Raphael witterte den Geruch von Nephilim Blut schon auf dem Gang zur Krankenstation. Er spürte sie bis in den letzten Winkel seiner Seele, diese Gier, die ihn in solchen Augenblicken zu übermannen versuchte. Er schloss kurz die Augen und schluckte diesen Durst hinunter. Es hatte ihn Jahrzehnte gekostet, um das zu lernen.
Simon hingegen schien von Beginn an keinerlei Probleme mit dem Hunger gehabt zu haben. Er und seine immer nervige, unbekümmerte Freundlichkeit empfingen Raphael schon an der Tür zum Krankenzimmer.
Raphael blieb wie angewurzelt stehen. Auf dem schmalen Krankenbett lag eine junge Schattenjägerin, aus deren rechtem Unterarm Blut in eine Schüssel lief. Hellrot, schnell und stoßweise – wie bei einer Arterie üblich. Nicht so alt und abgestanden wie das dunkle, gleichmäßig fließende Blut von Venen. Es sah aus, als hätte der Arzt ihre Arterie sauber und fachkundig mit einem Skalpell geöffnet.
»Was … was wird das?«, zwang er sich zu einer halbwegs gefassten Frage und blickte bemüht in die Runde. Isabelle, Magnus, Jace und der Arzt standen in dem stickigen Raum und wirkten mehr oder weniger angespannt.
Magnus ging auf Raphael zu, legte beide Hände an seine Schultern und blickte ihm prüfend in die Augen. »Ich benötige deine Hilfe.«
Wieder fiel Raphaels Blick auf den klaffenden Schnitt am Arm der Schattenjägerin. Er konnte es nicht länger unterdrücken und mit einem kurzen Fauchen, zeigte er seine Fangzähne. Doch Magnus hielt ihn zurück. Raphaels Blick ging schuldbewusst zu Izzy, die jetzt ebenfalls recht blass und unsicher wirkte.
»Ich kann das nicht«, sagte sie und eilte an ihnen vorbei aus dem Zimmer.
Jace stand in der Ecke, mit verschränkten Armen und einem Blick, der Raphael verriet, dass er nicht zögern würde, ihm seine Fangzähne eigenhändig zu ziehen, sollte er sie nicht unter Kontrolle behalten.
Magnus lenkte Raphaels Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Wenn das zu schwer für dich ist, habe ich Verständnis. Du musst das nicht tun.«
»Was tun?«, fragte er.
Magnus seufzte leise und erklärte. »Sie stirbt an Dämonengift. Es fließt in ihren Adern und mit jedem Schlag ihres Herzens verteilt es sich wieder durch ihren ganzen Körper.«
»Ich verstehe nicht. Niemand überlebt so etwas. Was soll ich dagegen tun?«
Simon mischte sich ein. »Sie stirbt aber nicht.«
»Was?«
»Weil sie an einen unsterbl…«
»Das ist jetzt nicht wichtig«, unterbrach Magnus eilig und warf Simon einen tadelnden Blick zu. »Fakt ist, dass sich das Gift so lange durch ihren Körper bewegt, wie sich Blut durch ihren Körper bewegt. Das heißt, um ihren Körper von dem Gift zu befreien …«
»Muss man ihren Körper von Blut befreien«, schlussfolgerte Raphael und fügte hinzu: »Nur wird sie das umbringen.«
»Wird es nicht. Zumindest nicht auf Dauer«, erwiderte Magnus und ignorierte Raphaels erneut verwirrten Blick.
»Mit den herkömmlichen Mitteln …«, Magnus deutete auf den geöffneten Unterarm des Mädchens, »… funktioniert es leider nicht. Nur ein Vampir kann einen Menschen bis auf den letzten Tropfen Blut …«, er suchte nach einem rücksichtsvollen Wort.
»Sie ist aber kein Mensch. Sie ist ein Shadowhunter«, sagte Raphael aufgebracht. »Nephilim-Blut? Ich kann nicht dahin zurück. Nicht nachdem, was ich Izzy …«, er verstummte und sah schuldbewusst zu Boden.
Magnus blickte ihn verständnisvoll an.
Kurz war es still in dem Raum.
Raphael sah wieder zu dem Mädchen. Sie wirkte recht jung – jünger als die anderen hier. Sie war so bleich wie Seinesgleichen. Schwer zu sagen, ob es durch den Blutverlust kam oder ob es ihre Natur war, denn auch ihre Haare waren so hell wie Flachs unter der hochstehenden Sonne eines warmen Sommertages. Oh, was würde er dafür geben noch ein einziges Mal die Sonne auf seiner Haut zu spüren, ohne dabei zu verbrennen. Das Mädchen sah ganz und gar nicht aus, wie die Schattenjäger, die er kannte; sie wirkte verletzlich und ungefährlich.
»Was wird aus ihr, wenn ich es nicht mache?«, fragte er.
»Schwer zu sagen. Aber wenn sie nicht gerade Schmerzen und unzählige Tode erleidet, fällt sie letztlich wohl in ein Koma, aus dem es kein Erwachen mehr gibt. Weder tot, noch lebendig. Auf ewig.«
Simon sah Magnus erschrocken an und blickte nun mitleidig zu Siobhan. Dann zu Jace, der merkwürdig abwesend wirkte und schließlich wieder zu Magnus. »Ich kann das auch allein schaffen, wenn Raphael ein Problem damit hat«, sagte Simon.
»Natürlich könntest du das«, entgegnete Magnus. »Du bist ein Vampir. Du würdest es auch schaffen, zwei Menschen bis auf den letzten Tropfen leerzutrinken. Aber sie ist nun mal kein Mensch. Das ist eine verdammte Menge Nephilim Blut, falls du verstehst, was ich meine.«
Simon sah betroffen zu Boden. Er erinnerte sich genau daran, wie Nephilim schmeckte und wie berauschend deren Blut war. Wieder ging sein Blick zu Jace, der ihn jetzt mit finsterer Miene davor warnte, etwas Unüberlegtes preiszugeben. Zum Beispiel, wie Simon zum Tagwandler geworden war. Also biss Simon sich auf die Unterlippe und schwieg.
»Okay«, sagte Raphael plötzlich. Und allein der Entschluss ließ seine Fänge wieder zum Vorschein kommen.
Magnus sah müde aus. »Ich würde das nicht von dir verlangen, wenn ich eine andere Möglichkeit sehen würde. Das Gift ist nicht toxisch für Vampire und ich weiß nicht, wie ich es sonst aus ihrem Körper bekommen soll.«
»Wer ist sie?«, fragte Raphael.
Das war eine wichtige Frage, wie er fand. Die Kleine sollte wirklich wichtig sein, wenn er für sie seinen Entzug unterbrechen sollte. Jace mischte sich plötzlich ein. Er löste seine strenge Körperhaltung, ging einen Schritt auf Raphael zu und sagte mit energischem Ton: »Jemand, der nichts von alldem hier verdient hat. Also, fang an oder lass es.«
»Jace«, sagte Magnus beschwichtigend.
Jace nahm sich wieder zurück. Er mochte es nicht, auf Schattenwelter angewiesen zu sein. Es hielt ihm nur seine eigene Hilflosigkeit vor Augen.
Raphael musterte Jace kurz und ging dann zu Siobhan. Von selbst lief jetzt kaum noch Blut aus ihrem Körper. Er spürte das schwache Pulsieren ihres Herzens. Viel Blut konnte nicht mehr in ihr sein. Mit beiden Händen umfasste er ihr Handgelenk und wollte es gerade zu seinem Mund führen, als Magnus sagte: »Es tut mir leid, aber du musst direkt aus der Aorta trinken.«
Raphael sah Magnus erschrocken an, doch sein innerer Widerstand bröckelte mehr und mehr. Direkt aus der Halsschlagader zu trinken war etwas sehr Intimes und auch etwas sehr Verlockendes für einen Vampir. Dieses ausgerechnet bei einem Wesen mit Engelsblut tun zu müssen … zu dürfen … bevor er weiterdenken konnte, gruben sich seine scharfen Fänge direkt in den Hals der Schattenjägerin. Sein leichtes Stöhnen, als er zu saugen begann, sorgte für Unbehagen bei Jace. Am liebsten hätte er diesen gierigen Blutsauger von ihr gerissen und ihn schattenjägermäßig entsorgt.
Jace und Raphael waren nicht der Einzigen im Raum, die gerade schwer mit sich zu kämpfen hatten. Simon wurde immer unruhiger. Seit seinen ersten Tagen als Vampir hatte ihn der Blutdurst nicht mehr derart bedrängt wie in diesem Augenblick. Glücklicherweise unterbrach Magnus Raphaels Biss nach ein paar Sekunden.
»Das reicht!«, sagte der Hexenmeister und winkte Simon heran, der nicht anders konnte, als auf Raphaels blutverschmierte Lippen und dessen benommenen Gesichtsausdruck zu starren.
»Mach weiter, Simon«, sagte Magnus.
Plötzlich bekam Simon Angst. Sie sollten dieses Mädchen töten, um sie zu retten? Es kam ihm widersprüchlich vor. Dennoch fanden seine Lippen von ganz allein den Weg zur offenen Bisswunde an ihrem Hals.
In dem Moment als er ihr Blut schmeckte, verebbte jeder Zweifel in einem wohltuenden Nichts, das ihn einlullte, wie die sanfte und warme Stimme einer Schlaflied-singenden-Amme. Dass auch er leise stöhnte, bekam er gar nicht mit.
Jace umso mehr. Der kam sich vor, wie in einem Vampirporno. Seine Wangenmuskeln bebten vor Anspannung. Er atmete einmal tief ein und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum.
Magnus hob fasziniert eine Augenbraue und blickte dem sonst so standhaften Schattenjäger hinterher. Kurz zuckte sogar einer seiner Mundwinkel. »Und ich dachte, mich könnte nichts mehr überraschen«, sagte er leise und widmete sich wieder dem Vampir über Siobhan.
»Das reicht Simon.«
Doch der überhörte Magnus Anordnung.
»Simon!«, wiederholte er und berührte Simon an der Schulter. Dessen Hände krallten sich plötzlich fest um Siobhans Nacken. Er dachte nicht daran, von dem Mädchen abzulassen. Gierig versenkte er seine Zähne immer tiefer in ihr Fleisch.
Bis ihn plötzlich zwei große schlanke Hände von ihr zerrten.
»Du hast den Hexenmeister gehört, Vampir«, vernahm Magnus den englischen Akzent von Sebastian Verlac und starrte ihn an. Der Schattenjäger stand dort und hielt Simon am Kragen, wie einen ungezogenen Welpen. Sebastian neigte seinen Kopf leicht zur Seite und funkelte Magnus erwartungsvoll an, als würde er fragen: Was jetzt, Hexenmeister?
Magnus fing sich wieder. Irgendwie brachte ihn dieser hochgewachsene Shadowhunter immer ein wenig aus dem Konzept. Allerdings nicht auf eine gute Art.
»Raphael, den Rest musst du übernehmen«, wandte Magnus sich von Jonathan ab.
»Ich kann nicht«, stöhnte der so erschöpft, als hätte er gerade ein ganzes Schwein verspeist. »Du kannst nicht?«, fragte Magnus verärgert.
»Sie ist anders. Ich weiß nicht. Das ist schwerer, als es sein sollte.«
»Anders? Wie anders?«, wollte Jonathan wissen und ließ Simon los. Der taumelte und sah sich um, wie ein Junkie, der sich gerade einen Schuss gesetzt hatte.
»Das ist mir egal«, blaffte Magnus und zerrte Raphael zurück zu Siobhan. »Wir haben es begonnen, also bringen wir es auch zu Ende. Verstanden?«
Jonathan hörte die Verzweiflung in Magnus Stimme. Er ahnte, dass Magnus von mehr, als nur von dieser Sache sprach. Raphael leistete nicht sonderlich viel Widerstand und versenkte seine Zähne erneut in Siobhans Hals. Es war nicht nur ihr Blut, welches ihn anstachelte, sondern die Tatsache, dass ihr Herz kaum noch Kraft hatte zu schlagen. Er fühlte es genau, als er die letzten Tropfen Leben aus ihrem Körper saugte, während ihr Herz sich noch einmal mit aller Kraft zu einem letzten Zucken aufbäumte. Wie konnte er nur vergessen, wie berauschend und erregend zugleich sich Töten anfühlte? Wieso hatte er überhaupt jemals damit aufgehört? Wegen Gott? Was sollte Gott schon dagegen tun? Er spürte nun kein Leben mehr in ihr.
Raphael ließ von ihr ab.
Magnus betrachtete den taumelnden Raphael mit Besorgnis. Hielt ihn an den Schultern aufrecht und raunte: »Ich werde das wiedergutmachen, Raphael. Versprochen.«
Dann nickte er den zwei Schattenjägern zu, die als Wachen an der Tür standen und gab ihnen zu verstehen, die Vampire in Gewahrsam zu nehmen. So konnte man die beiden auf keinen Fall unter Menschen lassen. Sie mussten zuerst ihren Rausch ausschlafen und alles Weitere würde sich morgen zeigen. Magnus hoffte, nicht allzu großen Schaden bei ihnen angerichtet zu haben. Doch ein schlechtes Gewissen konnte er sich nicht mehr leisten. Branwell besaß Information und Fähigkeiten von unschätzbarem Wert. Er wusste, dass die Schattenjäger heute nur eine kleine Schlacht gewonnen hatten. Der Krieg stand ihnen noch bevor.
Als die Vampire fort waren, machte sich der Arzt daran, Siobhans Vitalwerte zu überprüfen, und stellte gleichmütig fest: »Herzstillstand. Soll ich mit den Infusionen beginnen?«
Magnus nickte und beobachtete wie Doktor Polidori, Siobhan einen Zugang in der Ellenbeuge legte, ihre Wunden an Hals und Handgelenk versorgte und die erste Konserve frischen und reinen Blutes in ihre Vene leitete. »Wie lange wird es dauern, bis sie wieder ausreichend Blut in ihrem Körper hat, um zu Bewusstsein zu kommen?«, fragte Magnus.
Polidori hob kurz die Schultern. »Einige Stunden vielleicht. Ich weiß nicht genau, wie ihr Körper funktioniert, aber nach Ihren Schilderungen zu urteilen, wird das Herz irgendwann wieder beginnen zu schlagen und bis dahin muss ausreichend Blut in ihrem System sein.«
»Was, wenn nicht?«
»Ich weiß es nicht.«
Magnus rieb sich erschöpft die Schläfen. »Gut. Ich muss mich jetzt etwas ausruhen. Das war ein sehr anstrengender Tag.« Sein Blick ging zu Sebastian, der ihn forschend anblickte und auf etwas zu warten schien.
»Was ist?«, fragte Magnus.
»Warum hast du sie in den Park gebracht? Was dachtest du, würde passieren?«
»Nun, wir haben den Dämon besiegt. Das ist passiert.«
»Du konntest nicht wissen, dass er so auf sie reagiert. Oder doch?«
Magnus fühlte sich unwohl und verhört. Er mochte Sebastian nicht. Und wieder einmal war klar, warum das so war. Trotzdem musste er diesem argwöhnischen Shadowhunter etwas auftischen. »Es war nur so eine Ahnung«, sagte er und eilte davon.
Jonathan lächelte sein hinterlistiges Lächeln und wartete, bis auch der Arzt das Zimmer verlassen hatte. Er erinnerte sich daran, was vor ein paar Tagen in diesem Zimmer passiert war. Er stand neben ihrem Bett und blickte auf sie hinab. Sie sah friedlich aus. Obwohl sich ihre Totenblässe kaum von dem Weiß des Kissens abhob, sah sie nicht aus, wie eine Leiche.
Ihr Arm lag am Rand des Bettes und er stand jetzt so dicht, dass seine Hand ihre berührte. Sie fühlte sich kalt an. Ob sie fror? Bekam sie in diesem Zustand etwas mit? Er streifte mit seinem Handrücken sanft über ihren Handrücken. Mehr wagte er nicht. Er war zwar zum Teil dämonisch, aber er war dennoch niemand, der solche Situationen ausnutzte.
»Sebastian!«
Er schreckte auf, als er Jaces Stimme hörte.
»Was machst du hier?«
Jonathan fühlte sich ertappt, obwohl er nicht genau wusste, wobei. Bevor er eine Antwort stammeln konnte, trat Jace schon näher. Er schien ohnehin keine Antwort zu erwarten und redete einfach weiter. »Wie geht es ihr? Hat es funktioniert? Unten in der Zelle sitzen gerade zwei ziemlich zugedröhnte Vampire. Das sollte besser funktionieren.«
»Ja. Sollte es«, sagte Jonathan knapp, dem dieses Gespräch nicht behagte. Er war nie gern mit Jace allein. Der Impuls, ihm sein selbstgefälliges Lächeln aus dem Gesicht zu schneiden, war dann noch mächtiger als sonst. Valentines Liebling – ihn hatte Valentine nicht als Kind in die Hölle verbannt. Stattdessen durfte er bei den Lightwoods aufwachsen. In einer richtigen Familie, mit Menschen, die ihn liebten und behandelten, wie ihr eigen Fleisch und Blut. Und auch Valentine hatte Jace besser behandelt als ihn – seinen eigenen Sohn. Er hasste Jace – mehr als er wollte, dass Clary ihn liebte. Aber letztlich hatten sich die Gefühle für seine Schwester ohnehin verändert. Jonathan konnte nicht verstehen, wieso sie ihre Zuneigung für ihren Bruder von seinen Taten abhängig machte. Wie war das noch mit der bedingungslosen Liebe, die es in Familien angeblich gab? Aber was wusste er schon? Er hatte nie in einer Familie gelebt, wurde geliebt oder hatte jemals geliebt.
Jace musterte den schlanken Schattenjäger von der Seite und dachte über die letzten Tage nach. Sebastian hatte sich verändert. Er war noch stiller geworden. Die Arbeit, die er machte, war gut. Hervorragend sogar. Sebastian Verlac war eine Bereicherung für das Institut, ohne Frage. Izzy und Clary schienen ihn zu mögen. Alec vertraute ihm inzwischen und als Partner im Kampf gegen Dämonen war er ausgesprochen tauglich. Um ehrlich zu sein, hatte Jace die kleine Prügelei mit den Skerpia in der Gasse ziemlich genossen. Mal abgesehen vom tragischen Ausgang. Sebastians Fähigkeiten im Kampf konnten sich locker mit Jaces messen. Und das dürfte man von keinem anderen Shadowhunter hier behaupten.
»Sie wird wieder. Keine Sorge«, sagte Jace und wollte Sebastian freundschaftlich auf die Schulter klopfen, doch der sah ihn plötzlich mit eiskalter Miene an und ließ ihn dann einfach stehen.
»Okay«, sagte Jace langgezogen. »Dann eben kein Small Talk«, schüttelte den Kopf und blickte zu Siobhan. »Was sagst du dazu, Shadow? Von wegen, englische Höflichkeit und so? Ich hoffe, dein Dämon dort unten im Keller benimmt sich etwas besser.« Ein stolzes Lächeln huschte über sein Gesicht. Ihm wurde gerade klar, dass sie heute einen verdammt mächtigen Dämon bezwungen hatten. Vielleicht war es an der Zeit, diesen Sieg auch gebührend zu feiern. Tequila und eine temperamentvolle Barkeeperin eigneten sich ganz hervorragend dafür.
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Es war still im Institut. Ein ereignisreicher Tag neigte sich dem Ende. Der Dämon war gefasst und vorerst sicher verwahrt. Einige Neugierige hatten sich im Laufe des Tages in die unteren Zellen gewagt, mit der Absicht diesen seltenen Dämon zu begaffen, doch mindestens zwei schwere Iridium-Türen und ein Dutzend Wachen hielten sie davon ab, der Zelle nahezukommen.
Einzig Alec und Isabelle hatten ihn bisher aus der Nähe gesehen – diesen wütenden Schwarm Nachtfalter, der die winzige Zelle unermüdlich nach Schwachstellen abzusuchen schien. Doch es gab keine, wussten die Lightwood-Kinder. Das Elektrum aus Isabelles Peitsche hatte natürlich nicht gereicht, um die Wände auszukleiden. Stattdessen spannten sich innerhalb der Zelle unzählige, hauchdünne, silbrige Fäden, die ein Manifestieren des Dämons unmöglich machten. Jedes Mal, wenn er es versuchte, durchschnitt das scharfe Elektrum sein Fleisch und er musste sich wieder in diesen flatternden Schwarm auflösen. Fast hatte Isabelle Mitleid mit ihm. Aber nur fast.
Alec hingegen war eher besorgt, mit welcher Kraft und Ausdauer, der Dämon gegen seine Gefangenschaft aufbegehrte. Sie hatten ihn gefasst, als er durch Branwells Zustand geschwächt war. Wenn es ihr wieder besser ging, würde diese Zelle dann immer noch standhalten?
Er wollte den Dämon so schnell wie möglich aus seinem Institut haben, soviel stand fest. Inquisitorin Herondale war bereits in Kenntnis gesetzt und sie hatte versprochen sich um eine Überstellung Beleths nach Idris, in eine ausbruchssichere Zelle, zu kümmern. Doch es war verständlicherweise nicht gerade ihre oberste Priorität, nachdem, was mit und in Alicante geschehen war. Überhaupt fühlte sich dieser Sieg nicht wie ein Sieg an. Immer noch waren Valentine und Jonathan Morgenstern dort draußen, das Schwert und nun auch der Kelch in Besitz von ihnen oder wer weiß wem.
Alec saß hinter seinem Schreibtisch im Büro und starrte vor sich hin, als Magnus das Büro betrat. Der Schattenjäger blickte kurz auf und sah dann wieder zu dem Stapel Papiere auf seinem Tisch. Magnus setzte sich auf einen Sessel am Kamin und sagte leise: »Wir müssen reden, Alexander.«
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Siobhan schreckte auf. Panisch blickte sie sich um. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Sie fühlte sich anders, irgendwie berauscht und voller Energie. Langsam lichtete sich der Schleier vor ihren Augen und sie erkannte den Raum, in dem sie sich befand als Krankenzimmer. Allmählich begriff sie auch, dass es ihr besserging. Geradezu blendend. Ihre Sinne waren messerscharf. Sie betrachtete ihre Arme, tastete ihren Bauch und ihr Gesicht ab und fand nichts. Keine Wunden, Schrammen, Bisse – ihre Haut war glatt und zeigte keine Spuren von Dämonenangriffen oder sonstigem mehr. Magnus Bane hatte offenbar einen Weg gefunden, sie zu heilen.
Sie atmete einmal tief ein und kräftig wieder aus, war zufrieden und hüpfte vom Krankenbett.
Ihre nackten Füße gaben ein klatschendes Geräusch auf dem kalten Steinboden. Sie fand das lustig. Sehr sogar. Sie konnte nicht anders, als zu kichern. War sie high? Und wenn ja, wovon?
Egal! Sie streckte ihre Arme nach vorne wie ein wandelnder Zombie, um das Gleichgewicht gegen den wankenden Boden unter ihren Füßen zu halten und kicherte wieder. Sie schaffte es bis zum großen Spiegel an der Wand und musste schon wieder kichern. Sie war totenblass, ihre Augen gerötet, die Haare standen wild in alle Richtungen, dann die ausgestreckten Arme und das weite Krankenhaushemd – sie sah aus wie ein Geist aus den gruseligen Stummfilmen, welche Yael und sie immer so gern geschaut hatten.
»Bollocks«, lallte sie, griente über das ganze Gesicht. »Was zur Hölle haben die mir gegeben.«
»Das ist das Vampirgift«, sagte Jace, der schon ein paar Minuten im Türrahmen lehnte und sie amüsiert beobachtet hatte.
»Bollocks«, sagte sie wieder und blickte ihn mit ihren großen Augen an, wie ein Kind, dem man gerade eröffnet hatte, wo die Babys herkommen.
Jace amüsiert das. »Ja.«
»Wie komme ich denn zu Yin Fen?«, fragte sie ihn und stieß mit der Stirn gegen einen Schrank, an dem sie gerade vorbeiwanken wollte.
»Ach, Fuck!«, fluchte sie zum dritten Mal und Jace lachte. Er hätte es sich auch nicht verkneifen können, wenn er gewollt hätte, denn nach unzähligen Tequilas und einem Gin Tonic war Zurückhaltung auch nicht mehr seine Stärke.
»Ich sehe aus wie der verdammte Nachtmahr«, sagte Siobhan und ihr bekümmerter Gesichtsausdruck dazu, das war einfach zu komisch.
Jace kniff die Lippen zusammen und ging zu ihr, damit sie sich nicht noch woanders den Kopf oder was auch immer anstieß. »Hier«, sagte er und reichte ihr ein Glas Wasser. »Das wird helfen.«
Sie leerte das Glas in einem Zug, sah ihn mit großen Augen an und fragte: »Wogegen?«
»Keine Ahnung.«
Kurz war es still zwischen den beiden. Es war eine seltsame Situation. Sie war high und er betrunken. Mit der heißen Barkeeperin hatte es nicht so geklappt, wie Jace es sich vorgestellt hatte. Irgendwie hatte er sich auch nicht wirklich angestrengt. Seine Gedanken waren viel zu oft zurück in das Institut gedriftet, um den Flirt länger als drei Sätze aufrecht zu halten.
Jace half Siobhan wieder zurück zum Bett und setzte sich neben sie.
»So, Goldauge«, sagte sie nach einer weiteren Weile des Schweigens. »Ein toller Trick, den du und Clary da vollbracht habt.«
Er sah überrascht auf. »Das hast du mitbekommen?«
Sie nickte. »Eine Rune, ohne Stele zu aktivieren, und dazu noch eine, die ein Portal öffnet, was sonst nur Warlocks können, das ist schon ziemlich bemerkenswert.«
Jace hob die Brauen und schmunzelte. »Du hast dein Ding, wir haben unser Ding. Wäre doch langweilig, wenn wir alle gleich wären, oder?«
Ihre Mundwinkel zuckten und auf ihre Wangen bildeten sich bezaubernde kleine Grübchen. »Hast recht, Herondale. Ich muss nicht alles wissen. Bin hier auch nur ein Gast.«
Irgendwie verstörte ihn dieser letzte Satz von ihr. Im Prinzip stimmte es, aber er hatte nie darüber nachgedacht, dass sie vielleicht nicht hierbleiben würde.
»Willst du zurück nach London?«
»Es geht nicht um wollen«, sagte sie.
»Also willst du auch lieber hierbleiben? Ich denke, der Rat würde dem sicher zustimmen.«
Sie schüttelte den Kopf, als hätte er etwas vollkommen Absurdes gesagt und wechselte plötzlich das Thema. »Also, Jace Herondale, wie feiert man in New York eine erfolgreiche Dämonenjagd?«
»Nun, was die anderen gerade machen, weiß ich nicht, aber ich für meinen Teil habe schon ein Wörtchen mit Mister Tequila geredet.«
»Offensichtlich.«
»Und was noch?«, fragte sie und ihr Blick veränderte sich.
Jace durchfuhr ein angenehm warmer Schauer. Mit einer eleganten und schnellen Bewegung stand er plötzlich wieder, kickte die Tür des Zimmers mit seinem Fuß zu, beugte sich zu ihr und küsste sie.
Siobhan war überrascht, überrumpelt und gleichermaßen überwältigt von der Art, wie er sie küsste. Vielleicht war es das Vampirgift, vielleicht seine fordernde Art oder einfach nur simples Verlangen nach körperlicher Nähe. Sie kannte solche Typen aus ihrer Vergangenheit. Shadowhunter mit einem ziemlich ausgeprägten Selbstvertrauen und dem unstillbaren Hunger nach Abenteuer, dem sie selbst nicht immer abgeneigt war. Jace war zudem äußerst geschickt und geübt darin, eventuelle Bedenken – ob das wirklich so eine gute Idee war – zu zerstreuen. Er war ein unglaublicher Küsser und versiert mit seinen Händen, denn in nur einem Atemzug, hatte er das Nackenband ihres Hemdes gelöst und ihr das Ding vom Körper gezerrt. Hilfreich war sicher auch, dass sie darunter nichts weiter trug, was seine Hände daran hindern konnte, die nackte Haut darunter zu erforschen.
Er schob sie auf die Liege, während seine Lippen ihren Hals entlang bis zu ihren Schlüsselbeinen fuhren, zerrte sich sein Shirt über den Kopf, um sie anschließend wieder zu küssen. Sein Atem wurde schwerer und ihr leises Stöhnen stachelte ihn nur noch mehr an, doch plötzlich durchzuckte sie ein kalter Schauer. Sie wollte das. Sehr sogar. Aber nicht mit ihm.
»Jace«, sagte sie schwer atmend.
Er schien das nicht zu hören, also sagte sie es lauter, »Jace!«, und schob ihn energisch von sich.
Er hielt augenblicklich inne und sah sie leicht benommen an. »Was ist?«
»Hör auf«, sagte sie leise.
»Was?«
»Das ist keine gute Idee.«
Er wusste das und schimpfte sich innerlich, dass es überhaupt so weit gekommen war. Jace stand sofort auf und drehte sich weg, damit sie die Decke über ihre Blöße ziehen konnte und stammelte: »Tut mir leid. Ich … tut mir wirklich leid.«
Dann stand er noch kurz unentschlossen da, ohne sie anzusehen, fuhr sich mit einer Hand durch das zerzauste Haar, griff dann sein Shirt und verließ fluchtartig den Raum.
Den ganzen Weg den Flur entlang bis zum Fahrstuhl schimpfte er leise vor sich hin, sodass er Clary übersah und mit ihr zusammenkrachte.
»Jace, verdammt!«, sagte sie und musterte irritiert seinen freien Oberkörper und das Shirt in seiner Hand.
»Hast du getrunken?« Sie rümpfte kurz die Nase. »Was machst du hier unten?«
»Ich war bei Doktor Polidori wegen einer Kopfschmerztablette«, log er und zog sich das Shirt über.
Sie sah ihn skeptisch an. »Und dafür musstest du dich ausziehen?«
Er rieb sich mit der Hand den Nacken und sagte, ohne ihr dabei in die Augen zu sehen: »Ja. Ich hatte auch irgendwie so einen komischen Husten und da wollte er mich abhorchen.«
»Husten?«, wiederholte sie noch ungläubiger.
»Ja«, sagte Jace, rollte mit den Augen über seine eigene Unfähigkeit, etwas glaubhafter zu lügen und eilte davon.
Clary sah ihm nach. Die Sache war die. Sie hatte gerade oben in der Zentrale mit dem Doktor gesprochen, um sich nach Siobhan zu erkundigen.