Eine lange Zeit starrte Pradiya in den angelaufenen Silberspiegel.
Sie sah müde aus. Tiefe Ringe lagen unter ihren Augen, die durch ihre Brille noch hervorgehoben wurden. Sorgenfalten hatten sich in ihre Stirn gegraben. Und täuschte sie sich, oder begann auch ihre Ohrspitzen, sich zu neigen?
All diese kleinen Zeichen des Alters auf ihrem Gesicht! Pradiya fuhr sich über das Kinn. Tili und Sago hatten erzählt, dass sie sich alle paar Tage rasieren mussten. Pradiya hoffte, dass ihr eigener Bartwuchs auf sich warten ließ. Vielleicht würde es auch nie passieren.
Sie stockte in ihren Gedanken. War es womöglich falsch von ihr, alles abzulehnen, was auf das Erbe ihres Vaters zurückging? Den Bart, die kräftigere Statur und auch die Sterblichkeit – sollte sie das nicht besser akzeptieren? Ein Friede im Kleinen, um dann der Stadt Frieden zu bringen?
Entschlossen wischte sie den Gedanken beiseite. Selbst die Sterblichen freuten sich nicht über Alter und Tod – da konnte man das von ihr, die als Elfe aufgewachsen war, erst recht nicht verlangen!
Sie cremte ihr Gesicht ein und legte etwas grünes Puder auf, so, wie sie es früher bei Sago oft beobachtet hatte. Normalerweise machte Pradiya sich nicht viel aus ihrem Äußeren, doch heute war das Fest und sie hatte einige anstrengende Tage mit langen Schichten und viel Organisation hinter sich, ganz zu schweigen von dem Schock von gleich zwei Krawallen.
Da musste man eben etwas nachhelfen.
Als sie auf die Hauptstraße trat, wurde diese gerade von fleißigen Helfern geschmückt. Ein paar Elfen hatten sich unter die Zwerge gemischt und verteilten nach deren Anweisung die falschen Kristalle auf Dächern, Fensternischen und Veranden.
Es waren Kristalle und Edelsteine aus bunt gefärbtem Glas, welche die Zwerge als traditionellen Schmuck verwendeten. Jeder der fünfzehn Steine war nachgeahmt worden, selbst der Turmalin und sein Gefolge aus Kohle, Obsidian und Rubin, welche die Elfen nicht verehrten, aber beim Turmalinfest zu besänftigen versuchten.
Unzählige der Bildnisse wurden entlang der Straßen platziert. Ihr Glas fing das Sonnenlicht ein und brachte es im Inneren zu glühen. Offenbar waren die Glaskristalle nicht leer, sondern mit Spiegeln gefüllt.
Die Tempel im Kristallviertel waren bereits bestückt, das konnte Pradiya auch aus der Ferne erkennen. Die falschen Kristalle dort waren die größten, und sie wurden von Kerzen noch stärker beleuchtet, sodass der Berg des Palastes in allen Farben der Edelsteindrachen zu leuchten schien. Auf dem Boden waren einige Blüten ausgestreut – leider war nicht so viel geliefert worden, wie sie gehofft hatten – und an den Häusern neben der Straße hingen bunte Wimpel mit den Aufdrucken von Drachengesichtern.
„Wie läuft es am Tanzplatz?“, fragte sie einen der zwergischen Helfer.
„Die Musiker sind bereits da und proben. Aber das Festmahl sieht eher dürftig aus.“
„Es haben eben nicht viele etwas zu entbehren.“ Pradiya überlegte, woher sie noch mehr Speisen bekommen könnte. Doch ihr fiel nichts ein. Sie hatten sämtliche Gaststätten und Bars um Unterstützung gebeten und ihnen erklärt, wie wichtig dieses Fest sein würde.
Wenn das nicht reichte, blieben ihr wenig andere Optionen. Sie konnte niemanden zu Spenden zwingen.
Sie folgte der leicht gewundenen Straße zum Berg und lauschte dabei aufmerksam auf die Stimmen, die aus den Seitengassen drangen. Es waren aufgeregte und vorfreudige Stimmen dabei, keine wütenden Rufe. Seufzend strich Pradiya ihr Haar zurück und erkannte, dass die Unruhen der letzten Tage sie gezeichnet hatte. Es war einfach zu viel passiert und Akijama fühlte sich immer unsicherer an. Was immer Xpiakane plante, sie konnte sie Stadt auch aus der Ferne lenken und ins Chaos stürzen.
Das war vielleicht das Schrecklichste an der ganzen Sache.
⁂
Ein Zwerg neben Tili schnaufte spöttisch beim Anblick der fünfzehn Stände, die auf dem großen Platz zwischen dem Saphir- und dem Topazviertel aufgebaut worden waren. Hier, wo die Hauptstraße auf die große Brücke zum Palast traf, und sich an den Seiten die wohlhabenden Viertel der Reichen und der Magier erstreckten, befand sich einer der wenigen Orte der Stadt, wo der ebene Boden nicht von dichtgedrängten Häusern eingenommen wurde. Hier endeten zum Beispiel auch die Schienen der Eisenbahn, und wurden die meisten Waren ausgeladen. Heute war der Platz für das Bergfest geschmückt, und auf Decken am Rand des Platzes saßen Zwerge neben Abbildungen der Edelsteine.
„Das ist ja wie ein Flohmarkt“, murrte die Zwergin neben Tili weiter. „Was machen die da, Kristalle verkaufen?“
„Soweit ich weiß, sind es Informationsstände“, widersprach Tili. „Die Zwerge dort haben sich freiwillig gemeldet, um neugierigen Elfen zu erklären, wie Zwerge die Edelsteine sehen.“
Die Zwergin sah auf und musterte Tili finster, ehe sich ihr Gesicht erhellte. „Du bist eine der Zyanyas!“
„Amoxtili.“ Lächelnd reichte sie der Zwergin eine Hand.
„Ich bin Paxsi Grubenkies. Das Fest ist wirklich gut geworden.“
„Das meiste verdanken wir meiner jüngsten Schwester, Pradiya.“ Tili sah über die Menge. Elfen und Zwerge drängten sich auf den Straßen, bewunderten die Lichter und probierten ein paar der zwergischen Spezialitäten, kleine Küchlein, die selbst wie Edelsteine aussahen. Ab und zu ragte ein Yeti aus dem Gewimmel, und sogar ein paar Menschen hatten sich eingefunden.
„Sie hat sich wirklich bemüht.“
„Ich hoffe, das Fest erfüllt auch seinen Zweck und trägt zum Frieden bei.“ Tili war sich noch nicht wirklich sicher, ob drei Tage Musik und Austausch wirklich etwas ändern konnten.
„Es ist ein erster Schritt“, meinte Paxsi zuversichtlich.
⁂
„Wir verehren alle Drachen“, erklärte ein Zwerg seinen elfischen Zuhörern. „Auch den Turmalindrachen und sein Gefolge. Ich weiß, dass ihr Elfen nur das Turmalinfest zum Jahresende kennt. Ihr tragt dann Masken, um euch vor seinem drohenden Blick zu verbergen. Wir aber erkennen seine Rolle an. Er wird ebenso gebraucht wie die niederen Speichen des Schicksalsrads. Nur vor dem Schatten des Turmalins kann der Diamantdrache strahlen.“
Obwohl der Zwerg neben Pradiya die Geschichte nun schon zum zehnten Mal wiederholte, berichtete er immer noch geduldig und gab seinen Zuhörern Zeit, alles zu verstehen.
„Liegt es vielleicht daran, dass ihr sterblich seid?“, fragte einer der Elfen. Die Frage kam beim Stand des Turmalindrachen immer wieder auf, und erntete immer wieder entsetzte Blicke anderer Elfen, als wäre ein riesiges Tabu angesprochen worden. „Wenn ihr ohnehin sterben müsst, ist es leichter, den Tod zu akzeptieren.“
„Das könnte eine Erklärung sein“, erwiderte der Zwerg unverändert lächelnd. „Aber auch Elben sterben eines Tages, und trotzdem fürchten die Elfen den Turmalin. Dabei ist der Tod für euch sehr viel friedlicher als für uns. Ihr entscheidet euch selbst dazu.“
„Meistens“, erwiderte ein anderer Elb. Er trug die Uniform der Garde und eine Augenklappe. Offenbar ein Veteran, seinem finsteren Ton nach zu schließen.
„Meistens.“ Der Zwerg nickte. „Natürlich, verzeiht.“
Pradiya seufzte. Es gab immer einige, die Anstoß fanden und sich über die Formulierungen der Zwerge aufregten. Wenigstens schien der Großteil der Anwesenden ehrlich zuhören zu wollen.
Sie wanderte durch die Menge, als zornige Stimmen sie aufschreckten. Irgendwo gab es Streit! Sie umklammerte die Ärmel ihres Kleides und eilte auf den Ursprung des Lärms zu, während sie gleichzeitig nach Gardisten Ausschau hielt.
„Lügnerin!“
„Rassistin!“
Doch es war kein wütender Mob, der angriff, jedenfalls noch nicht. Entsetzt erkannte Pradiya Sago, die von wütenden Zwergen umringt war.
⁂
„Was ist hier los?“
Sago atmete auf, als sie sah, dass Pradiya und auch Tili sich durch die Menge zu ihr durchkämpften.
„Was macht sie hier?“, verlangte ein Zwerg mit lauter Stimme zu wissen und deutete auf Sago.
„Heute sind alle Elfen willkommen“, entgegnete Pradiya. „Außerdem hat sie mir bei den Vorbereitungen geholfen.“
„Ha! Heuchlerin!“, warf eine Zwergin ein. „Nach außen die Zwergenfreundin spielen, aber in Wahrheit hasst sie uns!“
„Sago hasst euch nicht.“ Tili stellte sich an die Seite ihrer Zwillingsschwester. „Bitte, beruhigt euch. Wir können alles klären.“
„Ach ja? Dann verlange ich, dass Xailos Kerzenzieher freigelassen wird!“, rief einer der Zwerge.
Einige Wütende stimmten ihm zu.
„Wer?“ Pradiya sah verwirrt aus.
„Und die anderen Zwerge, die die Garde festgenommen hat, ebenfalls.“
Sago schüttelte den Kopf. „Es handelt sich um gefährliche Aufrührer. Es besteht der Verdacht, dass sie den Brandanschlag auf den Palast …“
„Das waren doch keine Zwerge!“, brüllte jetzt jemand anderes. Die Menge schloss den Kreis enger um Sago. „Ihr habt nichts in der Hand, trotzdem verhaftet ihr alle, die den Drachenzahn besucht haben. Vermutlich habt ihr Xailos gefoltert, bis er euch Namen nennt!“
„Bei möglichen Verrätern müssen wir hart durchgreifen“, gab Sago zurück.
„Was?“ Tili rückte ein Stück von Sago ab. „Was hast du getan?“
„Und bei den Krawallen? Da habt ihr niemanden verhaftet. Wir Zwerge werden in den Kerker geschleppt, wenn wir uns nur beschweren, aber Elfen, die Brände legen und Läden demolieren, kommen ungestraft davon?“
„Ihr habt uns nicht einmal beschützt, nur das Spital von diesem Tiermenschen! Oder wohl eher von den Elfen. Morimori ist ja auch nie wieder aufgetaucht.“
Pradiya zuckte sichtlich zusammen.
Weitere anklagende Stimmen erhoben sich. „Überall in der Stadt verschwinden Zwerge und Tiermenschen! Und was tut die Garde?“
„Pradiya!“, rief Tili, als die jüngste Schwester sich umdrehte und durch die Menge wühlte.
Sago machte einen Schritt in ihre Richtung, doch die Zwerge hoben drohend die Fäuste.
„Geh zum Palast“, befahl Tili ihr. „Na los, Sago.“
„Aber …“
„Um Pradiya kümmere ich mich. Du hast genug Schaden angerichtet.“
Sago stolperte zurück. Der Hass in Tilis Blick traf sie wie ein Faustschlag. „Ich wollte doch nur …“
„Wir reden später“, unterbrach Tili sie schroff. „Und jetzt geh mir aus den Augen.“
Unter den hasserfüllten Blicken der Zwerge und ihrer Schwester trat Sago den Rückweg an. Die Uniform, sonst wie eine zweite Haut für sie, fühlte sich zu groß und unangenehm kratzig an, der Harpunenspeer wog schwer auf ihren Schultern. Sie hörte Flüche, die ihr nachgerufen wurden, und seufzte.
Sie hatte die Stadt beschützen wollen!
Hatte Tili recht? War sie zu weit gegangen?