„Das reicht!“, befahl Sago endlich. Sie war erleichtert, dass sie die Folter des Zwergs schließlich beenden konnte. „Ich muss ihn noch verhören können.“
Xialos sank mit einem Stöhnen in sich zusammen. Der junge Gardist nickte Sago zu und trat hinaus, während er seine verletzten Fingerknöchel betrachtete.
Sago erhob sich, durchtrennte die Fesseln des Zwergs und schob ihm ihre Suppe zu. Das half ihrem Gewissen ein wenig, jedoch nicht so viel, wie sie es sich wünschen würde.
„Also“, frage sie sanft, „redest du jetzt?“
Xailos ließ den Kopf hängen, ehe er widerstrebend nickte.
„Ich muss wissen, was ihr mit dem Brandanschlag zu tun habt.“
„Das waren wir nicht, oder jedenfalls weiß ich nichts davon. Vielleicht war es jemand, der öfter in der Bar ist.“ Xailos rieb seine Handgelenke und stützte sich dann auf dem Tisch ab. Langsam griff er nach dem Löffel und rührte damit durch die erkaltete Suppe. „Es kommen viele Leute, vor allem Zwerge, die noch keine Arbeit gefunden haben. Ehemalige Bergarbeiter, denen ihr Handwerk verboten wurde.“
„Es ist nicht verboten, der Bergbau wurde nur temporär ausgesetzt, bis die Bedingungen verbessert sind“, belehrte Sago ihn automatisch.
„Das wird uns seit Jahren versprochen. Dabei würde der Bergbau viel helfen. Gai-Shitori blutet aus. Die Abgaben an Dhubya sind so hoch, dass kaum noch Geld für Essen bleibt. Weißt du, wie teuer Reis im Moment ist? Oder Lampenöl!“ Xailos gestikulierte. „Viele glauben, dass Akijama wieder Edelsteine und Metalle abbauen muss. Und ich kann dem nicht widersprechen.“
„Aber wenn doch die Zwerge deswegen ausgebeutet wurden?“ Sago schüttelte verständnislos den Kopf. „Die Stollen müssen beleuchtet und abgestützt werden. Vorher ist das unzumutbar. Und die Bergarbeiter verdienen auch mehr Lohn.“
„Das alles stimmt. Aber trotzdem haben viele Arbeiter jetzt ihren Sinn im Leben verloren. Sie sitzen von früh bis spät im Drachenzahn und trinken, ohne zu wissen, wie sie ihre Kinder durchbringen sollen. Sie vermissen die Minen. Ihr Elfen könnt euch das vermutlich schwer vorstellen, aber in den Bienenstöcken und im Berg waren wir eine Familie. Hier in der Stadt sind wir verloren.“
Sago schwieg. Sie hatte geglaubt, die Offenbarung von Xpiakanes Verrat und der Marsch der Legenden hätte alles für die Zwerge verbessert.
„Wusstest du, dass in den Elfenviertel überall Hassparolen stehen? Und Plakate, die uns als geldgierige Invasoren darstellen?“
Sago schluckte, dann nickte sie. „Die Armee entfernt so viele davon, wie wir finden. Aber es kommen immer mehr.“
„Ihr … ihr wisst davon!“ Xialos sah zum ersten Mal auf. Sein Gesicht schwoll bereits zu, doch trotzdem bohrte sich sein anklagender Blick in Sagos Herz. „Warum sucht ihr nicht nach den Leuten, die diesen Schund aufhängen?“
„Der Brand des Palastes …“
„Oh, natürlich. Wenn Elfen die Opfer sind, ist das natürlich wichtiger.“ Xailos spuckte aus. „Ich verstehe.“
⁂
Ein Klopfen riss Pradiya aus dem Schlaf.
„Ja?“ Müde sah sie sich um. Sie erkannte das kleine Zimmer mit Shoji-Wänden sofort. Das war ihre vertraute Unterkunft im Spital, wo sie die meiste Zeit verbrachte. In den letzten Wochen war sie jedoch immer wieder im Palast gewesen, sodass sie sich morgens immer erst einmal orientieren musste.
Es war noch dunkel, die Öllampen noch nicht entzündet. Sie konnte jedoch einen Schatten vor ihrer Schiebetür ausmachen, der die Lichter der Eingangshalle im Rücken hatte.
„Pradiya?“
„Sayas!“ Sie richtete sich auf. „Was gibt es?“
„Tut mir leid, dich zu wecken. Morimori ist zur Eisenbahn gelaufen, um zu sehen, wo die Vorräte bleiben. Er wird sicher noch eine Weile wegbleiben, offenbar gibt es da draußen Proteste. Kannst du seine Schicht übernehmen? Nur bis zum Nachmittag, aber ich muss langsam wirklich schlafen.“
„N-natürlich.“ Pradiya strich sich widerspenstige Haarsträhnen aus der Stirn. Sie stemmte sich aus dem Bett und stellte fest, dass sie noch ihr weißes Hemd und ihre Lederschürze trug. Zum Glück hatte sie wenigstens den Gürtel mit Skalpellen, Messern und allem abgelegt, doch dafür stellte sie fest, dass die Pergamentrollen über das zwergische Bergfest auf ihrem Futon verstreut lagen, die sie gelesen hatte, bevor sie schließlich darüber eingeschlafen war.
Sie strich ihre Kleidung glatt und fasste ihr Haar zu zwei Zöpfen zusammen, ehe sie die Tür öffnete. Sayas Astikis stand noch davor. „Es tut mir wirklich leid.“ Der Mooself sah so müde aus, wie Pradiya sich fühlte.
„Du hattest die Nachtschicht. Also alles gut. Aber“, sie runzelte die Stirn, „was für Proteste sind denn schon wieder?“
„Elfen, die Arbeit fordern. Oder dass sich die Kaiserin um sie kümmert.“ Sayas hob die Schultern. „Sie ziehen irgendwie durch die Viertel. Sicherlich kommen sie noch einmal die Hauptstraße hoch.“
„Ich werde es sehen. Dann schlaf gut.“ Pradiya lächelte.
Sayas nickte. „Ich hoffe, die Proteste bleiben friedlich.“
„Das hoffe ich auch.“
⁂
Die Kaiserin hatte jeder ihrer Nichten ein Paki aus der besten Zucht geschenkt, doch nur Sago ritt ihr dunkelblaues Tier regelmäßig. Tili und Pradiya, die ein rostrotes und ein grünes Paki passend zu ihrer Haarfarbe erhalten hatten, überließen die zarten Schuppentiere oft den Tierpflegern des Palastes. Doch heute war ein Paki Tilis beste Chance gewesen, und so trieb sie es im Galopp die breite Treppe hinunter, die vom Elfentor aus nach unten führte.
Allmählich spürte sie die Druckveränderung in den Ohren und der Nebel wurde dichter, als sie in die Wolken eintauchte. Ihr Paki verlangsamte seinen Hufschlag ein wenig, folgte jedoch unbeirrt den beiden hellen Linien der Eisenbahnschienen, bis die Sicht schließlich aufklarte.
Hier entdeckte Tili nun auch endlich die Elfen, die eine Sitzblockade auf den Schienen errichtet hatten. Die Eisenbahn stand vor ihnen, ein rotes, reich verziertes Holzhaus auf Rädern, das in mehrere Segmente unterteilt war. Jedes Fenster war an sich schief, sodass sie, auf der schrägen Brücke, wieder waagerecht lagen. Den einzelnen Waggons sah man an, wo die Zickzacklinie des Bodens verlief. Jedes Abteil war um eine Stufe von dem nächsten abgehoben, damit man sich im Wagen selbst halbwegs bewegen konnte. Auch die Waggons, in denen nur Waren untergebracht waren, folgten diesem von Chiaos entwickelten Prinzip, damit Kisten und Fässer nicht während der Fahrt nach hinten rollten und den Schwerpunkt des Zugs zu weit verlagerten.
Ab und zu stieg zischend weißer Dampf aus dem Schornstein, als sich Tili der Elfenmenge vor der Eisenbahn näherte.
„Was ist hier los?“, rief sie, sobald sie in Hörweite war.
Die sitzenden Elfen drehten sich um. Sofort erhob sich Geschrei.
Tili trieb ihr Paki an den Sitzenden vorbei zur Bahn. Mehrere Elfen sprangen auf die Füße.
„Wir lassen nicht zu, dass ihr die Zwerge beliefert, während wir verhungern!“
„Wohin genau gehen diese Waren? Wir wollen Antworten!“
„Bringt der Zug noch mehr Zwerge in die Stadt?“
Tili ignorierte die Rufe und suchte nach dem Zugführer. Es war ein kräftiger, weißbärtiger Zwerg, dem sie vertraute, die gutmütige Aika. Jetzt wirkte sie jedoch eher verzweifelt.
„Macht den Weg frei!“, rief sie mit aller Kraft. „Wir bringen Nahrungsmittel und Holz, beides wird oben dringend gebraucht.“
„Und für wen sind die Lebensmittel?“
„Für alle Bewohner von Akijama.“ Tili stellte sich in die Steigbügel, um sich Gehör zu verschaffen. „Auch für eure Familien.“
„Lügen!“ Die Menge machte keine Anstalten, sich aufzulösen.
„Macht die Schienen frei!“, forderte Tili wieder.
„Und wenn nicht?“ Trotzige Blicke fixierten sie.
Hilflos ließ sich Tili in den Sattel sinken. Es waren zu viele Elfen, fast fünfzig. Dagegen hatte sie keine Chance.
„Was sollen wir jetzt machen?“, fragte Aika leise. „Können wir die Palastgarde holen?“
„Ich weiß nicht“, murmelte Tili. „Sago hat sowieso schon so viel zu tun.“
„Aber die lassen uns anders ja nicht durch!“
Tili nickte. Sie wendete ihr Paki. „Halt die Stellung, Aika. Ich werde sehen, was ich bewirken kann.“