Rauch stieg aus den Trümmern auf. Einer der Hofmagier hatte Schnee über die Reste des einst prächtigen Speisesaals geschüttet, und die Flammen damit endlich erstickt.
Gefolgt von den Schwestern und mehreren Wachen trat Xin Zakanono über die Schwelle aus geschwärzten Balken. Das teure Gewand der Kaiserin und ihr goldenes Haar waren von kleinen Rußflocken geschwärzt. Nun verschmierte Asche den Saum ihres Kleides, doch sie kümmerte sich nicht darum. So schnell, dass Tili und ihre Schwestern kaum folgen konnten, eilte die Kaiserin über die verkohlten Reste des Gebäudes.
Die steinernen Festungen hatten standgehalten. Tili wünschte, sie könnte sich mehr darüber freuen. Das Feuer hatte jedoch alle Holzelemente angegriffen und gierig verschlungen.
Suchend eilte Xin durch die Überreste der wenigen Holzelemente, die zum Zeitpunkt des Brands ausgefahren gewesen waren. Außer dem Speisesaal war noch das Treppenhaus betroffen und ein Teil der Inneneinrichtung der Kaserne.
Glas klirrte unter den Schritten der Schwestern, und sie hielten verwundert an. Tili strich mit dem Fuß durch die Asche. Darunter kamen zerbrochene Holzrahmen von Shoji-Wänden zum Vorschein. Dann entdeckte sie Scherben und hockte sich hin, um sie näher zu untersuchen.
Tili schnupperte. „Petroleum, glaube ich.“
Mit spitzen Fingern zog Sago eine der größeren Scherben hervor. Es war ein Flaschenboden, dessen Form ihnen verdächtig vertraut vorkam. „Das ist … eine Bergblut-Flasche.“
Tili fand den Flaschenhals, in dem ein verkohlter Fetzen steckte. Ein Stoff, dessen Ursprung sich nicht länger bestimmen ließ.
„Ich dachte, Lampenöl sei so knapp geworden“, murmelte Pradiya leise.
„Es sieht trotzdem so aus, als hätte das jemand in die Flaschen gefüllt. Und dann den Stoff angezündet“, vermutete Tili. „Es ist eindeutig ein Öl.“
„Das würde erklären, wie sich das Feuer so schnell verbreitet hat.“ Die jüngste Schwester schluckte. „Wenn das Öl entzündet wurde …“
Sago stand auf und strich mit dem Fuß in einem Kreis durch die Asche. Weitere Flaschen tauchten auf.
Tili schluckte. Denn das bedeutete – der Brand war kein Unfall gewesen!
Mehrere Rufe schreckten die Schwestern auf. Die Gardisten versuchten, die Kaiserin zurückzuhalten, die schluchzend an einem schweren Balken zog und dann davor auf die Knie sank.
„Oh nein“, hauchte Sago und wurde noch blasser.
Schweigend näherten sich die Schwestern ihrer Tante.
Chiaos lag in einer Lache aus mit Blut verklumpter Asche. Der Balken hatte seine Beine begraben. Seine Kleidung war nahezu unberührt von den Flammen, doch alle Mühen der Magier hatten ihn nicht mehr retten können.
Die Kaiserin beugte sich über ihn und brachte keinen einzigen Ton mehr hervor. Mit bebenden Fingern ergriff sie den Kragen seines Gewandes.
Sago umklammerte Tilis Schulter schmerzhaft fest. Pradiya wandte abrupt den Blick ab und drückte sich an Tili, die ihre Schwester stumm mit einem Arm umschlang. Pradiya zitterte.
Die Kaiserin ergriff den Bernstein, den Chiaos noch immer um den Hals getragen hatte. Sie zog den gelben Stein an seiner Kette hervor und umschloss ihn mit ihren zarten Fingern, die sich zur Faust formten.
„Holt eine Bahre!“, verlangte sie mit fester, unnatürlich kalter Stimme. „Holt eine Bahre für meinen Sohn.“
⁂
Die Kerzen malten unstete Schatten auf die Wände und den Strauß blauer Astern. Seufzend strich Morimori über das Gesicht des Thronfolgers, um dessen Augen zu schließen. Mit gesenktem Kopf trat der Heiler zurück.
Pradiya konnte den Blick nicht von Chiaos Gesicht abwenden. Morimori hatte die schlimmsten Wunden kaschiert, durch ein großes Kissen, das den Schaden an seinem Schädel verbarg, und er hatte kleinere Brüche gerichtet. Wäre nicht all das Blut und der Dreck, könnte man ihn für einen Schlafenden halten – doch Chiaos sah müde und erschöpft aus, viel älter als noch gestern in der Beratung.
Pradiya zuckte zusammen, als sie eine Berührung am Oberarm spürte. Doch es war nur Morimori.
„Du kannst die Kaiserin jetzt hereinbitten“, sagte er leise. „Sie soll Abschied nehmen dürfen.“
Pradiya nickte.
Chousokabe-Xin wirkte gefasst. Ihr Gesicht war ruhig, geradezu unnatürlich ebenmäßig, wie eine Maske. Vielleicht hatte sie alle Tränen bereits auf dem Aschefeld verloren, das sich noch vor den Toren der Festung erstreckte.
Als die Kaiserin, stolz und aufrecht, eintrat, zog sich Morimori zurück.
Pradiya blieb einen Moment länger. Sie verneigte sich vor der Kaiserin. „Es tut mir so unendlich leid.“
Xin nickte ihr zu, sagte jedoch nichts. Mit gesenktem Kopf trat Pradiya hinter Morimori hinaus.
Der Raum, in dem sie Chiaos aufgebahrt hatten, war eines der Kommandantenzimmer der Kaserne. Es gab einen eigenen Trauerraum im Sortiment des Wandelbaren Palasts, doch sie hatten beschlossen, bei der aktuellen Anordnung zu verharren.
Morimori saß auf einer der Bänke, die den ansonsten leeren Gang vor den Zimmern der Soldaten säumten. Gegenüber schnaubten einige Pakis in ihren Ställen.
Still trat Pradiya zu ihrem Lehrmeister und setzte sich neben ihn. Eine ganze Weile saßen sie schweigend nebeneinander. Aus dem Raum mit Xin und Chiaos drang kein Laut.
„Ich weiß nicht, ob ich hierbleibe“, sagte Morimori plötzlich.
„W-was meinst du?“, fragte Pradiya.
Der Tiermensch stand auf und wanderte den Gang entlang. Pradiya eilte ihm hinterher. „Morimori!“
Er ließ zu, dass sie ihn einholte. „Akijama ist nicht länger sicher.“
„Und da willst du … einfach wegrennen?“
Morimori legte die weißen Ohren an und sah ihr in die Augen. „Du verstehst das nicht, aber … ihr tut im Moment so viel für die Zwerge und Yetis, trotzdem wird der Hass immer größer. An die Tiermenschen denkt niemand. Wir werden … am Ende zermahlen.“
„Wieso das denn? Ja, die Spannungen zwischen Zwergen und Elfen nehmen zu – aber euch tut doch bisher niemand etwas, oder?“ Pradiya lächelte schief. „Sie übersehen die Tiermenschen.“
„Ich weiß nicht.“ Morimori sah zu Boden.
„Du darfst nicht gehen. Die Bewohner von Akijama brauchen doch ihren Arzt.“ Pradiya versuchte, nach der Hand des Tiermenschen zu greifen. Doch Morimori entzog sich ihr.
„Ihr habt jetzt Astikis.“
„Ist es das? Bist du neidisch, weil noch ein Arzt im Spital arbeitet? Weil er ein Elf ist?“
„Nein!“ Ein leises Knurren entwich Morimori. „Ich habe auch dich als neue Ärztin mit aufgenommen, schon vergessen?“ Er beschleunigte seine Schritte und stürmte aus dem Gang, hinaus auf das Feld mit den Trümmern des Palastes.
Pradiya rannte ihm nach. „Wo … wo willst du überhaupt hin?“
Morimori blieb stehen. Er seufzte. „Dhubayaana vielleicht.“
„Aber dort …“
„Ist es ebenfalls nicht sicher, ich weiß.“ Der Tiermensch fuhr sich durch das schwarzweiße Haar. Dann drehte er sich zu Pradiya um. „Und ich möchte nicht gehen. Ich liebe mein Spital! Gerade jetzt, wo endlich alles läuft. Ich fürchte nur … vielleicht bleibt mir bald keine Wahl.“
„Wegen Xpiakane?“
„Wegen dem, was in dieser Stadt passiert. Den Brandanschlag hat sicher nicht sie zu verantworten. Der steigende Hass existierte auch vor ihrem Ausbruch schon.“ Morimori atmete tief durch. „Dies sind unruhige Zeiten. Die neue Regierungsform der Kaiserin stößt vielen bitter auf. Die Abgabezahlungen an Dhubayaana, die vielen Zwerge in der Stadt, all das ist eine explosive Mischung.“
„Aber es wird besser werden“, versprach Pradiya voller Hoffnung. „Xin tut alles, um den Frieden zu wahren.“
„Die Kaiserin“, widersprach Morimori zischend, „ist gebrochen vor Trauer. Und auch sie hat über Jahrzehnte Xpiakanes Lügen zugehört. Das ist wie ein Gift, das noch fortwirkt.“
Pradiya machte einen Schritt zurück. „Wenn du das Kaiserreich so sehr hasst, ist es auf lange Sicht vielleicht wirklich besser, wenn du gehst!“
Morimori sah sie verletzt an. Pradiya war selbst erschrocken über die Worte, die aus ihr herausgebrochen waren. Doch ihr Zorn toste noch immer.
„Wenn du lieber fliehst, als für eine Zukunft zu kämpfen, dann … dann sag es mir einfach!“
„Pradiya …“
Sie drehte um und rannte zurück in den Palast.
⁂
Die Beerdigung fand nach einer Woche Trauerzeit statt. Das Volk hatte sich auf den Straßen versammelt, um seinem Thronerben das letzte Geleit zu geben. Xin trug ein weißes Gewand, das hell strahlte wie der Schnee auf dem Weg zur reich verzierten Gruft der Kaiserfamilie, welche in den Berg selbst gegraben war.
Chiaos war auf blaue Astern gebettet, und weitere der Blüten säumten den Weg, den die Träger schritten. Es gab keine Musik und keine Worte. Die Kaiserin stand da wie eine Statue, nur ihr Kleid flatterte im kalten Wind. Tili, Sago und Pradiya standen einen halben Schritt hinter ihrer Tante und mussten gegen die Tränen kämpfen, die Chousokabe-Xin Zakanono nicht mehr zu haben schien.
Gemeinsam mit Diamanten, seinem Schwert und einigen letzten Grabbeilagen wurde Chiaos in die Gruft gebettet. Blaue Astern steckten in seinem Haar, ehe ein weißes Tuch über ihn gezogen wurde. Der Abschnitt der Gruft wurde versiegelt mit einer Steinplatte, in die die Zeichen seines Namens eingraviert waren.
Dort ruhte er nun, Chiaos‘Nyailin-Xairin Zakanono, und würde schlafen, bis das Schicksalsrad seinen Lauf beenden würde.
Die Kaiserin umfasste den Bernstein, den goldenen Stein der Erinnerung, den nun sie allein trug. Schnee fiel in vereinzelten, stummen Flocken auf die Köpfe der Trauernden und kein Laut ertönte.