denn ihre eigentliche Begabung machte Worte überflüssig. Also tat und sagte sie nichts weiter, außer zu hoffen, dass man sie nicht samt Beleth wieder zurück nach Edom beförderte. Denn das war das Letzte, was passieren durfte. Zumindest noch nicht.
Die Stille auf der Krankenstation wurde zäh, der Geruch von Desinfektion äußerst präsent. Alec und Jace tauschten Blicke aus, die Bände sprachen und Sebastian sah sie an, als versuche er in ihren Schädel zu gelangen. Zum Glück unterbrach das laute Hereinpoltern einer der Wachen diesen äußerst unbehaglichen Zustand.
»Luke Garroway wünscht Sie zu sprechen, Sir«, sagte der Mann.
»Jetzt?«
»Er sagte, es sei dringend.«
»Ich bin gleich da.« Alec sah kurz zu Jace. »Überprüfe, wie viel Elektrum wir im Institut zusammenkratzen können und gib mir dann Bescheid.«
Jace nickte und Alec verließ den Raum.
Jace sah zu Sebastian, der Siobhan schon seit ein paar Minuten anstarrte, schüttelte den Kopf und ging ebenfalls.
Und so waren Siobhan und Jonathan allein im Raum. Wieder einmal.
Manchmal verstand Siobhan andere Shadowhunter nicht, das war schon immer so, und vielleicht ging es ihnen mit ihr auch so. Sie sah, dass Sebastian immer noch versuchte, aus ihr schlau zu werden. Sein Schweigen störte sie nicht, die plötzliche, emotionale Distanz zwischen ihnen schon.
»Okay. Hör auf damit.«
»Womit?«
»Zu starren.«
»Ich starre nicht.«
Siobhan äffte seinen Blick nach.
Er zog die Stirn in Falten. »So gucke ich nicht.«
»Doch. Also, was willst du wissen?«
Er kam unvermittelt näher. »Warum habt ihr das, was du uns vorschlägst, damals nicht auch so gemacht? Du hättest dir diesen Bindungszauber, die Hölle und all das ersparen können? Ehrlich gesagt das, ist das schon fast zu einfach, findest du nicht?«
»Nichts daran ist einfach.« Ihre blauen Augen wirkten plötzlich kalt und silbern.
»Das ist keine Antwort auf meine Frage, Branwell.« Er kam noch näher, hob seine Hand und wollte ihre Wange berühren, doch sie wich zurück. Also ließ er seine Hand wieder sinken, ohne jedoch den Abstand zwischen ihnen zu vergrößern.
Sie wich seinem Blick aus. »Beleth ist gerade erst der Hölle entkommen und noch schwach«, erklärte sie. »Die Situation damals war in vielerlei Hinsicht eine andere. Wir sollten nicht so lange warten wie der Rat zu meiner Zeit.«
»Ihr habt den gleichen Vorschlag damals dem Rat gemacht?«
»Ja.«
»Lass mich raten, sie waren nicht begeistert.«
»Zumindest haben sie ihre Entscheidung aufgeschoben, bis Beleth zu mächtig war, um ihn aufzuhalten.«
»Tragisch.«
»Gewissermaßen.«
»Na, dann hatten wir ja alle Glück, dass du ihn schließlich aufgehalten hast«, sagte er.
Ein verblüffter Blick.
Ihn amüsierte das.
Sebastian hatte diese zwei Seiten. Das war ihr schon aufgefallen. Die eine war sanft, beinahe liebenswert in der Tat – die andere Seite jedoch … nicht so sehr.
»Diese Geschichte wird sich nicht wiederholen«, sagte sie. Und dann lächelte sie. Warum lächelte sie? Jonathan schluckte. Vielleicht war es ihr Lächeln oder diese spannende Unberechenbarkeit, die sie ausstrahlte. Er wusste nicht einmal, dass er es tun wollte, bis zu dem Moment, wo er es tat. Doch in dem Moment, als seine Lippen ihre berührten, war da keine Befriedigung. Er war schmerzvoll. So, als würde er geradewegs zurück in die Hölle spazieren. Er konnte sich nicht erklären, wieso er trotzdem nicht von ihr lassen wollte. Vielleicht gerade deshalb. Zwischen Schmerz und lustvollem Verlangen lag ein wirklich schmaler Grat. So schmal, dass die Grenze bei ihm allzu oft verwischte.
Sie war es, die diesen unerwarteten Kuss unterbrach, auch wenn ihm nicht entgangen war, dass sie ihn nicht gerade von sich gestoßen hatte. Definitiv ein erster Kuss, den er nicht so schnell vergessen würde.
»Was zur Hölle …«, raunte er benebelt. »Was bist du?«
»Ein Shadowhunter«, antwortete sie. In ihrem Blick lag wieder diese eisige Kälte. Und dann fügte sie hinzu: »Genau wie du.«
Es war die Art, wie sie ihn ansah und wie sie es gesagt hatte, die alle Alarmglocken in ihm zu tönen brachten. Er verfluchte sich innerlich für diese Unvorsichtigkeit. Wie konnte ihm so etwas passieren, hatte er doch geahnt, dass mit ihr etwas nicht stimmte. Sie hatte so etwas Wissendes und Lauerndes an sich. So eine gefährliche Art der Anziehung, die alles zerstören könnte, was er sich mühsam erarbeitet hatte. Wenn sie wusste oder spürte, wer oder was er war … Nein, das durfte er auf keinen Fall riskieren.
Langsam glitt eine schmale, scharfe Klinge aus dem Ärmel in seine rechte Hand. Er wollte das nicht. Er wollte das wirklich nicht. Seine Kehle brannte und sein Magen verkrampfte sich zu einem steinernen, schmerzhaften Ding in seinem Brustkorb. Nur ein Atemzug lang, aber es fühlte sich an, als würde er eine Ewigkeit so dastehen und das Unvermeidliche hinauszögern. Es wäre so viel einfacher, würde sie schreien oder weglaufen oder irgendeine Reaktion auf die Gefahr, die er darstellte, zeigen, doch stattdessen wurde ihr Blick sanft. Und geradezu mitfühlend. Würde er lebendigen Leibes verbrannt zu werden, war das gnädiger als das gerade. Ihre Hand legte sich an seine Wange und sie sagte: »Schon gut.« Ihr Blick glitt zu seiner Hand mit dem Messer und dann wieder zurück. Sie lächelte. Warum lächelte sie? Ihre Berührung, dieses unbekümmerte Lächeln, beides zerrte an seinem Innersten und brachte etwas in ihm hervor, was er nicht benennen konnte.
»Alles in Ordnung hier?«, höre er plötzlich Clarys Stimme.
Jonathans Dolch verschwand blitzschnell in seinem Ärmel, er drehte sich um, legte einen freundlichen Gesichtsausdruck über seine innere Zerstreutheit und tat unschuldig. »Ja. Alles bestens.«
»Geht es dir besser, Siobhan? Wir haben uns Sorgen gemacht.«
»Ja. Alles bestens«, wiederholte sie Jonathans Worte und legte ein ebenso falsches Lächeln auf wie er. Clary kannte beide noch nicht gut genug, um es zu bemerken, und gab sich damit zufrieden.
Derweil in Alecs Büro
»Was gibt es so Dringendes?«
Luke lief unruhig auf und ab, als Alec und Jace eintrafen.
»Wie weit seid ihr mit diesem Dämon?«, fragte Luke, anstatt Alecs Frage zu beantworten. Er musste in letzter Zeit einfach zu viele Leichen vor seinen menschlichen Kollegen verschwinden lassen.
»Wir arbeiten daran«, sagte Alec und setzte sich hinter seinen Schreibtisch, während Jace in der Tür stehenblieb.
Luke legte Alec wortlos und mit ernster Miene einen Stapel Polizeifotos auf den Tisch.
»Was ist das?« Alec blätterte sich durch die Bilder von verstümmelten Leichen und sah Luke fragend an.
»Das …«, sagte Luke, »… sind die Überreste von mindestens dreißig Unterweltlern. Schwer zu sagen. Laut der Zeugin hat es kaum mehr als zehn Sekunden gedauert, um diese Bar – nun, wie soll ich es ausdrücken – umzudekorieren.«
Jetzt kam auch Jace näher und betrachtete naserümpfend die Fotos. »Im Ernst? Wie viele Angreifer waren das?«
»Einer. Das war das Werk eines Einzigen«, unterbrach Luke ihn.
Die beiden sahen ihn ungläubig an.
»Beleth«, murmelte Jace.
»Was ist das für eine Zeugin?«, wollte Alec wissen.
»Eine abtrünnige Seelie. Genau wie alle in der Bar, übelstes Pack. Aber als wir dort eintrafen, hat sie in der Ecke gehockt und gezittert, als wäre ihr der Leibhaftige persönlich erschienen.«
»Dicht dran«, murmelte Jace.
»Was?«
Alec lenkte Lukes Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Hat sie etwas gesagt?«
»Sie sagte, der Mann wirkte wie ein Shadowhunter. Zumindest dachte sie das, weil er etwas am Hals hatte, das aussah wie eine Rune.«
Alec und Jace sahen sich wissend an.
»Und er hat sie offenbar nur am Leben gelassen, damit sie eine Botschaft überbringt«, erzählte Luke weiter.
»Was für eine Botschaft?«, fragten Alec und Jace zeitgleich.
»Wenn er nicht bekommt, was er will, wird er das in jeder Bar der Stadt machen.«
»Was will er?«, fragte Alec.
Luke holte einen Notizblock aus der Jackentasche und blätterte ein paar Mal in dem kleinen Block. »Dass er wütend sei, und jemanden sucht, der genau so eine Rune am Hals hätte wie er … so was, in der Art. Schwer zu sagen, was sich genau abgespielt hat, die Zeugin war ziemlich durch den Wind. Außerdem hat sie die ganze Zeit etwas von Motten und Fliegen gefaselt.«
Alec sah zu Jace. Der stand dort, in der üblichen Haltung, mit verschränkten Armen, als könnte ihn nichts in der Welt erschüttern. Sein Blick war entschlossen und finster, das Spiel seiner Kiefermuskeln untermalte diese Entschlossenheit. Beide wussten in diesem Augenblick, dass sie keine mehr Zeit gab, darüber zu diskutieren, ob Siobhans Plan zu riskant, eine Falle oder sonst etwas war. Es war der einzige Plan, den sie hatten. Alec stand auf, reichte Luke die Hand zum Abschied und sagte: »Wir kümmern uns darum.«
Etwas irritiert ergriff er die Hand und nickte. »Das ist also die Politik der neuen Offenheit?«, grollte er und stapfte sichtlich verärgert an Jace vorbei aus dem Büro.
Als er fort war, löste Jace seine Körperhaltung. »Hätten wir ihm nicht erzählen sollen, was los ist? Vielleicht kann das Rudel uns helfen?«
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Was genau hier los ist, wissen wir auch nicht mit Sicherheit. Wie viel Vertrauen bringt uns das Rudel nach deren Allianz mit den Seelies wohl noch entgegen? Nein, ich denke, diese Sache müssen wir allein regeln.«
»Wir werden Magnus dafür brauchen.«
Alec seufzte wieder und nickte.
»Soll ich mit ihm reden?«, fragte Jace vorsichtig.
»Nein«, wiegelte Alec ab. »Ich mache das schon. Kümmere du dich darum, dass alle anderen bereit sind, dass jeder seine Aufgabe kennt und …«, er hielt inne. »… wir brauchen sehr viel mehr Elektrum.«
»Der Rat wird es uns nicht freiwillig geben«, sagte Jace.
»Nein, das werden sie nicht.« Alec sah grübelnd ins Leere.
»Wenn wir den Rat bitt...«
»Das dauert zu lange und ich bezweifle, dass sie genug Vertrauen in eine tot geglaubte Branwell setzen würden, um uns, ohne zu hinterfragen, Elektrum-Vorräte aus Idris zu überstellen.«
Jace war überrascht. »Du hast den Rat noch nicht über Branwells Auftauchen informiert, oder?«
Alec sah ihn schuldbewusst an. »Ich weiß nicht, ob ich ihr vertraue. Aber, wenn sie die Wahrheit sagt, was glaubst du, wie wird der Rat auf ihre Geschichte reagieren?«
Jace nickte. »Clary und ich könnten das Elektrum aus Idris auch ohne Zustimmung des Rates besorgen.«
»Ich weiß«, sagte Alec und sah Jace mit einem Blick an, der besagte: Ich weiß von nichts, falls euch jemand erwischt.
Jace verstand und grinste. »Alles klar.«
»Und Jace!«
»Ja?«
»Sei vorsichtig. Und übertreibt es nicht, wir brauchen nur so viel, dass wir eine Zelle damit herrichten können. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Niemand darf davon erfahren.«
»Kleinigkeit.«