Es war die gleiche Szene wie am gestrigen Nachmittag. Xin und Chiaos thronten am Kopfende der langen Tafel. Ihnen gegenüber saß Gorr mit gekreuzten Beinen und überschattete das Esszimmer. Auf der linken Seite saßen Pradiya, Morimori, Ajani und Cizikuni, auf der rechten Seite Tili, Sago und die Vertreter der reichen Zwergenfamilien: Yaxori Steinhäuser, Xamari Stahlfinger und Hasetlulli Ziegelgießer.
Doch heute gab es kein Festmahl, nur einige Onigiri-Dreiecke und trockene Dairin-Fleischstreifen – etwas, was die Palastküche trotz eingeschränkter Möglichkeiten hatte zubereiten können. Das ganze Schloss befand sich noch immer im Verteidigungsmodus. Sämtliche Ein- und Ausgänge wurden bewacht, die Räumlichkeiten der Soldaten, Diener und der kaiserlichen Familie waren streng voneinander abgetrennt, die Verbindungen – und auch die Bewegungen der Räume – auf ein Minimum beschränkt.
Den größten Teil der Tischplatte nahmen Lagepläne ein. Tili hatte sämtliche Aufzeichnungen über den Aufbau des Palastes mitgenommen, außerdem hatten sie einen Stadtplan und Gorr hatte eine Zeichnung der Zwergentunnel im Berg mitgebracht.
Kleine Steinfiguren symbolisierten die Standorte der Garde an den Toren und mehreren wichtigen Punkten in der Stadt. Immer wieder hallte der Klang marschierender Stiefel durch die steinernen Gewölbe vor dem Speisesaal, wenn eine Patrouille ausrückte oder heimkehrte.
„Wenn wenigstens die Betriebsstätten weiterlaufen dürften“, murrte Hasetlulli. „Wir sind mit den Gebäuden ohnehin im Verzug, wenn wir jetzt noch einen Tag oder wer weiß wie lange aussetzen müssen, werden wir vor dem Herbst nicht fertig!“
„Die Zwerge können sicher noch ein weiteres Jahr in den Bienenstöcken aushalten.“ Die Kaiserin winkte desinteressiert ab, was Gorr ein tiefes Grollen entlockte.
„Das sind keine Häuser, Kaiserin. Das sind Höhlen. Die Bienenstöcke können jeden Tag abstürzen und …“
„Gorr.“ Ajani warf dem Yeti einen mahnenden Blick zu. Cizikuni, der zwischen den beiden saß, schielte nervös zu dem weißbepelzten Riesen.
„Es ist doch wahr.“ Gorr verschränkte die Arme vor der Brust. „Die Zwergin will bloß ihren Gewinn nicht verlieren.“
„Jetzt hör mal!“ Hasetlulli sprang auf. „Wir bauen Häuser für eure Leute!“
„Ruhe!“, donnerte Xin. Die Zwergin sank wieder auf ihr Sitzkissen.
„Es bringt nichts, wenn wir uns streiten“, warf auch Chiaos ein. Der Thronerbe schlug einen sanfteren Tonfall an als seine Mutter. „Es ist gut, wenn ihr die Probleme ansprecht. Wir werden alles bedenken und eine Lösung finden. Aber Xpiakane muss gefunden werden.“
„Wissen wir inzwischen denn, wie sie entkommen konnte?“, meldete sich nun Xamari zu Wort. „Ich habe gehört, sie hatte Hilfe. Es gibt immer noch Elfen in der Stadt, die ihre Ziele unterstützen. Sogar immer mehr Elfen.“
„Keiner meiner Jungs hätte so etwas getan!“, widersprach Cizikuni heftig.
Tili tauschte einen Blick mit ihren Schwestern. Sago hatte den Kopf in den Händen vergraben und schien im Schneidersitz einzuschlafen. Pradiya sah unglücklich von einer Partei zur anderen und wünschte sich sichtlich, dass der Streit endlich beendet werden würde.
Tili spürte ihren Herzschlag in der Schläfe pochen. Sie war angespannt, wie eine Maschine unter zu viel Dampf. Und sie würde den Dampf irgendwie entlassen müssen.
„Können wir uns bitte auf die Stadt konzentrieren?“, unterbrach sie Xamari und Cizikuni, die sich gegenseitig Vorwürfe an den Kopf warfen.
Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie einige der Gäste ausgeladen. Doch diese Runde bestand aus allen, denen die Kaiserin im Moment vertraute. Die Gerüchte, die Xamari angesprochen hatte, stimmten: Offenbar hatte Xpiakane einen Schlüssel gehabt und sich damit nicht nur aus ihrer Zelle, sondern gleich aus dem Kerkerkomplex befreien können. Sie musste Hilfe gehabt haben, und nur bei jenen, die beim Essen dabei gewesen waren, konnte man sich sicher sein, dass sie der Seherin nicht geholfen hatten.
Doch Xin hatte die Schwestern gebeten, Stillschweigen zu bewahren. Xpiakanes Flucht traf Akijama in unruhigen Zeiten. Die Botschaft von einem Verräter im Palast würde die Feuer der Unruhe nur noch weiter entfachen.
⁂
„Wir brauchen mehr Wachen auf den Straßen.“
Sago schreckte aus dem Halbschlaf auf. „Es gibt keine Gardisten mehr.“
Cizikuni nickte ihr zu – er hatte das gleiche sagen wollen.
Xamari, die den Vorschlag erbracht hatte, warf ihnen finstere Blicke zu. „Aber für den Schutz der Elfen sind genug da, wie?“
„Die Palastwache ist für alle Bürger von Akijama da“, widersprach Sago müde. Sie hatte nur wenige Stunden Schlaf ergattern können, als auch schon am frühen Vormittag diese Sitzung anberaumt worden war. Ihre Augen brannten.
„Ja, seitdem ein paar Zwerge beigetreten sind“, giftete Xamari.
Sago widerstand dem Drang, auf irgendetwas einzuschlagen.
„Wir sind alle gereizt“, unterbrach Chiaos auch diese Diskussion. „Aber wir sind uns doch in einer Sache einige – unser wahrer Feind ist Xpiakane. Sie ist für das Leid der Zwerge verantwortlich, sie hat die meisten Elfen belogen, sie hat …“
„Die meisten“, unterbrach Xamari ihn mit verengten Augen. „Nicht alle.“
Allein, dass sie es wagte, den Thronfolger zu unterbrechen, hätte sie noch vor drei Jahren den Kopf kosten können – Familienvermögen hin oder her. Dass sie inzwischen das Recht dazu besaß, schien ihr allerdings noch nicht genug.
„Ja, es gab auch Mitläufer“, gestand Chiaos. „Aber wir haben sie ja gesucht und ihnen ihre Posten entzogen. Jetzt müssen wir herausfinden, was Xpiakane womöglich plant, und sie aufhalten.“
„Plant sie denn etwas?“, warf Cizikuni ein. „Wir wissen nur, dass sie geflohen ist. Sie hätte für ihren Verrat den Rest der Ewigkeit im Kerker verbracht. Vielleicht wollte sie Akijama nur verlassen.“
„Das wäre möglich, oder?“, stimmte Hasetlulli zu. „Das alles ist drei Jahre her. Sie hat Akijama verloren, sie wurde besiegt.“
„Es ist denkbar, dass sie Rache nehmen will“, widersprach Xin. „Und, verzeih, Frau Ziegelgießer – aber drei Jahre sind nichts für eine unsterbliche Magierin. Sie hat Akijama seit der Neugründung gestaltet. Wieso sollte sie ihr Lebenswerk aufgeben?“
Hasetlullis verschränkte die Arme vor der Brust. „Ziele ändern sich. Und für bloße Vermutungen muss ich nun meine Geschäfte …“
Sie unterbrach sich, als Glockengeläut durch die Räumlichkeiten hallte. Verwirrt sahen sie sich um. Sago dagegen spürte eine Gänsehaut über ihre Arme kriechen. Als sie den Blick zur Seite wandte, konnte sie ihr Entsetzen in Tilis Augen gespiegelt sehen.
„Was bedeutet das? Das sind mehr als drei Schläge“, fragte Xamari.
„Ist das das Angriffssignal?“ Der Boden ächzte, als Gorr aufstand.
„Nein“, sagte General Cizikuni. „Das ist der Feueralarm.“
Auf der Treppe erklangen Schritte, dann stürmten drei Wachen unter dem Vorhang hervor.
„Majestät!“, rief einer und beugte sich in einem Hustenkrampf vor. „Ihr müsst das Gebäude sofort verlassen.“
Ängstlich sah die Kaiserin sich um.
Sago sprang auf und lief den Wachen entgegen, die die Hände ausstreckten, um sie zu stoppen. „Wir können das Treppenhaus nicht nehmen. Der Rauch ist bereits zu dicht.“
„Was?“, entfuhr es Tili. „Wieso wurde der Brand denn nicht früher gemeldet?“
Sago sah zum Vorhang. Von dem Feuer war immer noch nichts zu bemerken.
Dann sah sie in die aufgerissenen Augen eines der Gardisten und wusste, dass es die Wahrheit wahr.
„Es breitet sich rasant aus. Wie … wie Zauberei!“
„Es kann nicht Xpiakane sein“, würgte sie die zweifellos aufkeimenden Ängste ab. „Sie kann nur beobachten und bedrohen – falls sie überhaupt Edelsteine gefunden hat, um ihre Kraft daraus zu ziehen.“
Tili war inzwischen ebenfalls aufgestanden. „Wir können über das Dach.“
„Dann nichts wie los“, drängte Sago. Wenn das Feuer im Treppenhaus war, so war es unter ihnen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es zum hölzernen Speisesaal aufsteigen würde.
Sie eilten zum Durchgang, hinter dem sich gestern der Balkon befunden hatte. Heute war die Tür eigentlich verschlossen, eine Wand befand sich hinter dem weißen Vorhang. Xin betätigte einen Hebel und die Gruppe beobachtete, wie sich die Wand nach hinten neigte, bis sie waagerecht lag und eine Plattform bildete.
Die drei Gardisten folgten der Kaiserin hinaus. Der Wind riss an ihrer Kleidung und ihrem Haar. Instinktiv hielten die Wächter Chousokabe-Xin fest.
„Dort entlang!“ Tili drängte sich vor und wies den Weg. Mit einem Sprung befand sie sich auf einem tiefergelegenen Vordach und kletterte vorsichtig hinunter, während sie ihre Lederschürze etwas anhob. Sie drehte sich um und streckte eine Hand aus. Einer der Wächter ergriff sie und folgte ihr, dann ließen sie die Kaiserin hinab.
Sago sah zurück. Unter dem Vorhang im Eingang drang dunkler Qualm hervor. Die Feuerglocke war verstummt.
„Wir müssen schneller machen!“, drängte Xamari, die es ebenfalls bemerkt hatte.
Chiaos trat zurück und ließ die vier Zwerge und Gorr vor. Pradiya folgte ihnen und half Ajani beim Abstieg, während Tili über die roten Ziegel vorauseilte.
Sago trat als vorletzte auf die Plattform, kurz nach Cizikuni und kurz vor Chiaos. Der Innenraum des Speisesaals füllte sich mit grauem Nebel. An der Außenseite des Gebäudes schlugen Flammen hoch.
Ein Knirschen ging durch den gesamten Raum und plötzlich kippte das ganze Element. Schreie erklangen.
„Der Mechanismus bricht!“, rief Tili alarmiert. „Ihr müsst sofort da runter!“
Cizikuni sprang auf das niedrigere Dach. Tili führte die Kaiserin, die Wachen und die Berater eilig fort von dem einsturzgefährdeten Speisesaal. Cizikuni drehte sich um. „Springt!“
Sago zögerte. Zwischen den Dächern ging es schwindelerregend tief hinab. Unten sah sie trügerisch weich erscheinenden Schnee.
„Du zuerst.“ Chiaos legte ihr eine Hand auf den Rücken und drückte sie sacht vorwärts.
Pradiya hielt mitten im Rennen an und sah zurück. „Sago!“
Sago holte Luft und stieß sich von der liegenden Wand ab. Cizikuni fing sie auf, als sie landete und nach hinten stolperte.
„Majestät!“, rief der oberste Wächter.
Ein lautes Knirschen erklang hinter Sago.
Cizikuni ergriff ihre Hand und zerrte sie mit sich. Sie rannten über Ziegel auf eine Brustwehr zu, die zum Rest des Palastes gehörte. Als Sago zurücksah, folgte ihnen Chiaos in einigem Abstand.
Die Ziegel bebten unter ihnen. Das Knirschen ging in ein ohrenbetäubendes Krachen über. Der Rest von ihnen, auf dem Festungsteil in Sicherheit, brüllte ihnen Warnungen entgegen. Dann waren sie am Rand des Daches. Cizikuni und Sago sprangen. Noch in der Luft sah sie, wie Ziegel zu allen Seiten in die Tiefe prasselten.
Tili fing Sago auf und sie stürzten beide auf den harten Stein. Noch bevor sie aufschlugen, hörten sie allerdings bereits den durchdringenden Schrei der Kaiserin.
„CHIAOS!“