"Hättest du Lust auf einen Spaziergang?", fragte Nathan mich, als wir wieder zurück zuhause waren. "Klaro immer", sagte ich.
Er grinste. Normalerweise stellte er nur Fragen, die ich mit ja beantworten sollte. Heute schien er wohl ziemlich gut drauf zu sein.
Also gingen wir spazieren. Das tückische am Winter war, dass es manchmal Eis geben konnte.
"Weißt du noch, so ähnliches rutschiges Wetter war auch bei dem Spaziergang, als ich wusste, dass ich dich liebe." "Und du hast noch ein halbes Jahr gebraucht, um es mir zu sagen?", fragte ich und musste etwas lachen. Ich schlitterte um die Kurve, aber Nathan hielt mich fest. "Ja. Als mir klar wurde, was du für mich bist, dachte ich, fuck, ich bin sowas von gefickt." Ich musst nun richtig schlimm lachen. So schlimm, dass ich kurz stehen bleiben musste. Er redete sonst nie so vulgär. "Jaja, du lachst", sagte Nathan und grinste. "Bei dem Spaziergang hast du zum ersten Mal meine Hand gehalten", erinnerte ich mich. "Und noch nie hat sich etwas richtiger angefühlt"; bestätigte er.
Wir hatten gemerkt, wie rutschig die Wege bei diesem frostigen Wetter sein konnten.
Aber dass wir einen Fahrradfahrer so schlittern sehen würden, hatten wir nicht erwartet. Auch nicht, dass er dann genau vor uns ausrutschte und sich nicht mehr fing.
Nathan schubste mich zur Seite, bevor das E-Bike auf ihn krachte. Mit Schwung.
Ich erschrak und machte einen schrille Laut des Schreckens. Beide lagen auf dem Boden. Der Fahrradfahrer bewegte sich nicht mehr und Nathan krümmte sich vor Schmerzen. Schnell, aber vorsichtig stürzte ich zu Nathan. "Nath?", fragte ich. Sein Gesicht war kreidebleich. Ich war früher Schulsanitäter gewesen. Er hockte in einer abnormalen Stellung auf dem Boden, kreidebleich und sah mit wässrigen Augen zu mir. Er musste schreckliche Schmerzen haben. Aber wo? "Bleib so wie du bist!", befahl ich ihm. "Ich sehe nach dem Radfahrer und rufe den Rettungswagen!" Es war schrecklich schwer für mich, aufzustehen und paar Meter zur Seite zu gehen, gleichzeitig zog ich mein Handy heraus und wählte 112, während ich dann neben dem Verletzten in die Hocke ging. Ich zog meine Handschuhe aus, das Handy zwischen Wange und Schulter geklemmt. Zum Glück hatte er einen Helm angehabt. In dem Moment meldete sich der Rettungsdient. "Hallo, hier spricht Lilly. Es gab einen Unfall. Mein Freund und ein Radfahrer sind verletzt. Ich bin in der" ich sah hoch. "Im Apfelweg", las ich das Schild ab. "Sind Sie auch verletzt?", fragte der Mann von der Leitstelle. "Nein. Mir gehts gut.", sagte ich. "Welche Verletzungen liegen denn vor?", fragte er weiter. "Mein Freund hat starke Schmerzen. Ich glaube in den Beinen und vielleicht an der Schulter? Und der andere Mann ist bewusstlos."
Er sicherte mir zu, Rettungskräfte zu schicken.
Der Radfahrer hatte einen Puls und kam auch zu sich, bevor der Rettungsdienst eintraf. "Hören Sie", sagte ich zu ihm. "Hilfe ist auf dem Weg. Versprochen. Bleiben Sie ruhig liegen und bewegen Sie sich nicht."
Ich zog meine Jacke aus, obwohl es kalt war und legte sie über ihn. Er redete nicht und lag auf dem Eis. Bestimmt fror er.
Dann kehrte ich zu Nathan zurück. Er fror auch. Ich hätte ihm die Jacke geben sollen. Aber in dem Moment kam jemand aus dem Haus, welches direkt neben uns war. Die ältere Dame schrie rum, aber dann brachte sie Decken.
Es dauerte zum Glück nicht lange und zwei Rettungswagen plus ein Notarztwagen bogen in den Apfelweg ein. Und ich hielt Nathans Hand und streichelte beruhigend seinen Nacken, während er mit schmerzverzehrtem Gesichtsausdruck an meiner Brust lehnte. Die Nachbarin hatte sich zum Glück um den anderen Verletzten gekümmert.
"Junge Dame, wollen Sie mitfahren?", fragte mich der Rettungssanitäter, der gerade die Trage aus dem Rettungswagen holte. Nathan hatte die Schmerzen in seinen Beinen mittlerweile kommuniziert und eins der Beine stand auch komisch ab. Aber das andere tat ihm ebenfalls weh. Und sein Rücken.
Die Sanis hievten ihn auf die Trage und ich stieg vorne ein.
Der andere wurde noch mit einer Zervikalstütze stabilisiert und lag noch immer auf dem Boden, als sich unser Rettungswagen auf den Weg Richtung Krankenhaus machte.
Im Untersuchungsraum hielt ich seine Hand.
Erst als er weg zu den bildgebenden Verfahren gebracht wurde, musste ich alleine warten.
Das Adrenalin ließ auf einmal nach und stürzte in den Keller.
Ich saß da und begann zu zittern.
Meinem allergrößten Schatz war etwas schlimmes passiert.
Bei dem Gedanken an seine Schmerzen und seine Hilflosigkeit da auf dem Boden musste ich weinen. Ich saß da und schluchzte. Ich konnte keine Rücksicht auf die anderen wartenden Angehörigen nehmen. Ich war übermannt von Überforderung und meinen eigenen Gefühlen.
Der Schock ließ nach und mein Autopilot war abgeschaltet.
Und jetzt musste ich damit klarkommen.
Es dauerte etwas bis ich wieder zu Nathan durfte. "Wir bringen ihn gleich in den OP", sagte die Ärztin zu mir. Sie war groß und schön und sah aus wie aus einer Serie. Unfair.
"Beide Beine sind gebrochen und die Schulter war ausgerenkt, die haben wir aber wieder in Ordnung gebracht. Aber wir müssen sein linkes Bein sofort operieren, damit ein Nervenschaden verhindert werden kann. Das Bruch ist verschoben. Und sein rechts Bein müssen wir auch operieren, damit die Knochen wieder anständig zusammenwachsen können."
Ich nickte.
Vielleicht etwas zu oft hintereinander. Nathan hatte bereits eine Maske auf und war offensichtlich bedudelt von den Schmerzmitteln, denn er reagierte wenn überhaupt verzögert.
"Wie lange dauert es?", fragte ich. Meine Stimme klang dünn.
"Bestimmt einige Stunden. Fahren Sie ruhig heim und holen Sie ihm ruhig schon ein paar Sachen. Er ist bestimmt noch einige Tage, wenn nicht Wochen, hier."
Ich nickte wieder.
Ich war sprachlos.
Ich bedankte mich noch und küsste Nathan ein letztes Mal. Er sah so viel jünger und verletzlich aus.
Er lächelte und murmelte: "Ich liebe dich Lil", bevor sie ihn wegschoben und ich mit wackeligen Knien das Krankenhaus verließ.
Die Bushaltestelle war zum Glück quasi direkt vor der Tür.
Ich war so wackelig auf den Beinen, dass ich mich wieder erstmal setzen musste und deswegen nicht in den nächsten, sondern in den übernächsten Bus einsteigen konnte.
Mein armes Baby.
Ich holte ihm sein Ladekabel, ein bisschen was zum Anziehen und Kopfhörer.
Er wachte am gleichen Tag auf. Zum Glück.
Die Ärztin hatte mir erzählt, dass besonders sein linkes Bein auch an den Nerven beschädigt worden war und er deswegen in die Reha müsste. Aber sein Gesicht sah auch etwas lädiert vom Sturz aus. Seine Hand war verbunden, weil er da eine kleine Schürfwunde hatte. Hätte er mal Handschuhe getragen.
Ich blieb bei ihm, bis mich die Schwester rausschmiss, weil es zu spät war. "Ruf bei der Arbeit an und entschuldige mich!", trug mir Nathan auf. "Mache ich", versprach ich. "Gib mir mein Handy. Ich möchte jetzt zum Einschlafen das Hörbuch hören, was du mir geschrieben und aufgenommen hast", bat er mich. Ich gab es ihm natürlich. Dann wurde die Schwester so ungeduldig, dass ich ihrer Bitte endlich folgte und alleine nach Hause ging.