Sie ritten in Schweigen hintereinander, da der Tunnel nicht breit genug war, um nebeneinander zu reiten. Nur die Hufe klapperten auf dem Stein, durchbrochen ab und zu von Pradiyas gedämpftem Schluchzen.
Tili sah nicht zurück. Sie wusste nicht, was sie zu Sago sagen sollte. Sie schütteln oder ihr doch danken? Die ganze Zeit über hatte Sago Xpiakanes Spaltungspläne unterstützt, ohne sie zu hinterfragen, und einen immer breiteren Keil zwischen Zwerge und Elfen getrieben. Letztendlich hatte sie sich doch für das Richtige entschieden – doch zu welchem Preis? Ihre Tante war tot und der Palast gehörte nun Xpiakane.
Der Fackelschein tanzte unruhig über die unebenen Felswände. Der lange Tunnel war mitten ins Gestein getrieben worden. Wie alt er schon war, konnte Tili nicht genau bestimmen. Sie vermutete, Xpiakane hatte ihn zur Stadtgründung anlegen lassen.
Schließlich tauchte vor ihnen helles, weißes Licht auf. Die Pakis wurden von selbst schneller, begierig, dem engen Gang zu entfliehen, und trugen die Schwestern an der Flanke eines Berges hinaus.
Hier oben lag der Schnee bereits knöchelhoch und Flocken trieben dicht im heulenden Wind, der Tilis Fackel sofort löschte. Sie steckte den nun unbrauchbaren Stiel weg und zog fröstelnd die Schultern hoch. Sie alle trugen noch die Festtagskleidung, Sago ihre Uniform. Mäntel oder Umhänge hatten sie nicht dabei.
„Xpiakane kennt den Gang und sie weiß sicherlich auch, wo er hinführt“, sagte Tili. „Das war doch ihr Fluchtweg, oder nicht?“ Sie sah Sago an.
Mit gesenktem Blick nickte die mittlere Schwester. „Cizikuni jedenfalls sagte, dass sie vermutlich hierdurch geflohen ist. Ich denke, das war die Wahrheit. Alle anderen Tore wurden immerhin bewacht.“
Fröstelnd sahen sie über die schneebedeckten Hänge. Sie waren in der Wildnis außerhalb der Stadt. Hier lagen nur noch vereinzelte Höfe reicher Elfen, wo menschliche Arbeiter dem Boden pflanzliche Nahrung abtrotzten, und Ruinen der Städte, die die Elfen alle zugunsten Akijamas verlassen hatten.
Nur wenige Wege waren so spät im Jahr noch ohne Probleme begehbar. Mit Pakis könnten sie allerdings eine Chance haben.
Pradiya hob endlich den Kopf. Ihre Augen waren gerötet. Ihre Brille war fort – sie musste sie im Palast verloren haben. Stattdessen zog sie ein anderes Gestell aus ihrer Tasche und setzte es auf. Die Brille erkannte Tili – Morimori hatte sie manchmal bei seinen Untersuchungen benutzt. Irgendwie hatte die Brille des Arztes das ganze Chaos überstanden.
„Da vorne.“ Pradiya deutete ins Weiß und Tili erkannte einen schmalen Weg. Sie trieb ihr Paki dorthin, ihre Schwestern folgten. Im dichten Schneetreiben wählten sie willkürlich den Weg bergauf und hofften, dass der Pfad sie an ein Ziel bringen würde. Gegen die Kälte duckten sie sich tief in die Sättel.
⁂
Ein sanft gewölbter Hügel trug sie auf eine dichte Rauchwolke zu. Sago verlangsamte ihr Paki, doch Tili ritt unbeirrt weiter, und so folgte Sago ihrer Schwester.
Sie ritten vom Weg hinunter. Die Hufe der Pakis sanken tief in den Schnee ein, bevor sie die Stadt unter sich sahen. Nur im Süden erhob sich der Palastberg über der Ebene, der höchste Gipfel des Gebirges, aber Akijama lag ein wenig unter ihnen in den Schnee gebettet.
Flocken trieben in der Luft, ein weißer Kontrast vor dem dichten Rauch, der aus den glühenden Straßen aufstieg.
„Das ist entsetzlich“, hauchte Sago.
Tili warf ihr einen langen Blick zu, dann nickte sie. Erschüttert sahen die drei Schwestern auf das Chaos. Hier und da leuchteten bunte Kleckse der zerbrochenen Glaskristalle auf. Feuer tobte durch die Straßen, anderswo wimmelten dunkle Gestalten und rannten durch die Gassen. Wer sie waren, ob sie verfolgt wurden oder selbst verfolgten, ließ sich auf die Entfernung nicht sagen. Fest stand jedoch, dass es ein heilloses Chaos war.
„Da vorne!“, rief Pradiya plötzlich, erhob sich leicht im Sattel und deutete nach unten. Dort, am Zwergentor, brachen mit einem Mal mehrere Gestalten über den Zaun und rannten fort vom Feuer, mitten in den Schnee. Es waren keine zwei Dutzend, doch eine der Gestalten überragte den Rest um ein Vielfaches.
„Das ist Gorr!“, rief Tili aus und trieb ihr Paki an, um dem Yeti und dem Rest der Gruppe entgegen zu reiten. Sie waren den Hang erst zur Hälfte hinunter, als zwei Pakis über den Zaun setzten und den Fliehenden folgten.
Ihre Reiter trugen die Uniform der Wache und legten ihre Harpunenspeere an.
Sago trieb ihr Paki mit wenigen Stößen in einen halsbrecherischen Galopp, bei dem ihre weniger reiterfahrenen Schwestern nicht mithalten konnten. Mit gestrecktem Hals flog das Paki den Hang hinab, doch es würde nicht schnell genug sein.
Die fliehenden Zwerge schrien auf, als sie die Verfolger sahen. Der Yeti hob zwei Zwergenkinder auf seine Schulter, auf der anderen saß bereits ein Zwerg. Ein anderer Zwerg hielt an und drehte sich zu den Reitern um, als der erste Speer aus dem Griff geschleudert wurde und sich in seinen Oberschenkel bohrte. Mit einem Brüllen ging die tapfere Kämpferin zu Boden, während der eine Wächter das Seil des Speers einholte und der andere der Gruppe weiter folgte.
Dann bemerkten die Zwerge ein weiteres Paki mit einer Gardistin vor sich und hielten an. Mehrere warfen sich schreiend zu Boden. Gorr bleckte die Hauer und breitete die krallenbewehrten, langen Arme aus.
Dann ertönte Jubel. Neben Gorr machte Sago Ajani Saphirauge aus. Die Zwergin hatte sie erkannt und lief ihr entgegen. Sago, den Säbel gezückt, trieb ihr Paki an Ajani vorbei und zu einem mächtigen Satz über die Köpfe der liegenden Zwerge.
Der Gardist ihr gegenüber riss die Augen auf, als er sie zu spät erkannte. Da war Sago bereits heran und schlug ihm den Harpunenspeer mit einem kräftigen Schlag des Säbels aus den Händen. Sie stieß ihm den Ellbogen ins Gesicht, doch er konnte sich auf dem Paki halten, riss es herum und jagte zurück zur Stadt.
„Es ist die Kommandantin!“, brüllte er seinem Begleiter zu, der sein Paki ebenfalls herumriss und losgaloppierte. Das Seil des Harpunenspeers spannte sich, das mit Widerhaken besetzte Geschoss an seinem Ende zerrte die liegende Zwergin mit sich. Sagos erschöpftes Paki machte einen letzten Sprint und die Elfe durchschnitt das Seil.
Die beiden Gardisten flohen zur Stadt zurück, sprangen mit den Pakis über den Zaun und tauchten im Gewirr der brennenden Gassen ab. Schnaufend warf Sagos Paki den gehörnten Kopf hoch, als wolle es über die feige Flucht lachen.
Sago glitt aus dem Sattel. „Geht es dir gut?“
„Ahhh … scheiße …“ Die Zwergin versuchte, auf die Beine zu kommen. Sago reichte ihr eine Hand und stützte sie. Inzwischen waren auch Tili und Pradiya heran.
„Das war in letzter Sekunde!“, rief Ajani aus. „Wo kommt ihr drei denn her?“
„Wir mussten aus dem Palast fliehen“, berichtete Tili atemlos.
Ajani machte große Augen. „Haben die Zwerge auch euch angegriffen?“
„Was? Welche Zwerge?“
„Habt ihr es nicht gehört? Eine Gruppe Verräter ist in den Palast eingedrungen. Sie haben die Kaiserin getötet, die Seherin kam zu spät, um sie zu retten. Xpiakane konnte noch Rache nehmen, wurde aber selbst schwer verletzt. Sie war die ganze Zeit zu Unrecht beschuldigt, weil die Gruppe so mächtig war. Die Elfen sind ausgerastet, als sie es gehört haben …“
„Lügen!“, fuhr Pradiya auf. „Das sind alles Lügen!“
„Xpiakane hat die Kaiserin getötet“, bestätigte Tili. „Es gab keine Verräter – nur sie.“
Ajani machte große Augen. „Aber die Garde bestätigt …“
„Cizikuni ist ebenfalls ein Verräter. Er hat die Garde übernommen.“ Sago führte die verletzte Zwergin zur Gruppe. „Und wir können nicht bleiben. Xpiakane will alle Zwerge töten. Wir müssen die Stadt sofort verlassen. Uns irgendwo verstecken.“
„Es gibt eine Höhle“, meldete sich Gorr mit tiefer Stimme. „Eine Yetihöhle, niemand kennt sie. Dort ist es warm.“
Sago nickte. „Dann müssen wir dorthin.“ Sie sah zurück zu Akijama. Wie viele Zwerge mochten noch dort sein? Doch schon jetzt konnte sie sehen, wie sich überall Gardisten sammelten. Die beiden, die geflohen waren, würden bald mit Verstärkung zurückkehren.
„Nimm mein Paki“, bot sie der Verletzten an und half ihr auf den Rücken des Tieres. Die drei Zwerge, die Gorr getragen hatte, verteilten sie auf die anderen Tiere. Es war ein alter Zwerg, der nicht mehr laufen konnte, und zwei Kinder, die anders nicht mithalten würden.
Tili, Pradiya und Sago ergriffen die Zügel. Gorr setzte sich an die Spitze des Zugs und bahnte ihnen mit seiner massigen Gestalt einen Pfad durch den Tiefschnee.
Sie folgten ihm schweigend und so schnell sie noch konnten. Die Kälte kroch unter Sagos Uniform, die Zwerge hatten Eiskristalle im Bart.
„Mein Mann ist noch dort unten“, murmelte eine Zwergin immer wieder. „Er ist noch in der Stadt.“
„Er wird sich irgendwo verstecken“, tröstete sie ein anderer Zwerg. „Sie können uns nicht alle töten.“
Das stimmte wohl – doch viel zu viele würden heute ihr Leben lassen.
Während sie gingen, fiel dichter Schnee. Ein Bote des nahenden Winters, doch heute war er ihr Verbündeter, der ihre Spuren rasch verbarg.
⁂
Gorrs Unterschlupf lag in einem unwirtlichen Tal mit verwittertem Gestein. Es war eine große Höhle mit einem unauffälligen, kreisrunden Eingang. Innen gab es mehrere Gänge und Höhlen, manche eingestürzt, in anderen lagen dicke Dairin-Felle aus und zeugten davon, dass das Tunnelgeflecht früher bewohnt gewesen war.
Der Stein strahlte eine schwache Hitze aus.
„In der Nähe liegen heiße Quellen“, erklärte Gorr den verwunderten Flüchtlingen. „Deswegen dürft ihr auch den Schnee hier oben nicht essen. Um Wasser zu holen, sollten wir ins Tal gehen.“
Heute war an Vorratsbeschaffung noch nicht zu denken. Frierend und unglücklich drängten sich die Zwerge in die viel zu große Höhle und suchten Schutz vor der eisigen Kälte. Gorr führte sie herum und schleppte die großen Felle zusammen. Die Wärme der Wände allein würde nicht ausreichen, um alle vor dem Erfrieren zu bewahren.
Die Pakis fanden ihren Platz in einer Nebenhöhle. Deren Enge erinnerte die geschuppten Tiere wohl an ihre Ställe, denn alle drei trotteten einträchtig hinein und legten sich zusammengerollt auf den Boden.
Pradiya ließ sie dort und trat an den Höhleneingang. Schon jetzt verdeckte der Schnee die dunkleren Fußspuren auf den unregelmäßigen Hängen unter ihr. Im Süden stieg noch immer Rauch auf.
„Wir haben Xpiakane unterschätzt. Wir alle.“ Tili trat neben sie.
„Wir haben es nicht kommen gesehen.“ Pradiya betrachtete Morimoris Brille, die sie in der Hand trug. „Die ganze Zeit hat sie bereits das Feuer geschürt.“
Sago stellte sich auf ihre andere Seite.
„Cizikuni gehörte also zu ihr?“, fragte Tili.
„Sicherlich nicht nur er.“ Sago sah ebenfalls auf die Qualmwolke. „Die Unruhen wurden gezielt gelenkt. Die Plakate, die Gerüchte, dann die Morde … das waren nicht nur ein oder zwei Leute.“
„Die reichen Elfen und Händler“, murmelte Tili. „Die Zwerge waren für sie immer billige Arbeitskräfte, jetzt wollten sie ihnen keinen Lohn zahlen.“
„Und die Garde gehörte auch dazu. Besonders die Veteranen. Sie haben Xin nicht verziehen, dass sie den Krieg beendet und sich ergeben hat.“ Sago verschränkte frierend die Arme vor der Brust. „Nachdem so viele von ihnen ihre Gesundheit oder sogar ihr Leben gegeben haben, um Dhubya zu besiegen, nun durch die Abgabezahlungen auszubluten – das konnten sie wohl nicht ertragen.“
Pradiya seufzte. „Und die Armen, die jetzt keine Arbeit mehr fanden, gehörten auch dazu. Vielleicht sogar die Zwergenrebellen. Sie alle haben Xpiakanes Spiel gespielt.“ Sie sah zu ihren Schwestern auf. „Mori hat es geahnt, von Anfang an. Er wollte fliehen. Und ich … ich habe es ihm ausgeredet.“
„Du konntest es nicht ahnen“, setzte Tili an.
„Ich hätte ihm zuhören sollen.“ Pradiya schloss die Faust um die Brille und sah gen Süden. „Dafür wird Xpiakane bezahlen. Für ihn, für Chiaos und für Xin!“
Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Tili und Sago besorgte Blicke tauschten.
„Pradiya … sie hat gewonnen. Xpiakane ist Kaiserin. Was sollen wir jetzt noch ausrichten?“
„Der Krieg beginnt gerade erst“, widersprach Pradiya grimmig. „Wir werden den Zwergen helfen und so viele retten, wie wir können. Hier wären sie in Sicherheit. Wir werden den Elfen die Wahrheit sagen. Wir werden Xpiakane aufhalten!“ Sie holte tief Luft. Die beißende Kälte auf dem Berg fühlte sie gar nicht. „Und dann … werde ich sie töten.“
--------------------------------------------------------------------------------------------------------------
Dir hat Teil 2 der Geschichte gefallen?
Wenn du möchtest, kannst du mir für deine absoluten Lieblingswerke ein paar Brotchips über Ko-fi spendieren: https://ko-fi.com/grauwolfautor
Das ist natürlich kein Zwang und du solltest das nur tun, wenn du gerade etwas entbehren kannst.
So oder so bedanke ich mich vielmals für's Lesen!