Die zwielichtige Bar Zum Drachenzahn hatte ein Hinterzimmer – natürlich hatte sie das! Als Tili sich auf einen etwas zu niedrigen Schemel setzte, sahen die Zwergenarbeiter ängstlich zu ihr auf. Rauch ihrer Zigarren füllte die Luft im ohnehin engen und dunklen Zimmer.
Sie hatte alle Arbeiter aus der Menge herausgepflückt, die sie erkannt hatte. Sicherlich waren ihr ein paar entgangen, als sich das Publikum nach der Rede in alle Richtungen verteilt hatte, doch Tili hatte immerhin neun Zwerge abfangen können. Die beäugten sie nun nervös.
„Also … was ist das hier für ein Club?“
„Man geht halt hier hin. Der Sake ist billig“, verteidigte sich einer der Zwerge. „Es ist warm, es gibt Unterhaltung …“
„Anderswo ist der Sake mit Sicherheit ebenfalls billig.“ Tili musterte ihre Leute streng. „Wer war der Redner?“
„Ich weiß seinen Namen gar nicht mehr“, murmelte einer. „Ihr?“
Allgemeines Kopfschütteln folgte.
„Es redet immer mal jemand anderes“, warf eine Zwergin ein.
„Und auch über andere Themen?“
„Also …“
„Denn auf mich wirkt das, als würde hier jemand gegen die Kaiserin hetzen und einen Keil zwischen Elfen und Zwerge treiben.“ Tili seufzte. „Ich weiß, es ist momentan schwer, als Zwerg Arbeit zu finden. Für die Elfen und besonders für die Menschen ist es aber genauso. Die Kaiserin tut, was sie kann, um die Ungerechtigkeiten von damals ungeschehen zu machen.“
Die Zwerge wichen ihrem Blick aus.
„Reicht euch das nicht?“
„Es ist nur … seit dem Tod des Thronfolgers wurden die Maßnahmen gestoppt. Es werden keine neuen Häuser mehr gebaut. Jede Woche gibt es weniger Nahrungsmittel.“
„Unsere Kaiserin trauert!“
„Aber wir brauchen sie, Frau Zyanya. Wir brauchen unsere Herrscherin. Die Elfen hassen uns, von alleine werden sie uns nicht helfen. Sie glauben, die Geschichte mit den Yetis ist eine Verschwörung und dass wir die Stadt übernehmen wollen.“
„Wer glaubt das?“
„Na, alle Elfen!“
„Mit Sicherheit nicht!“ Tili verschränkte die Arme vor der Brust.
Die Zwerge stockten. Einen Moment hörte man nur das Stühlerücken aus dem Hauptraum, wo der Besitzer der Bar aufräumte. Im schwachen Licht der einzigen Öllampe im Nebenzimmer flatterte eine verirrte Motte.
„Ihr seid vielleicht nicht so, Frau Zyanya, aber Ihr seid auch zur Hälfte ein Zwerg.“
„Auch im Palast sind alle auf eurer Seite“, versicherte Tili ihren Arbeitern. „Es ist nur eine Minderheit, die euch hasst.“
„Aber wenn wir auf offener Straße beschimpft werden – oder sogar angespuckt! – tut niemand etwas. Alle schweigen nur oder sehen weg.“ Die Zwergin sah auf ihre Hände, die sich zur Faust ballten. „Mein Vetter hat einen Laden im Diamantviertel, aber die Elfen prellen ihn ständig um sein Geld. Sie bezahlen nur die Hälfte, weil sie die Ware angeblich vom ‚Zwergischen‘ reinigen müssten. Und die Garde sagt immer nur, sie könnte uns damit nicht helfen.“
„Das ist auch nur momentan so“, versprach Tili. „Xpiakane wird immer noch gesucht und …“
„Ist sie denn wirklich ausgebrochen?“, fragte ein anderer Zwerg. „Niemand hat etwas von ihr gehört oder gesehen. Hätte man sie nicht längst finden müssen?“
„Sie ist eben eine Magierin.“ Tili seufzte. Von dem dritten Tor durfte sie immer noch nichts erzählen, da war die Kaiserin sehr resolut gewesen. Xin wollte verhindern, dass sich die Leute noch unwohler fühlten.
Es sah so aus, als würde ihr Plan jedoch nach hinten losgehen.
„Woher wissen wir denn, dass das alles stimmt? Es gibt kein Anzeichen dafür, dass Xpiakane wirklich frei herumläuft.“
„Was sollte denn sonst geschehen sein?“, fragte Tili verwirrt.
„Na … die Seherin sitzt noch im Kerker, und ihre Flucht ist eine Lüge, um all diese Maßnahmen zu rechtfertigen.“
⁂
Mond und Sterne waren das einzige Licht, das auf die Straßen fiel, als Pradiya vor das Spital trat. Die Feuerschalen entlang der Hauptstraße waren gelöscht worden, um Holz und Öl zu sparen, die sie für den Winter brauchten.
Die Schienen der Eisenbahn glitzerten im Mondlicht wie Eis inmitten des Kopfsteinpflasters. Morimoris neues Spital lag mittig in der Stadt. Von der Hauptstraße wurde es nur durch einige Gebäude getrennt, Läden des Diamantviertels, das sich inzwischen vom Berg bis zum Elfentor an der Straße entlang erstreckte, wo die Eisenbahn ihre Waren regelmäßig ablieferte. Der Fortschritt hatte seinen Preis, denn immer wieder bekam das Spital auch Patienten, die sich auf oder an den Schienen verletzt hatten. Pradiya drängte Tili, ein Geländer für die Bahnstrecke zu bauen, aber Tili zögerte. Sie hatte Chiaos‘ Projekt übernommen, doch sie wollte nicht zu viele Änderungen vornehmen.
Die kalte Nachtluft tat gut nach der hektischen Schwüle im Spital. Doch die erhoffte Ruhe schien Pradiya auch hier nicht finden zu können. Sie hörte Schritte in ihrem Rücken.
Als sie sich umdrehte, erkannte sie die Zwergin, die bereits am Abend ihren Sohn gesucht hatte. „Doktor Zyanya …?“
„Hast du deinen Sohn immer noch nicht gefunden?“, fragte Pradiya verwirrt. Sie hatten alle Verletzten behandelt und die meisten bereits nach Hause geschickt.
Die alte Zwergin schüttelte den Kopf. „Nein. In der Hütte ist er auch nicht. So spät war er noch nie zurück.“
„Hast du es bei anderen Heilern versucht? Wo war er denn vorher? Musste er vielleicht Überstunden machen oder ist noch in eine Bar gegangen und schläft woanders?“
„Vielleicht. Aber das hat er noch nie gemacht.“ Die Zwergin seufzte und sank auf eine der kleinen Bänke. „Ich habe keine Ahnung, wo er sein kann.“
„Er wird sicherlich wieder auftauchen.“ Pradiya bemühte sich um einen optimistischen Tonfall. „Hast du eine Zeichnung von ihm? Ich kann unsere Helfer anweisen, die Augen offen zu halten.“
„Ja, das wäre sehr nett. Ich bringe gleich morgen ein Bild vorbei.“ Die Zwergin sah auf. „Ihr seid sehr nett, Doktor Zyanya. Nicht so wie die anderen Elfen.“
Pradiya nickte der Zwergin zu, die sich bald darauf schlurfend an den Heimweg machte. Pradiya sah zu den Sternen am klaren Himmel über sich, doch wieder hörte sie Schritte hinter sich.
„Willst du nicht schlafen?“
„Ich brauche einen Moment, um wieder zur Ruhe zu kommen. Heute war es sehr hektisch.“ Sie drehte sich zu Sayas um. „Was ist mit dir? Für dich ist es ebenso spät.“
Der dhubyanische Heiler lächelte. „Du hast mich durchschaut. Ich wollte etwas frische Luft schnappen. Die Chirurgie ist viel zu eng und stickig.“
Verstohlen musterte Pradiya den Arzt, während sie tat, als würde sie weiterhin die Sterne bewundern. Sayas trug einen dicken Überwurf, obwohl es noch gar nicht so kalt war. Doch offenbar war er das tropische Dschungelklima gewöhnt.
„Wir hatten noch gar keine Gelegenheit, uns wirklich zu unterhalten“, begann der Dhubyani leise. „Jetzt ist vielleicht auch nicht der richtige Zeitpunkt, wir sind beide müde. Aber wenn das für dich in Ordnung ist – ich habe gehört, dass du zur Hälfte Zwergin bist.“
„Ähm, ja. Unser Vater war ein reisender Forscher, Lankretes Rauchquarz.“ Pradiya spürte, wie sie rot wurde. Die meisten Elfen und Zwerge fanden diesen Umstand interessant, doch für gewöhnlich tuschelten sie hinter ihrem Rücken. Offenes Interesse an ihrer Person war ihr fremd. Und wirklich wohl fühlte sie sich selbst bei diesem Thema auch nicht. Die meiste Zeit verdrängte sie den Umstand ihrer Herkunft, wurde jedoch immer wieder von unangenehmen Fragen aufgeschreckt.
‚Wächst dir dann auch ein Bart?‘
‚Wie ist das so?‘
‚Bist du auch sterblich?‘
Sie wusste auf nichts davon eine Antwort.
„Das ist wirklich höchst interessant“, murmelte Sayas. „Weißt du, ich forsche auch zum Thema Genetik und Magie. Sofern es dir nichts ausmacht, würde ich dir gerne ein paar Fragen stellen. Vielleicht können wir uns mal zu einem Tee verabreden. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass du zu dem Thema ebenso viele Fragen hast wie ich.“
Er lächelte ihr zu und Pradiyas Herz machte einen kleinen Sprung. „G-gerne.“
⁂
Tili rührte sich nicht, als endlich schwere Stiefel die Treppe herunterpolterten. Unverwandt starrte sie den Gardisten an, der ihr den Zugang zum Kerker verweigerte, während der zweite losgelaufen war, um Verstärkung zu holen.
Es war jedoch nur ein paar Stiefel, das herunterkam.
„Tili?“
Die Mechanikerin drehte sich um. „Sago?“
Verwundert sahen die Zwillinge einander an. Sago überwand die letzten Stufen langsamer. Sie trug ihr Nachtgewand, wirkte aber nicht verschlafen. Stattdessen trug sie dezentes Make-Up und hatte sich in der kurzen Zeit sogar frisiert. Tili musste sie dafür bewundern, wenngleich sie Sagos Eitelkeit nicht teilte. Ihr selbst war egal, wie sie aussah. „Der Wächter sagte, du willst unbedingt in den Kerker. Wieso? Was ist los?“
„Ich, ähh …“ Tili hatte sich darauf vorbereitet, einen Offizier anzubrüllen. „Ich möchte sehen, dass Xpiakane wirklich weg ist.“
Sago runzelte die Stirn. „Wieso sollte sie nicht weg sein?“ Dann nickte sie dem Gardisten zu. „Öffne die Tür.“
„N-natürlich, Kommandant Zyanya.“ Eilig gehorchte der junge Elf.
Die Schwestern traten in einen langen, dunklen Gang, von dem einige Zellen abgingen. Hinter den Gittern saßen Zwerge oder Elfen, die aus verschiedenen Gründen inhaftiert waren. Alle musterten die ungewohnten Gäste neugierig.
„Hier war sie.“ Sago hielt vor der vorletzten Zelle.
Tili sah auch in die anderen Zimmer. Diese waren leer.
„Erzählst du mir jetzt, was los ist?“, fragte Sago sanft.
„Es ist nur … die Zwerge draußen zweifeln daran, dass sie wirklich geflohen ist“, murmelte Tili und strich sich die hellere Strähne ihres Haars zurück. „Sie glauben, dass es vielleicht ein Trick ist, um die Stadt zu beherrschen.“
„Wieso sollte jemand das tun?“ Sago runzelte die Stirn. „Diese Zwerge sind verrückt.“
„Ja, vielleicht. Aber es glauben genug von ihnen daran, dass sie selbst etwas gegen Xpiakane unternehmen wollen.“
„Was?“ Sago schrie fast.
„Kannst du es ihnen verdenken? Sie haben in den letzten drei Jahren von so vielen Lügen erfahren, die sie unterdrücken sollten.“ Tili seufzte schwermütig. „Viele Zwerge vertrauen dem Drachenzahn mehr als der Palastgarde.“
„Drachenzahn?“
„So nennt sich ihre Gruppe. Nach der Bar, in der sie sich treffen.“
Sagos Kiefer mahlten. „Haben sie Waffen? Wie viele sind es?“
Tili stockte. „Du willst sie doch nicht verhaften, oder?“
„Tili“, Sago knurrte fast, „es gab einen Anschlag auf den Palast, deinen Palast. Ein Brandanschlag der Zwerge. Und jetzt erzählst du mir, dass sie sich zu einer paramilitärischen Gruppe zusammenschließen, gegen die Kaiserin wettern und an verrückte Lügengeschichten glauben.“
„Warte, bitte. Lass mich das klären. Ich weiß, dass wenigstens meine Arbeiter nicht so sind.“
„Das kannst du gar nicht wissen“, widersprach Sago hochmütig. „Aber natürlich werden wir alles prüfen. Wenn sie nicht für den Anschlag verantwortlich sind, sind sie bald wieder frei. Doch diese Möglichkeit müssen wir erst einmal ausschließen. Sonst werden noch mehr Elfen sterben.“