„Öffne das Tor!“
„Bist du verrückt geworden?“ Sago drehte sich zu Cizikuni um. „Da draußen ist eine Armee.“
Der andere Kommandant sah sie finster an. „Das sind die wahren Patrioten da draußen. Jene, die wir beschützen sollten.“
Eisige Kälte kroch kribbelnd über Sagos Rücken. „W-was redest du da?“
„Das sind jene, die die Stadt endlich reinigen wollen. Du brauchst keine Angst zu haben, Ix-Sago. Öffne die Tore.“
Wieder sah sie durch die Schießscharte hinaus. Die Menge zog die Brücke hinauf, jedenfalls ein Teil. An dem Fackelschein konnte sie erkennen, wie einzelne Gruppen sich in den Seitenstraßen verteilten.
Sicherlich auf der Jagd nach Zwergen.
Sie drehte sich zu Cizikuni um. „Du bist nicht überrascht. Hast du … hast du das hier geplant?“
„Wir sind die Garde. Unsere Aufgabe ist es, die Stadt zu beschützen. Vor jeder Art von Feind.“
Das war ein ‚Ja‘, wenn auch ein verdrehtes. Sago wich bis an die Tür zurück. „Das ist Wahnsinn!“
Cizikuni seufzte. „Wenn du das so siehst, tut es mir leid, Sago.“ Er nahm seinen Harpunenspeer vom Rücken und richtete die Spitze auf sie. „Entweder, du öffnest die Tür, oder du trittst beiseite.“
Ihr Herz hämmerte wie wild. Sie trug zwar ihre Rüstung, aber ein aus kürzester Entfernung abgefeuerter Harpunenspeer könnte den Stahl leicht durchschlagen. Und Cizikuni würde seine Drohung wahr machen!
Sie musste Zeit gewinnen, um sich etwas zu überlegen.
„Weiß die Kaiserin ebenfalls Bescheid?“
„Bedaure“, sagte Cizikuni. „Wir haben sie erst am heutigen Morgen eingeweiht. Doch obwohl sie sich überzeugen ließ, dass die Zwerge für den Tod ihres geliebten Sohnes verantwortlich waren, zeigte sie sich wenig kooperativ.“
„Das … das wart ihr! Die Bergblutflaschen waren nur eine Ablenkung!“
„Eine wirkungsvolle Ablenkung.“ Cizikuni nickte.
„Was habt ihr mit meiner Tante gemacht?“
„Keine Sorge. Sie ist im Kerker und wartet auf ihr gerechtes Urteil. Das wird unsere Führerin bald vollstrecken.“
Sago spürte die eisenverstärkte Tür im Rücken. „Xpiakane.“
Cizikuni hob den Harpunenspeer noch ein Stück. „Also, Sago. Du bist ein kluges Mädchen. Dieses Tor werden wir so oder so öffnen. Auf welcher Seite des Urteils möchtest du stehen: Heft – oder Klinge?“
⁂
Unter ihren Schritten knirschten Glasstücke der uralten Kristalldarstellungen. Noch immer glühten die bunten Scherben und zauberten einen fast entrückten Farbnebel auf die Straßen. Sie spiegelten den Schein der Feuer, die die Stadt zerfraßen.
Pradiya und Tili rannten Seite an Seite, so schnell sie nur konnten. Sayas war zurückgeblieben, doch um ihn konnten sie sich nicht sorgen. Der Mob war beinahe beim Palast, wo Sago in der Falle saß.
„Die Zwerge waren es!“, brüllte jemand auf der Hauptstraße. Aufkeuchend duckten sich die Schwestern in den Schatten einer Gasse. „Die Zwerge haben die Stadt angezündet.“
„Das ist doch eine Lüge!“, schimpfte Tili.
„Natürlich ist es das. Wo lang jetzt?“ Pradiya sah sich um.
Sie folgten den ehemaligen Zwergengassen, abseits der Straßen, in denen der Mob wütete. Tili orientierte sich und wählte die linke Abzweigung. Keuchend rannten die Schwestern weiter, während links und rechts Feuer in den Himmel schlugen und dichter Rauch über der Stadt hing.
„Halt!“, rief plötzlich jemand gebieterisch.
Die Schwestern erstarrten. Hinter ihnen stürmten mehrere Pakis in die Gasse.
Die Gardisten darauf musterten Pradiya und Tili finster. „Seid ihr nicht die Mischlinge? Wo wollt ihr hin?“
„Zum Palast!“ Mutig trat Pradiya vor. Tili konnte kein Anzeichen von Angst an ihrer Schwester erkennen. Stattdessen wirkte Pradiya kalt. Es machte ihr mehr Sorge als die brennende Stadt. „Wir wollen zu Kommandantin Sago.“
„Aufsteigen“, befahl der Wortführer der Gardisten und schickte zwei Reiter vor, die Tili und Pradiya hinter sich auf den Sattel zogen. Sie erkannten ihre eigenen Reittiere in der Gruppe, die nun von ihnen fremden Gardisten geritten wurden. Offenbar hatte die Garde jedes verfügbare Paki genommen.
Der Rest der Gruppe umschloss sie wie Gefangene. Nur, dass sie nicht gefesselt worden waren – doch Tili fühlte sich, als würde man ihr eine Schlinge um den Hals legen.
Ohne weitere Worte setzte sich der Tross in Bewegung und trug die Schwestern schnurstracks zum Palast – genauso gut hätte es das aufgesperrte Maul des Turmalindrachens sein können.
Tili sah zu Pradiya. Doch ihre jüngere Schwester starrte stur geradeaus, grimmig und zu allem entschlossen.
„Wen habt ihr da?“, rief ein Gardist am Fuß der Treppe den Tross an.
„Die Zyanya-Schwestern.“
Neugierig musterte der Treppenwächter sie und ein Grinsen breitete sich aus, als er keine Fesseln bemerkte. „Bringt sie zu ihrer Tante. Die Seherin wird feststellen, welches Schicksal ihnen widerfährt.“
Tili schluckte. War die Kaiserin etwa gefangen worden?
Die Zerstörung heute war offenbar von langer Hand geplant. Xpiakane hatte nur einen Funken gebraucht, um das Feuer zu entzünden, doch sie selbst ging gründlich und methodisch vor, um Akijama endgültig zu übernehmen.
Endlich offenbarte auch Pradiya ein winziges Zögern, als man sie im Galopp über die Stufen brachte. Sie hatten sich geradewegs in die Hände ihres Feindes begeben.
⁂
Der Kaiserin hatte Cizikuni die Hände auf den Rücken gefesselt. Sago zerrte sie voran, die Treppenstufen hinauf zum höchsten Gebäude des Palastes. Dies war momentan ein offenes Turmzimmer mit einem rundläufigen Balkon und vier offenen Torbögen auf jeder Seite, das aus den Tiefen des Gewölbes herausgeholt worden war.
Als Sago und die Kaiserin ankamen, war Cizikuni bereits anwesend, neben ihm mehrere Wachen und ein gutes Dutzend Pakis. Sago erkannte ihr dunkelblaues Tier, daneben auch Pradiyas und Tilis Reittiere. In dem winddurchzogenen Raum scharrten die Pakis nervös mit den Hufen.
Cizikuni schwieg und stand stramm. Als sie die enge Wendeltreppe verließ, erkannte Sago, warum.
„Ein wunderschöner Anblick, nicht wahr?“ Xpiakane stand am Geländer, eine schmale Gestalt vor der in vielen Farben brennenden Stadt. Ihr blaues Haar wehte leicht im Wind, ehe sie sich langsam umdrehte und Sago musterte. „Deine Schwestern sollten bald hier sein. Es scheint, als versuchen sie, dich zu retten. Törichte Kinder.“ Die Magierin lächelte und der Augenstein auf ihrem Kleid blitzte. „Es gibt nichts mehr, das sie retten können.“
Sago senkte den Blick. „Seherin – ich bringe Euch die Kaiserin, wie gewünscht.“ Sie stieß ihre Tante vor.
„Sago …“, wimmerte diese.
Sago nahm Haltung an.
„Ich danke dir, Kind.“ Xpiakane lächelte, dann wandte sie sich an die Kaiserin. „Weißt du, Xin … du hättest nicht viel tun müssen. Dich einfach nur zurückhalten und alles geschehen lassen. Es hätte so einfach sein können.“
„Du bist verrückt!“, stieß Chousokabe-Xin aus. „Waren es deine Schergen, die Chiaos getötet haben? Sag die Wahrheit.“
„Aber, aber, meine Liebe. Das waren natürlich zwergische Brandstifter.“ Xpiakanes Lächeln war falsch. „Genau wie die Zerstörung dort unten. Sie haben unsere Lebenswelt noch nie verstanden. Alles, was diese Sterblichen kennen, ist Vernichtung. Und nun müssen wir Feuer mit Feuer beantworten.“ Ihre Stimme wurde hart wie Stahl. „Kein Zwerg darf überleben.“
„Das wirst du nicht tun!“, hauchte Xin. „Das wirst du nicht schaffen!“
„Mit dem richtigen Willen ist alles zu schaffen“, widersprach Xpiakane und wandte sich ab, da erneut Schritte auf der Treppe erklangen. Diesmal war es Hufgeklapper, da die Gardisten unbeeindruckt die Treppen hinaufritten. Ihre Pakis trampelten mit aschegeschwärzten Hufen über den teuren Teppich in den Gemächern der Kaiserin, ehe ihre Besitzer abstiegen.
Sago schnappte nach Luft, als Tili und Pradiya hinaufgestoßen wurden, in Begleitung von weiteren vier Gardisten. Sie waren nicht gefesselt, doch die Angst in ihrem Blick machte klar, dass sie ebenso hilflos waren wie die Kaiserin.
„Ah, die Schwestern!“ Xpiakane lächelte breit, während Tili und Pradiya bei ihrem Anblick blasser wurden. „Ich freue mich, euch wiederzusehen. Unser letztes Zusammentreffen war nun nicht so glücklich. Aber da die liebe Sago mir als Kommandantin einen wunderbaren Dienst erweist, möchte ich sie gerne belohnen.“
Tilis entgeisterter Blick sprach Bände, als sie Sagos Uniform musterte und erkannte, dass die jüngere Zwillingsschwester nicht unter Zwang hier war. Statt Wut oder Trauer zeigte sich Enttäuschung in ihrem Blick.
„Wenn ihr mir Treue schwört, können wir die Vergangenheit vergessen“, fuhr Xpiakane fort. „Ich will eine neue Welt erbauen, eine bessere Welt. Eine talentierte Handwerkerin und eine Ärztin kann ich da immer gebrauchen. Schließt euch mir und eurer Schwester an, liebe Kinder. Oder … oder sterbt an der Seite der falschen Kaiserin.“
„Sterben?“, rief Sago aus. „Es hieß, es gibt einen Gerichtsprozess!“
„Aber natürlich doch!“, sagte Xpiakane mit sanfter Stimme. „Aber du weißt doch, Ix-Sago – die Kaiserin hat die Zwerge in die Stadt gelassen, dieses dreckige Pack, das Akijama nun zerstört. Sie hat ihr Volk nicht beschützt, das zu ihr aufsah und ihr vertraute. Es gibt nur eine Strafe für diesen Hochverrat.“
Sago spürte Kälte in sich aufsteigen.
„Oder siehst du das etwa anders?“
„N-nein.“ Sago nahm steif erneut Haltung an.
„Das könnt Ihr nicht machen!“, brüllte Pradiya und wollte vorspringen, doch drei Gardisten hielten sie zurück. „Niemals werde ich Euch folgen! Niemals!“
Xpiakane seufzte und nickte Cizikuni zu. „Die erste Entscheidung ist damit gefallen.“
Der Kommandant trat vor und zog in einer fließenden Bewegung sein Schwert.
„Nein!“, brüllte Tili auf und bäumte sich gegen die Gardisten, die sie hielten.
Cizikunis Schwert pfiff durch die Luft – und trennte den Kopf der Kaiserin von ihren Schultern, ehe jemand reagieren konnte.
Sago ächzte auf. Pradiya sank auf den Boden. Mit einem organischen Geräusch fiel Xins Kopf auf den gefliesten Boden und rollte über den Marmor. Ihr Körper in den reichen Gewändern sank langsamer in sich zusammen und ihr türkises Kleid bauschte sich um sie.
„Natürlich können wir dem Volk nicht mit der Wahrheit um Chousokabes Verrat das Herz brechen“, sagte Xpiakane unbeeindruckt, während sie ihren Gardisten bedeutete, nun Pradiya in die Mitte des Raums zu führen. „Es wird leichter für sie, wenn wir ihnen sagen, dass die Kaiserin einem Attentat zum Opfer fiel …“
Cizikuni holte erneut mit dem Säbel aus. Tili stemmte sich brüllend gegen ihre Wachen.
Sago schleuderte ihren Dolch. Die Klinge bohrte sich in Xpiakanes Schulter. Als die Seherin aufschrie, und die Wachen erschrocken zusammenfuhren, konnte Tili sich befreien. Sie warf sich über Pradiya und riss sie mit sich nach unten. Gleichzeitig traf Sagos Faust Cizikuni und das Schwert des Kommandanten verfehlte die beiden Zyanya-Schwestern um Haaresbreite. Die Klinge bohrte sich in den Boden, über den die wachsende Blutlache vom Körper der Kaiserin kroch.
Sago zog ihr eigenes Schwert und drängte die Wächter zurück. Cizikuni stürzte an die Seite von Xpiakane und versuchte, ihre Blutung zu stoppen.
„Die Pakis, schnell!“, rief Sago, als Pradiya und Tili auf die Beine kamen.
Sie ergriffen die Zügel der drei Tiere, die Chousokabe ihnen einst geschenkt hatte. Folgsam ließen die Pakis die Schwestern aufsteigen, im nächsten Moment sprangen sie auch schon trittsicher wie Bergziegen die Wendeltreppe hinunter, ehe die restlichen Wachen reagieren konnten.
„Fangt sie!“, erklang Xpiakanes Toben über ihnen. „Tötet sie! Tötet die Mischlinge!“
Tilis rostrotes Paki sprengte durch die große Halle und auf das offene Tor zu. Hinter ihr folgte Pradiyas grünes Tier, in dessen Sattel die Heilerin schluchzend zusammengesunken war. Mit dem Säbel in der Hand hieb Sago nach jedem, der es wagte, in den Weg der Schwestern zu springen.
„Nicht die Brücke!“, rief sie Tili zu. „Wir müssen in den Berg!“
Tili gehorchte und lenkte ihr Paki über den Abstieg, über den normalerweise Baumaterialien transportiert wurden. Einen Moment hallte der Hufschlag der drei Pakis im Tunnel, dann brachen sie in die riesige Halle voller verschiebbarer Gebäudeelemente aus, die jetzt verlassen dalag.
Sago trieb ihr Paki an Pradiya und Tili vorbei und führte sie über Treppen und Plattformen hinab. Oben erklangen die Rufe ihrer Verfolger und der Hufschlag ihrer Reittiere.
Sago entdeckte den Tunnel und lenkte ihr Paki hinein. Der Gang schien in einer Sackgasse zu enden, doch sie drückte gegen den Stein, bis dieser nachgab.
Eine Wand schwang auf und offenbarte einen dunklen, langen Gang.
Tili riss eine Fackel aus ihrer Halterung in der Wand und ritt voraus. Pradiya folgte, und Sago ließ die Geheimtür des dritten Tors hinter ihnen ins Schloss fallen.
Sofort wurde der Lärm hinter ihnen leiser und Finsternis umschloss den schwachen Schein von Tilis Fackel.