„Was ist denn da draußen los?“ Tili trat an eine der schmalen Schießscharten, die momentan alles waren, was der Palast an Fenstern bot. Das ewige Zwielicht im Inneren, nur selten durchbrochen von Öllampen, machte sie fertig.
„Nicht“, warnte Cizikuni sie, doch Sago war schneller und zog Tili zurück.
Einen Moment sahen alle ängstlich auf das Fenster, doch nichts geschah. Sago atmete als erste tief durch.
„Also, was passiert da draußen? Wieso sind die Tore versperrt?“, fragte Tili.
Sago ließ ihre Schwester los. „Es ist zu deiner Sicherheit. Da draußen herrscht … vollkommenes Chaos.“
„Chaos?“, wiederholte Tili.
„Proteste“, erklärte Cizikuni. „Offenbar gehen die Elfen auf die Straße, wegen der Aufrührer, die wir verhaftet haben.“
„Und wieso verkriecht ihr euch hier?“ Tili sah verständnislos zu den Gardisten.
Cizikuni winkte einen blassen Jungen heran. „Erzählt du es.“
„E-es sind so viele!“, stammelte der junge Elf ängstlich. „Viel mehr als Wächter. Die Zw-Zwerge sind auch draußen und …“
Sago musterte den bebenden Elfen. Dann riss Tili sie aus ihrer Starre, die ihre Schulter schmerzhaft fest packte.
„Sago!“
„Au, Tili!“
„Pradiya ist noch da draußen!“
Sago versteifte sich.
Cizikuni sah zwischen den Schwestern hin und her. „Nein. Nein!“
„Wir müssen sie suchen!“, widersprach Sago ihm.
„Das ist viel zu gefährlich.“
„Nicht für uns.“ Sago grinste. „Wir sind die Zwergelfen.“ Sie wandte sich an die Gardisten. „Macht unsere Pakis bereit! Alle drei!“
⁂
Gefolgt von Pradiyas grünem Paki galoppierten Tili und Sago zur Stadt. Zuerst war nichts von den Unruhen zu spüren. Akijama lag friedlich unter einem klaren, blauen Himmel. Die Straßen waren verlassen.
Weiter unten lagen Trümmer auf dem Pflaster verstreut, und in der Ferne hörten sie schließlich Rufe, die bewiesen, dass der junge Wächter nicht gelogen hatte.
Die langen Ohren der Pakis zuckten nervös, als Tili und Sago ihre Reittiere bremsten und in die Straße zum Spital einbogen.
Tili musste schlucken, als sie die offenen Eingangstüren sah. Dahinter gähnte die Dunkelheit des Gebäudes.
„Pradiya!“ Sie trieb ihr Paki wieder an.
„Ja?“
Pradiya stand in der zwielichten Halle, umringt von Verletzten, die auf dem Boden lagen. Es waren vor allem Zwerge, aber auch einige Elfen. Nun starrten sie die beiden Reiterinnen entsetzt an.
„Was wollt ihr?“, fragte Pradiya. „Gibt es noch mehr Verletzte?“
„Wir haben uns Sorgen um dich gemacht!“, stieß Tili aus.
Pradiya sah verwirrt auf, dann malte sich Erkenntnis in ihren Augen ab. „Mir … mir geht es gut.“
„Du musst mit in den Palast kommen.“ Sagos Stimme klang kühl.
Pradiya schüttelte den Kopf. „Sie brauchen mich hier. Sayas braucht mich!“ Sie wies auf einen grünhäutigen, grünhaarigen Elfen, der sich um weitere Verwundete kümmerte.
„Aber … die Stadt versinkt im Chaos.“ Tili musste Sago diesmal zustimmen. „Es ist zu gefährlich.“
Pradiya wirbelte herum und funkelte ihre Schwestern an. „Dann sollte die Garde vielleicht etwas für ihre Schutzbefohlenen unternehmen! Ich bleibe jedenfalls hier, solange ihr keinen Weg findet, auch alle Verletzten mitzunehmen!“
Tili sah zu den Patienten. Manche hatten Verbände um den Kopf, andere bluteten nicht, schienen aber schmerzhaft verprügelt worden zu sein. Sie glaubte, Stichwunden zu sehen.
„Pradiya – reiß dich zusammen!“, zischte Sago.
„Nein, sie hat recht. Ihr seid die Beschützer der Stadt. Der ganzen Stadt!“, warf Tili ein. „Und jetzt will dein toller Kommandant die Hände in den Schoß legen, während die Elfen einen Krieg gegen die Zwerge beginnen? Das ist doch nicht richtig!“
Sago zögerte. Dann fluchte sie. „Beim Turmalindrachen! Na gut – komm, Tili. Wir holen die Garde.“
Die Pakis wendeten auf dem Holzboden des Spitals und sprengten wieder durch die Öffnungen der Schiebetüren.
⁂
„Sago, du hast die Lage doch gesehen. Es sind zu viele. Ich verbiete es.“
Sago richtete sich auf. „Cizikuni. Ich bin die Nichte der Kaiserin.“ Sie holte tief Luft. „Du hast mir nichts zu befehlen.“
Mit weit aufgerissenen Augen trat der Kommandant zurück.
Sago hob die Stimme. „Gardisten! Angetreten! Macht euch marschbereit.“
„Auch die Zwerge?“, fragte einer der Neuzugänge schüchtern.
„Auch die Zwerge“, bestätigte Sago und sofort brach in der Halle hektische Betriebsamkeit aus. Nur Cizikuni, Sago und natürlich Tili blieben stehen.
„Es ist riskant“, sagte Cizikuni. Als Sago Luft holte, um ihn auf seine Stellung hinzuweisen, senkte er den Kopf. „Aber ich werde mitkommen und helfen, Sago.“
Mit einem Nicken akzeptierte sie.
⁂
Sayas sah durch die Tür. „Die Stimmen werden immer lauter.“
„Ich habe es mitbekommen“, knurrte Pradiya durch die Zähne. „Was sollen wir tun?“ Jetzt noch zum Palast zu fliehen, ließ ihr Stolz nicht zu. „Meine Schwestern kommen sicher bald.“
„Vielleicht nicht mehr bald genug.“ Sayas sah sie besorgt an. „Sollen wir wirklich bleiben?“
„Natürlich.“ Pradiya sah durch die Halle. „Bringen wir die Verletzten nach hinten. Oder besser noch in die Keller - da ist Platz. Und schließ die Türen!“
Es gab zum Glück nur wenige Verletzte, die nicht mehr aus eigener Kraft laufen konnte. Pradiya schärfte ihnen ein, still zu sein, bevor sie die Türen zu den Behandlungsräumen hinter ihnen schloss.
Sayas war in der Eingangshalle geblieben und trat neben Pradiya, als sie sich in den dunklen, leeren Raum stellten und die Eingänge beobachteten.
Schreie und Schritte kamen immer näher. Pradiya bemerkte flackernden Fackelschein, der heller wurde.
„Dreckiges Zwergenpack!“, rief jemand.
„Akijama gehört uns.“
Sie hielt die Luft an. „Stimmt es? Haben sie die Stadt übernommen?“
„Das werden wir erst morgen wissen“, sagte Sayas leise. Er trat noch einen Schritt näher.
Schatten huschten über das Papier der Shoji-Wände.
„Ist das nicht das Krankenhaus von diesem Tiermenschen?“
Jemand hämmerte gegen das Holz. Pradiya zuckte zusammen.
„Aufmachen!“
„Ist da überhaupt jemand drin?“
Die Stimmen klangen angetrunken. Doch es wurden immer mehr Schatten, bis selbst das Licht ihrer Fackeln die Schatten nicht mehr von der Tür vertreiben konnte.
Wieder wurde geklopft. Dann rüttelten die Elfen an der Tür.
Pradiya schluckte.
„Sofort aufhören!“, erklang Sagos Stimme kraftvoll und eisig.
„Ja!“, hauchte Pradiya.
Die Meute war weniger begeistert.
„Was soll das?“
„Die Palastgarde!“
„Wollen die uns verarschen? Ich dachte, die bleiben im Palast!“
In der plötzlichen Stille hörte Pradiya das Klappern von Pakihufen. Es waren viele.
„Löscht die Fackeln, legt die Waffen ab und geht nach Hause!“, verlangte Sago. Ein Beweis dafür, wie viele Elfen vor der Tür standen. Sie konnte sie nicht alle verhaften.
Zum Erstaunen aller kamen die Elfen dem Befehl nach. Klirrend wurden Waffen abgelegt. Durch die Türen hörte Pradiya Flüche und Beschimpfungen, doch niemand der Elfen schien der erste sein zu wollen, der Widerstand leistete.
Nur in der Masse waren sie stark, doch nicht, wenn sich einer heraussondern und das Risiko tragen musste.
„Sie haben einen Anführer“, wisperte Pradiya. „Irgendjemand organisiert sie. Jemand, der nicht hier ist. Der sie lenkt.“ Natürlich wusste sie, wer. Xpiakane.
Als die Schatten abzogen, öffnete sie die Tür. Noch waren vereinzelte Elfen anwesend, doch die enge Straße wurde von Wachen kontrolliert. Unter ihnen Sago und Tili.
Pradiya stürmte aus dem Spital und auf ihre Schwestern zu. Sago saß noch im Sattel, doch Tili stand auf dem Pflaster und schloss Pradiya in ihre Arme, als sich die jüngste Schwester an sie klammerte.
„Ich hatte solche Angst!“, schluchzte Pradiya. „Ich dachte, ihr kommt nie zurück.“
Tili drückte sie an sich und Pradiya brachte kein einziges Wort mehr heraus.
⁂
Kritisch betrachtete Cizikuni die Gardisten, die ins Schloss zurückkehrten. Dann trat er vor, um Sago aufzuhalten. „Sind das alle? Wo ist der Rest?“
„Unverletzt“, beruhigte sie ihn. „Ich habe sie zum Schutz der Bevölkerung in der Stadt platziert.“ Sie bemerkte, dass noch weitere Leute in der Halle anwesend waren. Kräftige Elfen in der Uniform der Garde. „Wer ist das?“
„Die Veteranen. Sie sind gerade erst angekommen. Etwas zu spät, an den Unruhen gemessen.“ Cizikuni lächelte.
„Die nächsten Unruhen kommen bestimmt“, erwiderte Sago frostig. „Und nächstes Mal werden wir nicht warten und uns zum Gespött der Stadt machen.“
„Natürlich kommen sie.“ Cizikunis Lächeln verschwand. „Zum Beispiel morgen bei diesem Fest, das deine törichte Schwester organisiert.“