„Wo hast du Morimori zuletzt gesehen?“
„W-was?“ Sayas sah Pradiya verwirrt an.
„Morimori! Er ist jetzt schon eine Woche weg. Irgendetwas kann da nicht stimmen.“ Sie war nicht wütend auf Sayas, und es tat ihr leid, dass sie ihn anbrüllte. Doch in Pradiya wuchs die Gewissheit, dass Morimori die Stadt verlassen hatte. Ohne sich von ihr zu verabschieden.
„Stimmt, das habe ich völlig …“ Sayas fuhr sich über das Gesicht. Pradiya hatte ihn geweckt, nachdem er die Nachtschicht gearbeitet hatte. Mit nur zwei Ärzten war das Spital kaum zu stemmen. Sie hatten beide zu viel zu tun gehabt, um sich wirklich um Morimori zu sorgen.
Jetzt traf sie sein Fehlen mit voller Wucht. Hatte er sie einfach im Stich gelassen?
„Vielleicht ist er nur krank“, überlegte Sayas. „Ich weiß, wo er wohnt. Komm.“
Obwohl er den Schlaf gut gebrauchen konnte, stemmte er sich vom Futon hoch und zog einen buntgewebten Überwurf über das weiße Schlafhemd, das jedoch auch gut als normales Gewand durchgehen konnte.
Als sie aus dem Spital traten, rannte Tili gerade die Treppen zur Veranda hinauf.
„Pradiya, da bist du!“
„Was ist?“, fragte Pradiya. „Geht es Sago gut?“
„Ich habe sie zurück zum Palast geschickt, bevor die Zwerge sie noch zerfetzen. Oder ich.“ Tilis Blick war finster, dann glättete sich ihre Stirn ein wenig. „Ich helfe euch suchen.“
„Wir wissen, wo Morimori wohnt“, erklärte Sayas mit einem schwachen Lächeln. „Dort wollen wir anfangen.“ Tili nickte, und Sayas fuhr fort: „Es ist im Kohleviertel. Soweit ich weiß gibt es dort keine Straßennamen, wir müssen uns vielleicht ein wenig durchfragen.“
Sie eilten los. Die Geräusche des Bergfestes blieben hinter ihnen zurück und sie tauchten in das Gewirr des Obsidianviertels ein, welches sie mit raschen Schritten durchmaßen. Dahinter, im Norden der Stadt, beim Zwergentor und über den ‚Bienenstöcken‘, die wie riesige Lehmklumpen an den Klippen hingen, befand sich das Kohleviertel. Selbst an einem Festtag wie heute waren die Schmieden und Schmelzen hier in Betrieb und dichter, schwarzer Rauch waberte über den niedrigen Steinhäusern und Tempeln, in denen vor allem Zwergenhandwerker lebten. Vor dem Marsch der Legenden war dies das höchste gewesen, was ein talentierter Zwerg erreichen konnte.
Die engen Gassen waren verlassen. Die meisten Bewohner waren wohl beim Fest, und wer noch hiergeblieben war, gehörte zu den Zweiflern. Trotzdem eilte Pradiya geradewegs auf ein junges Pakimädchen zu, ein Menschenmädchen mit vereinzelten Schuppen auf den Wangen und den gedrehten Hörnern der Wesen.
„He, entschuldige. Weißt du, wo Morimori wohnt? Der Heiler?“
Das Pakimädchen sah sie erschreckt an, dann nickte es und lief los. Pradiya, Tili und Sayas folgten ihr über unebenes Kopfsteinpflaster, aus dem hier und da karges Berggras wucherte.
„Ich kann nicht fassen, dass Sago jemanden gefoltert hat“, murmelte Tili, während sie dem Pakimädchen fast lautlos folgten.
„Wir hätten sie besser im Blick behalten müssen“, stimmte Pradiya zu. „Vielleicht hätten wir es dann verhindern können. Ich glaube, Chiaos‘ Tod hat sie schwer getroffen. Wären wir für sie dagewesen …“
„Wir hatten auch unsere Probleme.“ Tili legte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter. „Und wir alle haben einen Cousin verloren. Das entschuldigt Sagos Verhalten kein Stück!“
Pradiya schüttelte den Kopf. „Wann ist sie nur so geworden?“
„Darum kümmern wir uns noch. Sie wird sich einiges anhören dürfen“, entschied Tili. „Wenn ich daran denke, dass die Zwerge meine eigene Schwester derartig hassen … ich schäme mich so für sie! Die Zwerge haben ja recht – von den Krawall-Elfen wurde niemand verhaftet, oder sie sind bereits wieder auf freiem Fuß. Wenn Sago gleichzeitig eine Art Fehde gegen die Zwerge führt …“
„Vielleicht gibt es ja eine vernünftige Erklärung dafür.“
„Ja … vielleicht.“
Das Pakimädchen führte sie noch drei Straßen weiter und blieb dann vor einem Steinhaus stehen. „Da … da hat er gewohnt.“
Die Schwestern hielten an und betrachteten das geduckte Gebäude. Sayas ging in die Hocke und reichte dem Kind ein Kupferstück. „Vielen Dank, Kleines.“
Mit großen Augen steckte das Mädchen die Scheibe ein und huschte davon.
„Das ist irgendwie traurig“, murmelte Pradiya beim Anblick des heruntergekommenen Hauses. Das Dach bestand aus Stroh, vermutlich von den Farmen außerhalb der Stadt, wo die meisten Menschen arbeiteten. Hier und da war das Dach eingebrochen und nicht repariert worden. Moos hatte die dunkel angelaufenen Steine erobert. Es gab keine Fenster, denn Holz für Fensterläden oder gar Glas für Scheiben konnte man sich in diesem Viertel nicht leisten.
Die Tür war mit einem Vorhang verhängt, den Pradiya nun an die Seite zog.
„Morimori? Bist du hier?“
„Doktor Kianto?“, rief Sayas und folgte ihr.
Es kam keine Antwort, aber die hatte Pradiya auch nicht erwartet. Jedoch ließ das Innere der Hütte auch Zweifel daran aufkommen, dass Morimori die Stadt verlassen hatte.
Es gab nur ein Zimmer, spärlich eingerichtet. Der Futon lag unordentlich aufgeschichtet in einer Ecke, der Tatami-Boden war stellenweise zerfetzt. Die Türen und Schubladen des einzigen Schranks standen offen und Töpfe, Kleidung und ein Kamm waren auf dem Boden davor verteilt. Es sah aus, als hätte Morimori alles hastig durchwühlt.
Er – oder jemand anderes. Vielleicht hatte sogar ein Kampf stattgefunden. Sitzkissen waren zerschnitten, der kleine Tisch umgeworfen, einige Bücher und Pergamente lagen auf dem Boden verstreut.
„Das … sieht nicht gut aus“, murmelte Tili. „Er wollte wohl schleunigst weg.“
Pradiya bückte sich, um unter den Tisch zu sehen. Sie schluckte. „Nein. Er … er ist nicht gegangen.“
Tili eilte an ihre Seite, als Pradiya sich aufrichtete und das hervorzog, was sie entdeckt hatte: Es war Morimoris schwere Arzttasche, gefüllt mit seinen Instrumenten.
„Die würde er niemals zurücklassen“, sagte sie überzeugt.
Sayas war im Eingang stehen belieben und untersuchte die Bodenmatten. „Das sind Krallenspuren. Er … er wurde hinausgezerrt, hat sich aber gewehrt.“
Eine eisige Hand schien sich um Pradiyas Herz zu schließen. Sie ließ die Tasche fallen und eilte wieder nach draußen.
„Morimori!“ Sie erhielt keine Antwort, doch dafür fing etwas ihren Blick ein: Etwas, das das Sonnenlicht reflektierte.
Gefolgt von ihren beiden Begleitern stürzte Pradiya zum Eingang einer besonders engen und dunklen Gasse, die hinter eine Schmiede führte. Schnee lag auf dem Pflaster und zeigte nur sehr alte Fußspuren – mindestens einige Tage war es her, dass jemand die Gasse betreten hatte.
Im Eingang lag Morimoris kleine Brille, die den Sonnenstrahl eingefangen hatte. Pradiya hob sie auf und presste sie vor die Brust wie einen Schatz. Vorsichtig machte sie einen ersten Schritt in die Gasse, während ihre bebenden Finger die Brille in die Tasche ihrer Lederschürze schoben.
Tili schloss zu ihr auf. „Oh nein …“
Die Gasse machte einen Haken und führte die Schwestern in einen klammen, dunklen Hinterhof. Dort lag Morimori.
Pradiya fühlte nicht einmal mehr Entsetzen. Langsam, ganz allmählich, war die Gewissheit in ihr aufgestiegen, dass er tot sein musste. Seinen leblosen Körper jetzt zu sehen, die glasigen Augen im blassen, von schwarzen Zeichnungen bedeckten Gesicht und die kraftlosen Finger, das längst getrocknete Blut am Hals – das alles ließ sie mit einem Gefühl der Kälte zurück, das sich in ihr ausbreitete.
Sie erstarrte. Tilis Hand, die ihren Arm umklammerte, fühlte sie gar nicht mehr.
„Wie entsetzlich.“ Nur Sayas fand Worte. „So viele …“
Außer Morimori lagen noch einige Zwerge in der Gasse. Manche Körper waren mit groben Stoffen zugedeckt, doch ihre Form zu erahnen. Es war ein Versteck, mitten in der Stadt.
Ob Morimori die Leichen entdeckt hatte? Hatte er deshalb sterben müssen? Man sah ihm an, dass er geschlagen worden war.
Die Welt schien sich zu bewegen. Pradiya merkte erst zu spät, dass ihre Knie nachgaben und sie in den Schnee sank. Sie konnte den Blick nicht von Morimoris Gesicht abwenden, auf dem Angst und Zorn eingefroren waren.
Es sah überhaupt nicht aus wie ihr Lehrmeister.
„Das ist nicht wahr“, hauchte sie. „Das kann nicht sein …“
In Gedanken ging sie die letzten Tage wieder und wieder durch. Morimoris Aufbruch, um die Lieferungen entgegen zu nehmen. Die Nachtschichten. Die Planung für das Fest.
Hätte ihr nicht früher auffallen müssen, dass etwas nicht stimmte? Wieso nur hatte es so lange gedauert, bis sie Morimori vermissten?
„Wir müssen zur Garde. Pradiya, steh auf. Wir müssen Sago davon berichten.“ Tili zerrte an ihrem Arm. „Los, Pradiya.“
Wozu sollten sie zur Garde? Für Morimori war es bereits zu spät.
Dann erfasste ein Zittern Pradiya, als sie es realisierte. Leichen. Da lag ein Dutzend Leichen in der Gasse!
Plötzlich sah sie die Zwergin aus der ersten Krawallnacht wieder vor sich. Ich suche meinen Sohn …
Und was hatten die Zwerge auf dem Fest noch gleich gesagt? Immer mehr Zwerge und Tiermenschen verschwanden.
„Das ist Xpiakane!“ Pradiya sprang auf. „Und wir haben uns von dem dummen Fest ablenken lassen! Sie war nicht untätig.“
An Tili und Sayas vorbei stürmte sie zurück auf die Straße.
„Pradiya … warte!“ Beide eilten ihr nach.
„Sie hat irgendwas vor!“, rief Pradiya ihnen zu. „Sie will die Zwerge immer noch alle versklaven.“
Ihre Hände hatten sich zu Fäusten geballt. Sie würde verflucht sein, wenn sie die Seherin damit durchkommen lassen würde. Ihr Blut kochte förmlich.
Sie war Ärztin. Und als solche wusste sie nicht nur, wie man Leben rettete. Sie kannte auch alle Wege, wie ein Erdwesen zu Tode kommen konnte.
Xpiakane würde jedoch nicht einfach nur sterben. Sie würde leiden.
⁂
Als sie die Straße erreichten, wurde sogar Pradiya langsamer. Atemlos holte Tili zu ihr auf. Der Mooself stolperte hinterher.
Ein weiterer Schock erwartete sie.
Die Straße war nicht länger festlich geschmückt und erleuchtet. Stattdessen waren die Lichter der Häuser gelöscht und nur der Schein von Feuern erhellte Akijama. Elfen zogen in Gruppen über die Straßen, Fackeln in den Händen, und marschierten auf den Palast zu. Unter ihren Kapuzen waren keine Gesichter zu erkennen – es könnten auch Menschen unter ihnen sein. Weiter oben am Berg loderten Flammen dort, wo vor kurzem noch der Festplatz gewesen war. Der Wind trug Schreie zu ihnen herunter.
Es waren viele Elfen. Sehr viel mehr als in den Krawallnächten. Das hier war eine Armee.
„Was ist da los?“, fragte Tili, obwohl sie keine Antwort brauchte.
„Seht nur!“ Sayas deutete auf einige Elfen in der Menge, die sich nicht verhüllt hatten. Sie trugen die Uniform der Palastgarde, jedoch mit einer roten Binde um den Oberarm. Tili erkannte den einäugigen Veteranen, den sie schon auf dem Bergfest gesehen hatte. Er marschierte gemeinsam mit den Verhüllten, trug selbst eine Fackel.
Sie waren im Rücken der Aufständischen, was vermutlich alles war, was sie rettete. Denn noch während sie zusahen, stieß jemand einen Ruf aus und deutete in eine Gasse. „Zwergenpack!“ Die Verhüllten stürmten vor, mindestens zehn von ihnen. Schreie erklangen, Fackeln flogen auf die Gebäude, neue Flammen leckten in den Himmel. Dann verstummte der Lärm.
Das war keine Unruhe mehr – das war ein Putsch. Ein ausgewachsener Krieg. Ganz Akijama schien sich gesammelt zu haben, um die Zwerge heute zu vertreiben.
Auf den roten Binden, die die meisten trugen, prangte ein schwarzes Auge auf einer weißen Raute. Eine Flagge, die die Schwestern von den Plakaten aus der letzten Zeit kannten.
Mit Fackeln, Harpunenspeeren und Schwertern zog die Menge zum Palast.
„Sago!“, stieß Tili aus. „Sie ist noch dort oben!“