„Generalin Zyanya?“
Sago hob den Blick und musterte den jungen Wächter, der eintrat. „Was gibt es?“
Eigentlich hatte sie keinen Dienst. Es musste also wichtig sein.
„General Tzacorii verlangt Eure Anwesenheit in einer Sitzung.“
„Und hat Cizikuni auch gesagt, worum es geht?“
Der junge Gardist schüttelte den Kopf. „Bedaure, nein, Generalin Zyanya.“
Sie seufzte, schob die Stadtpläne an die Seite und stand auf. „Führe mich zu ihm.“ Hier würde sie ohnehin so bald keine Ruhe finden.
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„Wie lange will die Kaiserin den Palast noch abriegeln? Wir müssen doch weiterarbeiten.“
Tili merkte, dass sie die Schultern instinktiv hochziehen wollte, doch sie zwang sich, ruhig und souverän zu erscheinen. Mit so viel Zuversicht, wie sie aufbringen konnte, musterte sie die besorgten Zwerge. „Es ist ja nur vorrübergehend. Bis sich die Lage beruhigt hat.“
„Das hast du schon letzte Woche gesagt! Es ist bald Herbst und …“ Der Zwerg sprach nicht weiter. Doch im Fackelschein konnte Tili sehen, dass mehrere Zwerge grimmig nickten.
Mit einem Seufzen ließ sie sich auf eine der Steinbänke sinken. Die steinernen Pyramiden hatten oft solche Sitze im Inneren, diese war keine Ausnahme. Der Wind pfiff durch die niedrigen Türöffnungen auf allen vier Seiten. In den Ecken hatten sich die Zwerge mit Decken und Kissen gegen die Kälte zusammengedrängt, doch wenn es noch kälter wurde, würde das nicht mehr reichen. Schon jetzt blieb ihnen nur Holz zum Heizen, denn Öl konnten sie sich nicht leisten. Und auch Holz wurde teurer, je schwieriger es war, dieses bis in die Berge zu transportieren.
„Jedenfalls beantwortet das meine Frage nicht. Wo sind alle?“ Tili sah sich um. Nur ein Dutzend Zwerge waren anwesend – normalerweise waren es um die fünfzig.
„Die sind in einer Bar im Obsidianviertel.“
„Obsidian?“ Tili schluckte. „Was wollen sie denn ausgerechnet dort?“ Die Siedlung lag neben dem bereits verrufenen Rubinviertel, doch das Obsidianviertel hatte wohl den schlechtesten Ruf von allen Stadtteilen Akijamas.
Die Zwerge zögerten, ehe sie mit der Antwort herausrückten. „Ein paar der Jungs glauben, dass die Palastwache sich nicht genug bemüht, Xpiakane einzufangen. Und sie … na ja, sie wollen die Dinge in die eigene Hand nehmen.“
„Was?“, rief Tili aus. „Aber das ist gefährlich!“
Die Zwerge tauschten Blicke. „Aber wenn sie nicht gefunden wird, dann bleibt die Stadt im Kriegszustand. Es gibt kaum Arbeit für uns, die nicht von Elfen oder Menschen besetzt ist.“
Tili seufzte. „Ich weiß, ihr meint es nur gut. Vielleicht kann ich mit Sago sprechen. Aber zuvor – wo ist diese Bar?“
Den Zwergen war anzusehen, dass sie nicht glücklich damit waren, ihr alles zu verraten. Ein paar grummelten zornig in ihrer eigenen Sprache, ehe sie schließlich allmählich mit der Position der Bar herausrückten.
„Korrka“, dankte Tili ihnen zum Entsetzen einiger auf Zwergisch. „Ich werde mit den Jungs reden.“
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„Ah, Sago! Willkommen.“ Cizikuni lächelte breit, als sie eintrat, doch das konnte nicht über die Müdigkeit in seinem Blick hinwegtäuschen.
Außer dem General waren nur vier weitere Soldaten anwesend, alles hochrangige Offiziere. Cizikuni wartete, bis Sago die Tür geschlossen hatte.
Sie schluckte. „Es ist also ernst, wie?“
„Wir möchten nicht, dass die Rekruten zu viel davon mitbekommen. Es könnte eine Panik auslösen.“
„Was ist passiert?“
Cizikuni legte mehrere Pergamente auf den Tisch. „Die hat eine Suchpatrouille in mehreren Hintergasse gefunden. Jemand hängt diese Plakate aus.“
Sago trat näher und warf einen Blick auf die Papiere. Mit Kohle waren Bilder darauf gezeichnet. Je länger sie hinsah, desto entsetzlicher waren sie eigentlich: Zwerge mit struppigen Bärten und teuflischem Grinsen trampelten über am Boden liegende Elfen. Yetis aßen eine Suppe, in der spitze Ohren trieben. Elfen in der Uniform von Gai-Shitori kämpften gegen grünhaarige Mooselfen aus Dhubaayana, während sich hinter ihnen Zwerge und Yetis mit Dolchen den Rücken der Kämpfenden näherten.
Es waren grausige, verdrehte Karikaturen, eine schlimmer als die andere. Darüber standen Sprüche wie „Wehrt euch gegen die Verschwörung!“ oder „Der wahre Feind ist nicht das Dschungelland – sie sind mitten unter uns.“ oder „Gai-Shitori, erwache!“
„Was … was hat das zu bedeuten?“, stammelte Sago. Die Offiziere wirkten nicht weniger geschockt. „Wo hingen diese Plakate?“
„Vor allem im Lapisviertel. Offenbar gibt es unter den Elfen einige, die in den Zwergen eine Bedrohung sehen.“ Cizikuni seufzte. „Es besteht die Möglichkeit, dass weitere dieser … Propagandablätter auftauchen.“
Sago nahm die Papiere und blätterte hindurch. An einem Plakat blieb ihr Blick hängen, wie magisch angezogen. Es war anders als die andere, bestach durch ein schlichtes Design und kräftige Farben. Ein blutrotes Plakat mit einer weißen Raute in der Mitte, eine Art Diamant. Darauf prangte, in Schwarz, ein stilisiertes Auge in einem Strahlenkranz. Es schien Sago zu mustern, tief unter ihre Haut zu blicken. Unwillkürlich fröstelte sie und merkte, dass sie den Atem angehalten hatte.
„Was ist das?“
„Das wissen wir nicht. Aber das Auge lässt vermuten …“
„Xpiakane. Sie lässt uns wissen, dass sie noch in der Stadt ist.“
„Oder sie ist außerhalb, hat aber Verbündete in der Stadt“, unterbrach Cizikuni sie. „Es gibt noch ein paar Dinge, die du wissen musst, Sago.“
Sie sah auf. „Ich höre?“
„Meine Leute haben einen Tunnel unter den Gewölben des Schlosses entdeckt. Er führt bis in die Wildnis und war durch eine Geheimtür verborgen.“
„W-was? Wann?“
„Vor drei Tagen. Wir haben es geheim gehalten, denn inzwischen liegt der Verdacht nahe, dass Xpiakane Verbündete in der Stadt hat. Sie ist durch den Geheimgang geflohen, sonst hätten wir sie inzwischen gefunden.“
Sago schüttelte entgeistert den Kopf. Ein drittes Tor auf der Stadt? Sie hatte es beinahe vermutet.
„Unser Vorteil liegt momentan darin, dass Xpiakane nicht weiß, dass der Geheimgang entdeckt wurde. Das können wir vielleicht nutzen, um ihr eine Falle zu stellen.“
„Gibt es noch mehr, das ich nicht weiß?“, fragte Sago müde.
„Nur die Ergebnisse der Untersuchung des Brands.“
„Hat sich der Verdacht bestätigt?“
Cizikuni nickte. „Es waren Zwerge. Die Bergblut-Flaschen waren eindeutig.“
Sago fuhr sich durch das Haar. „Aber das ergibt doch keinen Sinn!“
„Ich schätze, sie haben der Kaiserin noch nicht für die letzten Jahrzehnte vergeben.“
⁂
Der Aufruhr rief Pradiya in die Eingangshalle, noch bevor die Helfer sie alarmiert hatten.
Morimoris ohnehin geschäftiges kleines Spital im Amethystviertel ähnelte heute einem See voller Kraniche kurz vorm Vogelzug. Zwerge und Elfen mit blutenden Wunden strömten durch die Eingangshalle, gestützt von Kameraden, während sie sich gegenseitig zornige Blicke zuwarfen. Draußen erklangen streitende Stimmen und Kampflärm.
„Was ist passiert?“, fragte Pradiya entsetzt.
Morimori nickte ihr über die Köpfe der Menge zu. Er stand auf dem Tisch im Empfang und dirigierte Elfen auf die eine, Zwerge auf die andere Seite der Eingangshalle.
„Es gab eine Schlägerei auf der Hauptstraße“, berichtete eine junge Elfe, die zu den Helfern gehörte. „Genau wie damals die Unruhen im Quarzviertel, Doktor Zyanya.“
„Warum denn das?“
„Ich glaube, es begann mit einem Streit, der dann zu Handgreiflichkeiten führte.“ Die junge Arzthelferin sah besorgt aus. „Das kommt immer mal wieder vor, aber in der Größenordnung …“
Pradiya schluckte. Mit der Stadt ging es wirklich bergab!
Sie bemerkte Astikis, dessen grüne Haut in dem Gewimmel herausstach. Der dhubyanische Arzt erntete ein paar misstrauische Blicke, doch er schritt selbstbewusst zur Seite der Halle mit den Elfen und verschaffte sich einen Überblick über die Verletzten, ehe er die schwersten Fälle durchwinkte.
Einen Moment sah Pradiya ihm zu. Der Arzt hatte ein strenges Gesicht, noch verstärkt durch den festen Zopf, den er nach akijamischer Art trug. Ein paar Strähnen hatten sich gelöst und fielen vor die langen Ohren, die trotz seines fortgeschrittenen Alters noch kräftig und gerade waren. Als einziges Zeugnis seiner Herkunft, neben der grünen Haut und dem grünen Haar, trug er noch das Tattoo auf der Stirn, einen aufgesetzten, purpurnen Punkt zwischen den schwarzen Augen.
Sie riss sich zusammen und eilte ihrerseits zu den Zwergen.
„Bitte, bewahrt Ruhe“, rief sie über den Lärm. „Stellt euch in einer Reihe auf. Wer kann, versucht, die Blutungen zu stoppen …“
Es waren vor allem kleinere Wunden, doch einige Zwerge hatten Kopfverletzungen von Schlägen oder geworfenen Steinen. Diese winkte Pradiya zuerst weiter. Zum Glück versiegte der Strom und Morimori gab seine Position auf, um die ersten Verletzten zu behandeln.
Pradiya wollte ihm folgen, als eine Zwergin zu ihr trat. Sie trug bereits ein Nachthemd, über das sie ein Tuch aus Dairinwolle geworfen hatte, und wirkte nicht, als gehöre sie zu den Protestlern.
„Entschuldigt bitte …“
„Ja?“ Pradiya wandte sich ihr zu und ging in die Hocke.
„Ich … ich suche meinen Sohn. Er hätte längst zuhause sein sollen. Als ich dann von den Unruhen hörte, dachte ich, er ist vielleicht da hineingeraten …“
Etwas hilflos sah Pradiya über die bunte Zwergenmenge. „Wenn er hier nicht ist, könnte er höchstens im Behandlungsraum sein. Dort sind momentan drei Zwerge.“
„Sind sie … sehr schlimm verletzt?“ Die alte Zwergin klammerte sich an ihre Decke.
Pradiya lächelte beruhigend und legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Nichts, was wir nicht wieder hinkriegen können. Niemand hier schwebt in Lebensgefahr.“
„Oh, dem Schicksalsrad sei Dank! Dann warte ich hier und hoffe, dass mein Junge bald auftaucht.“ Die Zwergin umklammerte Pradiyas Handgelenk. „Hab vielen Dank, dass du uns hilfst, mein Kind.“
„Natürlich doch.“ Pradiya löste sich vorsichtig von der Zwergin und eilte zu Morimori und Astikis.
Die Sorge ließ sich nicht so leicht abschütteln wie die Zwergenmutter. Heute war niemand ernsthaft verletzt worden. Doch wenn diese Streitigkeiten immer weiter eskalierten, würde das vielleicht nicht mehr lange so bleiben. Was, wenn es irgendwann Tote gab?
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Die Bar ‚Zum Drachenzahn‘ war gut gefüllt. Sie lag im Außenbezirk des Obsidianviertels, das sich weitläufig über einen zerklüfteten Bereich des Berglandes erstreckte.
Als Tili eintrat, warfen einige der Zwerge in der letzten Reihe ihr misstrauische Blicke zu. Weiter vorne stand die Masse dicht gedrängt oder trank aus schweren Krügen entlang der Bar. Auf einem kleinen Podium, das an die Bühne eines Kabaretts erinnerte, stand ein junger Zwerg und hielt eine Art Rede.
„Uns wurden Verbesserungen versprochen. Rückzahlungen für all die Jahre, die unsere Väter und deren Väter in Armut lebten!“, rief er und die Anwesenden murmelten zustimmend. „Unseren Vorfahren wurde damals versprochen, dass die Bienenstöcke nur temporäre Unterkünfte sind, das könnt ihr in den Unterlagen der Stadt nachlesen. Sie dachten, bald würden sie auch Häuser beziehen können wie die Elfen. Doch wir wurden belogen. Hingehalten, bis sich Generation um Generation an das erbärmliche Leben gewöhnt hat. Und jetzt kriegen wir billige Häuser in der Stadt – ist das wirklich genug Entschädigung?“
„Nein!“, riefen ein paar betrunkene Zwerge.
„Nein, meine Freunde!“, donnerte der Redner. „Damit erkauft sich die Kaiserin nur ein reines Gewissen zurück. Sie spuckt auf das Andenken unserer Vätersväter!“
„Verflucht soll sie sein!“
„Sicher hat sie auch Xpiakane freigelassen!“
„Xpiakane!“, nahm der Redner den Ruf aus. „Wieso wurde sie noch immer nicht gefunden? Wo doch die gesamte Garde angeblich nach ihr sucht? Aber nein – es werden nur immer wieder Zwerge aus ihren Häusern gezerrt oder auf offener Straße kontrolliert. Ich sage euch, da geht etwas anderes vor sich. Xpiakane war die engste Vertraute der Kaiserin, ihre Freundin! Niemals hätte Chousokabe sie von einem Tag auf den anderen gestürzt.“
„Weitere Lügen!“
Während ein Teil der Zuhörer neben den Bierkrügen eingeschlafen war, gab es noch genug, die dem Redner mit Murren und Flüchen zustimmten.
„Und ich sage euch: Es reicht! Wir lassen uns nicht weiter belügen. Wir werden Xpiakane selbst suchen. Und wer weiß – vielleicht sollten wir mit der Suche im Palast beginnen!“
Jubelnd sprangen die Zwerge auf und klatschten Beifall.
„Hört, hört!“
„Wahre Worte!“
„Wer weiß, was wir da noch finden?“
Tili schlug entsetzt eine Hand vor den Mund.