HYPHURION – Die Chronik der Eisenwelt
Dreams of Steel [2]: Stadt der drei Tore
~ Für Alex Frost ~
Der den stählernen Träumen
ihre Farben gab.
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[01] Der Tag des Diamanten
Knirschend setzte sich der Kran in Bewegung. Die Arbeiter wichen zurück, als der Greifarm sich senkte und mit den metallenen Fingern eine Kanone packte.
Tili biss sich auf die Unterlippe.
Die schwere Waffe im Griff bewegte sich der mechanische Arm wieder nach oben. Seine Fingergelenke streckten sich, als das Gewicht der Kanone hineinsank. Die Maschine ächzte.
Dann hob die gusseiserne Kanone ganz langsam vom Boden ab. Tili umfasste den Hebel der Notbremse mit schweißnassen Fingern und beobachtete, wie der metallene Arm das schwere Geschütz ratternd und ruckelnd nach oben und dann zur Seite bewegte. Die Kanone wurde über das Geländer der nächsten Plattform geschoben. Dahinter senkte der Arm sich langsam ab. Die Räder der Kanone setzten auf dem Stein der erhöhten Plattform auf.
Unzählige dieser Ebenen ragten losgelöst voneinander und nur von metallenen Gelenken und Armen gehalten in die gewaltige Höhle. Auf vielen der Plattformen befanden sich Möbel. Teppiche und Sitzgruppen auf poliertem Holz. Eiserne Waffenschränke auf grob behauenem Stein. Luxuriöse Stühle auf dunklen Teppichen. Einige wenige Ebenen hatten Shoji-Wände, goldene Geländer oder dicke Mauern. Es war ein verwirrendes Puzzle von Raumteilen und abgeschnittenen Fluren.
Die Kanone wurde auf dem Stein platziert und die anwesenden Arbeiter brachen in Jubel aus. Tili atmete erleichtert auf und ließ den Hebel los.
„Ausgezeichnet!“, rief sie und trat aus der kleinen Kammer, von der eine Treppe zum Boden der Höhle führte. Ihre Arbeiter, überwiegend Zwerge, strömten zu ihr. Sie klopften einander glücklich auf die Schultern.
„Ich denke, die Gelenke werden derBelastung nicht länger als einige Wochen widerstehen. Schon jetzt haben sie sich ziemlich verbogen“, sagte Saomajax. Die leitende Bauaufseherin kritzelte fleißig Schriftzeichen auf eine kleine Pergamentrolle. „Wir werden sie auf jeden Fall verstärken müssen.“
„Der Test ist schon mal perfekt gelaufen“, sagte Tili beruhigend. „Was mir größere Sorgen macht …“
Passenderweise entließ der Prototyp des Greifarms in diesem Moment zischend eine Wolke weißen Dampfes.
„… ist die Hitzeentwicklung“, beendete Tili den Satz. „Wenn der kleine Arm schon so viel Dampf erzeugt, was verursacht dann das geplante Sortiersystem? Dazu kommt der Dampf von der ursprünglichen Hebetechnik und der Rauch aus den Yetihöhlen. Dafür müssen wir dringend eine Lösung finden.“
Die Arbeiter nickten ernst. Tili sah in die rußgeschwärzten, müden Gesichter ihrer kleinwüchsigen Kollegen. „Egal, wir haben heute gute Arbeit geleistet. Räumt auf, und dann könnt ihr nach Hause.“
Die Zwerge sahen überrascht auf und Tili lächelte.
„Es ist der Tag des Diamantdrachens. Geht zu euren Familien.“
„Danke, Tili!“, rief einer und die Arbeiter drängten sich noch dichter um ihre Bauleitung. Die wenigen Elfen unter den Bauarbeitern betrachteten das Gewusel kopfschüttelnd. Für sie war es selbstverständlich, dass an einem Drachentag nicht gearbeitet wurde – aber für die Zwerge hatte sich in den letzten drei Jahren eine Menge geändert, und sie hatten sich noch nicht an alles gewöhnt.
Tili schüttelte ein paar dankbare Hände, bevor sich die Kaverne unter dem Schloss endlich zu leeren begann. Die Arbeiter räumten ihre Werkzeuge auf, dann traten sie den Weg über eine schmale Treppe nach unten an. Nicht viel tiefer lag eine große Höhle der Yetis, wo auch die meisten Zwerge noch wohnten. Zwar war es ihnen inzwischen erlaubt, auch in der Stadt oben Häuser zu besitzen, doch die wenigstens nahmen das in Anspruch.
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Sago stand auf dem abgedunkelten Flur vor dem Esszimmer. Die Kronleuchter an der Decke klirrten leise, als ein Rumpeln durch das Schloss lief – das Zeichen, dass sich irgendwo ein Raumteil an seinen Platz schob. Wenig später hörte die schwarzhaarige Elfe Schritte unter der großen Treppe, ehe sich mit einem Quietschen die Klappe darunter öffnete.
„Na toll!“, begrüßte sie Tili. „Wie siehst du denn aus?“
Verdutzt sah Sagos Zwillingsschwester an sich herunter. „Was denn?“
Sago gestikulierte entgeistert zu Tilis ölverschmierter Schürze, den Rußflecken im Gesicht, den Spinnweben im Haar.
„Es ist doch heute nur die Familie da.“ Tili grinste verschmitzt. Dann sah sie sich um. „Wo ist …?“
„Zu spät, wie immer.“ Sago seufzte erneut. „Und sie wird noch schlimmer aussehen als du!“
Die älteste Schwester lachte. „Das muss sie von mir haben.“ Sie hakte sich bei Sago unter, die einen Kimono trug, jedoch kombiniert mit den Schulterpolstern ihrer Uniform und dem Waffengürtel mit ihrem Degen. Gegen ihren Widerstand zog Tili ihre Schwester unter dem bestickten Vorhang hindurch, der den Eingang zum Esszimmer abtrennte.
Die Diener beeilten sich, die Stoffe weiter beiseitezuziehen, als die Zwillinge eintraten. Dann huschte das Personal stumm in den Schatten der großen Säulen. Ein schattiger Gang umrahmte den Speisesaal, in dessen Mitte unter mit Kerzen bestückten Kronleuchtern eine lange, niedrige Tafel stand.
Sago blieb wie erstarrt stehen, als sie nicht nur die Kaiserin und ihren Sohn Chiaos erblickte, die auf goldbestickten Kissen am Kopfende saßen, sondern auch noch weitere Gäste. Zu ihrem Erstaunen saßen Pradiya und der Tiermensch Morimori zur Linken der Kaiserin. Sie mussten noch vor Sago gekommen sein – eine Seltenheit, obwohl auch Sagos Arbeit in der Stadtwache sie oft aufhielt und sie selten pünktlich war. Aber die jüngste Schwester kam meistens einige Stunden zu spät. Pradiya trug ein schlichtes, gelbes Kleid, das mit ihrem grünen Hautton harmonierte – und nicht, wie Sago gefürchtet hatte, eine blutverschmierte Schürze aus dem Spital.
Am Ende der langen Tafel saß Gorr. Der gewaltige, weißbepelzte Yeti war kaum zu übersehen und überragte die drei Zwerge auf der rechten Seite des Tisches um das Dreifache. Die Zwerge kannte Sago nur flüchtig, doch es mussten die Oberhäupter der drei reichsten Familien der Stadt sein: Steinhäuser, Stahlfinger und Ziegelgießer. Auf Pradiyas Seite saß auch die Zwergin Ajani Saphirauge, die damals mit zur Rebellion gehört hatte. Neben ihr hatte sich Cizikuni-Tage Tzacorii niedergelassen – ein Elf mit blasser Haut und rubinrotem Haar, der Anführer der Wache.
Angesichts dieses Aufgebots schämte sich Sago für den Auftritt ihrer Schwester. Am liebsten wäre sie im Boden versunken. Allerdings war sie damit offenbar ziemlich allein. Tili marschierte unbeirrt weiter, ihre Zwillingsschwester mit sich ziehend, und die Gesellschaft nickte ihnen zu, ehe sich die Anwesenden wieder ihren Gesprächen zuwandten.
Chiaos lächelte den Schwestern zu, als sie die beiden Plätze rechts neben dem Kopfende einnahmen. Der Kaiserssohn trug ein dunkelgrünes Gewand, dessen Gürtel mit Abbildungen von Kois bestickt war. Der Bernstein, der an einer Kette um seinen Hals hing, harmonierte nicht völlig mit dem dunklen Farbton, doch Chiaos war selten ohne seine liebste Kette anzutreffen.
Chousokabe-Xin Zakanono hob ihren Löffel und stieß damit gegen ihr Glas. Sofort kehrte Stille ein, als die Kaiserin von Akijama sich erhob. „Da wir nun vollzählig sind, sollte ich wohl erklären, warum ich euch alle so spontan am Tag des Diamantdrachens hergerufen habe.“
Sago atmete leise auf. Sie hatte nicht etwa einen offiziellen Anlass vergessen, sondern schlichtweg nichts von den Gästen wissen können! Das war eine erhebliche Erleichterung.
„Soweit es uns möglich ist, möchte ich, dass ihr das heutige Essen nicht als Pflicht anseht“, fuhr die Tante der drei Zyanya-Schwestern fort. „Wenngleich ich weiß, dass ihr womöglich andere Pläne hattet und die Fragen der Politik stehen unweigerlich im Raum. Genau deswegen habe ich euch versammelt – wir müssen die aktuellen Krisen überwinden, und den Weg dazu sehe ich in der Zusammenarbeit mit allen. Yetis“, sie nickte Gorr zu, „Zwergen“, ein Nicken zur rechten Tischhälfte, „und Elfen“, sie sah zu Cizikuni. Scheinbar galt der oberste Wächter als Vertreter der Langlebigen in dieser Runde. Zu Recht – er wurde vom Volk geschätzt.
Morimori schwieg dazu, dass weder Tiermenschen noch Menschen eine Erwähnung fanden. Doch Sago beobachtete, wie Pradiya ihn sacht an der Schulter berührte.
Kaiserin Xin gab ihren Dienern einen Wink und das Essen wurde aufgetragen: Wie es am Tag des Diamanten üblich war, gab es weißen Reis mit gedünstetem Karpfen in einer Soße aus Minze und Kohl. Schweigend griffen die Versammelten nach dem Besteck.
Die Kaiserin setzte sich. „Bitte, esst.“
„Verzeiht, Tante“, meldete sich Pradiya schüchtern. „Von welchen Krisen genau sprechen wir?“
Chousokabe sah die jüngste Schwester mit einem leisen Lächeln an. „Nun, das einfache Volk hungert. Die Spannungen zwischen Zwergen und Elfen nehmen zu, es mangelt an Wohnungen, an Arbeitsplätzen, an Nahrungsmitteln und an Akzeptanz füreinander. Viele sind zudem unzufrieden mit der neuen Form von Monarchie, in der ich mehr als nur einige enge Berater wähle und Abstimmungen zu allen wichtigeren Fragen abhalte – aber in diesem Punkt werde ich nicht zum ursprünglichen Zustand zurückkehren.“ Die Faust der blassen Kaiserin ballte sich mit erschreckender Kraft – eines der vielen Zeichen, dass sie den Verrat ihrer ehemaligen Beraterin Xpiakane noch lange nicht überwunden hatte.
Und so lange würde die Magierin auch im Kerker schmoren.
„Dann gibt es noch Dhubaayana, das verständlicherweise noch zornig ist über frühere Kriegshandlungen. Wir werden weiter Abgaben zahlen müssen, doch im Moment käme ein Krieg einfach ungelegen. Ich will meine Untertanen vereinen. Nicht zuletzt müssen auch die Sorgen der Elfen erhört werden. Die Zwerge und Yetis verdienen Gerechtigkeit, doch viele meines Volkes fürchten nun um die alten Werte, die dem Neuen weichen. Unruhestifter wiegeln die Leute auf. Habe ich etwas vergessen, Chiaos?“
„Die Steuer, Mutter.“
„Oh, genau.“ Chousokabe-Xin sah zu den drei Vertretern der Zwerge. „Einige unserer reichen Mitbürger sind unzufrieden wegen der Zahlungen, die sie zum Wiederaufbau unserer Stadt beitragen müssen.“
„Nicht direkt unzufrieden, Kaiserin“, setzte Yaxori Steinhäuser sofort an.
Xin schnitt ihm das Wort ab, indem sie eine schmale Hand hob. Wieder lächelte sie Pradiya an. „Du siehst, wir haben viel vor uns. Doch das kann sicher bis nach dem Essen warten.“
Pradiya nickte. „In der Tat – das sind Fragen, die man mit vollem Magen angehen sollte. Offenbar gehen wir heute einfach alles an!“
Sago musste selbst schlucken, bevor sie auch nur daran denken konnte, ein Stück Karpfen herunterzubekommen. Als Mitglied der Wache ahnte sie natürlich mehr von den Konflikten, die sich in den drei Jahren seit dem Marsch der Yetis angestaut hatte, aber die Aufzählung hatte auch ihr vor Augen geführt, wie unsicher und turbulent die Zeiten wirklich waren.
Sie nahm einen Bissen Fisch und tauschte einen verstohlenen Blick mit Pradiya ihr gegenüber. Das versprach, eine lange Ratssitzung zu werden.
Und mit einiger Wahrscheinlichkeit würden sie selbst jetzt, da alle Betroffenen an einem Tisch saßen, nicht im Entferntesten zu einem Ergebnis kommen. Der Krieg mit Dhubaayana hatte beendet werden müssen, die Abgaben waren der Preis dafür. Alles Geld, was noch geblieben war, musste in Entschädigungen an die Zwerge und Yetis fließen. Das war nur gerecht. Doch damit wurde aus Akijama, der ehemaligen Hochburg der Elfen, eine von Hilfesuchenden überflutete Stadt. Zwerge und Elfen, plötzlich gleichberechtigt, stritten sich um Arbeitsplätze, Wohnraum, Lebensmittel … Inzwischen waren die Vorratskammern der Kaiserin nahezu leer, und Akijama steuerte auf eine Katastrophe zu.
Irgendwie würden sie herausfinden müssen, wie man dies verhinderte. Sago bat den diamantenen Herrscher der Kristalldrachen stumm um eine Lösung.