Das Essen dauerte ebenso lange, wie alle befürchtet hatten, und die Gesprächsrunde wurde entsprechend hitzig. Die kaiserliche Familie – inklusive der Zyanya-Schwestern – bemühte sich, den Streit zu schlichten, was letztendlich auch gelang. Die Zwerge, Gorr und Cizikuni schüttelten einander grimmig die Hände, ehe sie gingen.
Einer Einigung oder gar Lösung waren sie trotzdem kaum einen Schritt nähergekommen. Erschöpft lehnte sich Pradiya mit dem Rücken an die Wand, als auch Ajani Saphirauge gegangen war.
Morimori berührte sanft ihren Arm. „Wir sehen uns morgen.“
„Du gehst schon?“, fragte sie ihren leitenden Arzt verwundert.
„Es ist schon spät, und ich muss noch die Leichenhalle aufräumen.“
„Ich hole nur eben meinen Mantel.“
„Nein, Pradiya.“ Mit einem Lächeln hielt der kleine Tiermensch sie zurück. „Ich mache das schon. Du bleibst bei deiner Familie und ruhst dich aus. Du hattest einen langen Tag.“
Widerwillig nickte sie. Als Morimori sich zum Gehen wandte, ergriff sie kurz seine Hand und drückte sie. Er erwiderte den Druck sanft, dann schlug er den Vorhang beiseite und verließ das Zimmer.
Die Kaiserin erhob sich und trat über die zwei Stufen vom Essbereich hoch zum Säulengang. Während ihre Diener sich vor ihr verneigten und die Schwestern und Chiaos ihr folgten, durchschritt sie den Halbschatten und betätigte einen Hebel. Etwas knirschte und rumpelte, im Boden unter sich fühlte Pradiya ein Vibrieren. Dann traten die fünf unter einem weißen Vorhang hindurch, der sich in einem plötzlichen Luftzug bauschte.
Dahinter schloss sich eine runde Terrasse an. Die hinteren beiden Viertel setzten sich gerade zusammen, sodass die Geländer und Böden nahtlos aneinander anschlossen. Auf der linken Seite rumpelte ein eckiges Bauteil davon, offenbar ein Gang mit angeschlossenem Raum, der zuvor an dieser Stelle gelegen hatte.
Pradiya musterte die hölzernen Wände ohne Fenster. Das musste ein Lese- oder Schreibzimmer gewesen sein, denn es war stabil erbaut und schützte seinen Inhalt vor Sonne und Witterung. Einer der stabilsten Räume, der nicht zum Festungsanteil des Wandelbaren Palastes gehörte.
Auf dem neuhinzugefügten Balkon standen Tische und Stühle bereit. Die Kaiserin ließ sich auf eine Bank sinken und lockerte den lila Gürtel mit Drachenmuster, der ihren türkisenen Kimono gehalten hatte.
„Was für ein Abend!“ Sie atmete durch, ehe sie ihren Begleitern bedeutete, sich zu setzen. „Ich habe das Gefühl, die schlechten Neuigkeiten häufen sich. Pradiya, hast du wenigstens etwas Positives zu berichten?“
Pradiya zuckte zusammen, als sich alle Blicke auf sie richteten.
„Nun …“ Sie lächelte schüchtern. „Das habe ich tatsächlich. Wir haben einen neuen Mitarbeiter, einen Dhubyani. Er weiß eine Menge über Medizin und wir machen großartige Fortschritte. Er kann bestimmte Schlangengifte verwenden, um Blutungen zu stoppen.“
„Schlangengifte?“, wiederholte die Kaiserin erstaunt. „Ist das denn nicht gefährlich?“
„In großen Mengen sicherlich.“ Pradiya grinste versonnen. „Und wenn Sayas die Schlangen melkt, natürlich.“
„Sayas also …“
„Shundanos-Sayas Astikis. Er ist wirklich talentiert.“ Sie strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr. „Und er forscht in allen möglichen Gebieten, auch …“ Sie zögerte. Sollte sie es aussprechen? Irgendwie fürchtete sie sich davor – wie man auch einen Wunsch nicht aussprach, da er sonst nicht in Erfüllung gehen würde, wenn der Turmalindrache ihn hörte.
„Wirklich talentiert?“, wiederholte Sago mit einem fiesen Grinsen und stieß Tili an.
„Und er forscht also in allen möglichen Gebieten?“ Tili hob die Augenbrauen.
„Schwesterchen!“, sagten ihre älteren Schwestern gleichzeitig.
Pradiya spürte, wie sie rot anlief. „Ihr seid doof!“ Eilig ergriff sie eines der Zierkissen und warf es nach den lachenden Zwillingen.
Xin und Chiaos stimmten mit ein.
„Dann musst du mir diesen talentierten Arzt einmal vorstellen, Pradiya“, verlangte die Kaiserin.
„Vielleicht“, murrte Pradiya und wich dem Blick ihrer Tante aus. So sehr sie sich freute, inzwischen eine Familie gefunden zu haben, in der sie und ihre Schwestern in Sicherheit waren – manchmal nervte es sie auch.
„Und Sago, wie machen sich die neuen Rekruten?“
„Noch etwas holperig. Wir mussten einige der Übungspuppen auf Zwergengröße umschneidern.“ Sago grinste. „Aber die neuen Waffen machen alles wieder wett.“
Tili schnaubte mit vor der Brust verschränkten Armen. „Die Harpunenspeere waren eigentlich für den Fischfang gedacht!“
„Und momentan hilft die Armee ja auch beim Fischen“, rief Sago ihr in Erinnerung.
„Streitet euch nicht, liebe Nichten.“ Xin hob die Hand. „Wir hatten genug Streit in den letzten Stunden.“
„Natürlich“, murmelte Tili und senkte den Blick.
„Wie geht es mit dem Lagersystem vorwärts?“
Fast sofort leuchteten Tilis Augen auf. „Die Hebearme funktionieren! Und sie sind stark genug, um auch Kanonen zu transportieren. Damit können wir im Handumdrehen alle möglichen Kisten und Fässer einlagern. Das heißt, sobald die Schienen fertig sind.“
Wie auf ein Stichwort richteten sich alle Blicke nach Nordwesten. Dort lag die Stadt Akijama in nächtlichem Nebel unter den Sternen, die hier oben, auf dem höchsten Gipfel, fast greifbar wirkten. Das große Tor und die breite Viadukt-Treppe waren kaum noch zu erahnen, doch dort arbeiteten die Handwerker jeden Tag von früh bis spät, um die Schienen zu verlegen, und manchmal sah man am Tag den weißen Dampf einer Lok aufsteigen.
„Es geht gut voran“, berichtete Chiaos, während er nun sein eigenes Gewand in dunklem Grün lockerte. „Die Truppe von unten in Dhubaayana ist schon beinahe auf Höhe der untersten Wolken, und von oben ist Akijama nicht mehr zu sehen. In einer Woche haben sich die Schienenstränge vereint. Nur … es gibt ein wenig Gemurre über die Flugmaschinen.“ Er sah mit einem entschuldigenden Lächeln zu Tili. „Manche fürchten, dass die Eisenbahn gar nicht genutzt wird, wenn immer mehr Zeppeline gebaut werden.“
„Zeppeline und Koi-Mißas können nicht einmal annähernd so viele Waren transportieren wie eine Eisenbahn“, erwiderte Tili selbstbewusst. „Du kannst deine Arbeiter beruhigen. Außerdem ist so ein Schlafwagen mit Küche viel bequemer als ein Zeppelin.“
„Allerdings muss man während der gesamten Fahrt mit der Steigung leben“, gab Chiaos mit einem Lächeln zurück. „In den Abteilen ist es zwar ausgeglichen, aber vom Küchenwagen zum Sitzplatz zurückzukehren wird sicherlich ein Geschicklichkeitstest.“
Pradiya sah zur Kaiserin. Chousokabe-Xin verfolgte das Gespräch zwischen ihrem Sohn und ihrer ältesten Nichte mit einem versonnenen Lächeln auf den Lippen. Manchmal kam einem die mächtigste Elfe von Akijama traurig und einsam vor. Inzwischen wusste Pradiya, dass Xin ihre Schwester vermisste. Zu erfahren, dass Yomisha all die Jahre in Armut und Elend in der Stadt gewesen war, vertrieben von falschen Vorwürfen und wegen ihrer großen Liebe, hatte Xin erschüttert.
Als sie Pradiyas Blick bemerkte, richtete sich die Kaiserin auf. „Schläfst du heute Nacht im Palast?“
Pradiya nickte. „Mori hat mir förmlich verboten, wieder ins Spital zu kommen. Mir bleibt wohl nichts anderes übrig.“
Xin erhob sich. „Dann werde ich die Diener anweisen, auch dein Zimmer vorzubereiten.“ Sie rauschte zurück ins Esszimmer. Ihr Kimono schleifte auf dem Boden, sodass die Kaiserin beinahe zu schweben schien. Nachdem sie unter dem Vorhang hindurchgetreten war, hörten die jüngeren Elfen, wie sie in die Hände klatschte und Befehle rief.
Dann stockte sie. „General Tzacorii?“
„Majestät“, erklang die Stimme des obersten Wächters angespannt. „Gut, dass ich Euch noch antreffe. Es ist … etwas geschehen.“
„Ihr seht besorgt aus“, entgegnete die Kaiserin.
Chiaos tauschte einen Blick mit den Schwestern. Dann sprangen alle vier auf und eilten in den Nebenraum. Pradiya schluckte, als sie Sagos Vorgesetzten sah. Cizikuni-Tage Tzakorii hatte seine rote Rüstung angezogen, auf dem Rücken trug er einen der Harpunenspeere, gut erkennbar am verdickten Ende der Waffe, aus dem kräftige Seile hingen. Er hatte den gehörnten Helm abgesetzt und verneigte sich, ehe er seinen besorgten Blick wieder auf die Kaiserin richtete.
„Ich fürchte, ich habe schlechte Neuigkeiten. Während des Essens gab es einen Vorfall im Kerker des Palastes. Ich wurde in Kenntnis gesetzt, als ich gerade gegangen war, und habe mir ein Bild der Lage gemacht. Es … es gab einen Ausbruch.“
Pradiya spürte, wie sich eine eisige Faust in ihren Magen grub. Ihr Blick huschte zu Tili und Sago, die ebenfalls schwer schluckten.
„Wer?“, verlangte die Kaiserin zu wissen.
„Eure ehemalige Beraterin Xpiakane. Sie konnte fliehen.“