Jeder Handgriff saß. Inzwischen könnte Sago ihre Rüstung im Schlaf anziehen. Zunächst die schwarze Unterkleidung: Hose, Hemd und die Bänder, die um Arme und Waden gewickelt wurden. Dann die Bein- und Armschienen anschnallen, den Brustpanzer überziehen, die Schulterpolster aufsetzen. Zuletzt band sie sich den Waffelgürtel mit Katana und Dolch um, und warf sich den Riemen mit dem Harpunenspeer über die Schulter.
Sie hatte keine zehn Minuten gebraucht. Noch immer erschien ihr die ganze Situation wie ein böser Traum. Ein Albtraum, den sie schon vorher gehabt hatte. Bisher war sie jedes Mal erwacht, und war in den Kerker geeilt, um festzustellen, dass die menschliche Magierin nach wie vor hinter Gittern saß.
Doch heute … heute war der Albtraum Wirklichkeit geworden. Die Magierin war entkommen. Die Seherin, die Akijama so lange in ihrem kalten Würgegriff gehalten hatte. Ihr Gesicht tauchte wieder vor Sagos Augen auf, ihr Zorn, die Kaltblütigkeit, mit der sie Tili über den Rand der Klippe geworfen hatte, nachdem ihr Verrat aufgedeckt worden war.
Sie versuchte, die aufkochenden Erinnerungen zu verdrängen und trat aus ihrer Kammer. Der Flur hatte sich inzwischen verschoben. Statt des Speisesaals oder Übungsplatzes lagen hier nun die Ställe. Ihr blaues Paki war bereits gesattelt und gezäumt. Pradiya stand neben dem Tier und streichelte beruhigend dessen Schuppen.
„Wo ist Tili?“
„Im Gewölbe. Sie aktiviert die Schutzmauern und organisiert ihre Leute bei der Durchsuchung des Palastes.“
„Glaubt ihr, sie ist noch im Gebäude?“, fragte Sago.
Pradiya zuckte mit den Schultern. Sie sah ängstlich und verloren aus, viel zu jung. Obwohl ihre Schwestern nur drei Jahre älter waren, waren die Ohren der jüngsten Halbelfe noch gerade, während Tili und Sago alt wirkten. „Ihr findet sie doch, oder?“
„Natürlich“, versprach Sago und schwang sich in den Sattel. „Wir machen es wie man Schneehasen fängt. Cizikuni besetzt das Elfentor, ich das Zwergentor, und dann ziehen wir die Schlinge zu. Wir werden jedes Haus auf den Kopf stellen. Xpiakane kann uns nicht entkommen.“
Pradiya ergriff ihre Hand und hielt sie einen Moment fest. „Bitte … passt auf euch auf.“
„Versprochen, Pradiya.“ Sago lächelte ihr ermutigend zu.
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Tili sah den schlanken Pakis nach, als der letzte Trupp Wächter durch das nun steinerne Tor des Palastes galoppierte. Dann betätigte sie die Winde und das Fallgatter senkte sich.
Sie sah zurück. Die meisten Türen waren verbarrikadiert, nur ein großer, offener Saal war geblieben, während die restlichen Räume des Palastes unter die Erde verfrachtet worden waren. Nun musterte sie die Diener, die in einer Reihe angetreten waren, gemeinsam mit den Wachen, die zum Schutz der kaiserlichen Familie abbestellt worden waren.
Teils sah man den Zimmermädchen an, dass sie geweckt worden waren, um sich nun einer genauen Musterung zu unterziehen, bevor Pradiya kleine Gruppen aus zwei Wachen und fünf Bediensteten zusammenstellte und losschickte, um die individuellen Räume im ‚Gewölbe‘, der großen Halle unter dem Palast, zu durchsuchen.
Als die letzten gegangen waren, konnte sie endlich einmal durchatmen. Sie fühlte sich, als wäre sie gerannt, dabei waren es nur ihre Gedanken, die nicht zur Ruhe kamen. Angst hatte sich wie ein Schatten über den prächtigen Palast gelegt.
Auf ihrem Thron saß Xin, neben ihr Chiaos. Zehn Wächter umringten sie.
Tili durchquerte den Festungsraum, als sich Schritte einer der wenigen Türen näherten. Sofort eilten zwei Wachen zu Tili und hoben ihre Harpunenspeere, doch sie senkten die Waffen, als sie die atemlose Pradiya erkannten, die die breiten Treppen erklomm.
„Hast du Gorr erreicht?“, fragte Tili.
Pradiya nickte, zu sehr außer Atem, um zu antworten. Sie stützte sich auf den Knien ab, bis sie endlich wieder Worte formulieren konnte. „Die Yetis und Zwerge durchforsten die Tunnel.“
„Und die Wachen sind an den Toren in Position.“ Tili atmete auf. „Jetzt kann sie uns nicht mehr entkommen.“
„Wissen wir überhaupt, wie sie ausbrechen konnte?“, fragte Pradiya.
Tili fuhr sich über das Gesicht. „Cizikuni meinte, sie muss das Schloss aufgebrochen haben. Vielleicht mit einem Stäbchen.“
„Wird denn das Essgeschirr nie überprüft?“
„Ich weiß es nicht, Pradiya! Vielleicht war es auch etwas anderes. Erst einmal müssen wir Xpiakane finden, dann können wir herausfinden, wie es überhaupt so weit kommen konnte.“ Sie atmete tief durch. Ihre Schwester war ja nicht schuld an der Misere – also brachte es nichts, Pradiya anzuschreien. „Immerhin wurde ihre Flucht schnell bemerkt. Wir werden sie finden.“
„Natürlich werden wir das.“ Pradiya strich sich eine Haarsträhne hinter das Ohr, die sich während ihres Sprints aus den Eingeweiden des Berges bis zum Schloss gelöst haben musste.
Tili zog ihre Schwester an sich und schloss die Augen. Sie hatte Angst, sie beide hatten das. Aber dieses Chaos würde sich lösen.
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Schweigend auf ihrem Paki sah Sago auf die verwinkelten Gassen, die aus der Stadt zum Zwergentor führten. Inzwischen waren es nicht länger die einzigen Wege, die Zwerge benutzen durften, doch verschwunden waren die schmalen Gänge deshalb noch nicht. Dafür müsste man Akijama niederbrennen und völlig neu aufbauen.
Ihr Paki, Tuk, tänzelte nervös. Den anderen Reittieren der Garde ging es ähnlich. Die zarten Schuppenpferde waren es nicht gewohnt, mitten in der Nacht aus ihren Ställen geholt zu werden. Sie ahnten also, dass etwas vor sich ging, auch wenn sie längst nicht so deutlich wie die Elfen wussten, welche Gefahr drohte.
Zehn Wachen blockierten das Tor. Sago hatte kleine Trupps losgeschickt, um die Zäune und Steilklippen bis zum Elfentor zu kontrollieren, der Rest ihrer Einheit durchsuchte ein Haus nach dem anderen und vereinzelte Späher waren an den Kreuzungen postiert, sodass niemand den systematischen Kontrollen entgehen konnte.
Es herrschte eine Ausgangssperre, doch die Stadt lag nicht friedlich da. Immer wieder erklangen zornige Stimmen, wenn Elfen von klopfenden Wachen geweckt wurden und die Hausdurchsuchung über sich ergehen lassen mussten. In einer der steinernen Pyramide hatten die Gardisten einige Zwerge festgesetzt, die die Ausgangssperre missachtet hatten, und nun drohend die Fäuste gegen Sago schüttelten.
„Verdammte Elfen! Wir lassen uns nicht wieder einsperren!“
„Wir haben jetzt Rechte, schon vergessen?“
Sago strich über ihre Rüstung und ignorierte die zornige Menge. Die Zwerge würden noch schnell genug begreifen, dass es nicht um einen neuerlichen Putsch ging, sondern um ihren Schutz.
Müde hob Sago den Blick, als sie Helligkeit bemerkte. Die Spitzen der höheren Gipfel und der Palast erglühten mit einem Mal in gold-rotem Schein, wie Laternen vor dem sternenbesetzen Nachthimmel.
Seitlich von Sago, im Osten, ging die Sonne auf und markierte damit das Ende einer langen Nacht.
Während das Licht langsam die schneebedeckten Hänge hinabfloss, näherte sich ein einzelner Reiter. Der Wächter grüßte sie müde. „Das Topazviertel ist ebenfalls abgeschlossen, und Cizikunis Leute sind fast mit dem Kristallviertel fertig.“
„Schon?“, entfuhr es Sago. Das Kristallviertel umfasste den gewundenen Aufstieg zum Palast, die alten Tempel und ansonsten nur offenes Gelände. „Und Xpiakane?“
Der junge Wächter schüttelte den Kopf. „Keine Spur.“
Sago schluckte. „W-wie ist das möglich?“
Erschöpft zuckte der Wächter mit den Schultern. „Vielleicht haben die Yetis sie in den Tunneln übersehen.“
Sago schüttelte den Kopf. „Unmöglich.“ Dann gab sie ihren Leuten ein Zeichen. „Schickt die Zwerge nach Hause. Wir reiten zum Palast. Haltet unterwegs einfach nochmal die Augen offen. Bis auf euch drei. Ihr haltet die Stellung am Tor, ich schicke eine Ablösung.“
Sie waren alle müde. Doch Sago zweifelte nicht daran, dass die Garde ihrer Aufgabe gewissenhaft nachgekommen war.
Was die unangenehme Frage aufwarf, wie Xpiakane dann aus der Stadt entkommen war. Beide Tore waren bewacht gewesen, bevor sie diese hätte erreichen können, und Akijama war durchsucht worden.
Gab es womöglich ein drittes Tor? Ein geheimes Tor, von dem niemand wusste?
Das war nicht vollkommen abwegig. Und immerhin hatte Xpiakane den Aufbau der Stadt überwacht. Wenn es Geheimgänge gab, würde sie sie kennen.