Es war kurz vor Mitternacht, an einem Dienstag im Oktober 1764. Elisabeth lag wach in ihrem Bett. Eigentlich hätte sie längst schlafen sollen, der Tag war lang und voller anstrengender Arbeit gewesen. Aber in dieser Nacht hatte sie etwas anderes vor als zu schlafen und neue Kraft für den nächsten Tag zu sammeln. Zärtlich streichelte sie ihren Bauch, in dem ihr Kind heranwuchs. Sie freute sich sehr auf das Kind, obwohl ihre Zukunft damit immer noch nicht geklärt war. Inzwischen war ihr Leibesumfang stark gewachsen, sodass sie bereits Mühe hatte, ihn vor neugierigen Augen zu verbergen.
Voller Liebe dachte sie an die wenigen Stunden, die sie mit Hans Schumann, dem Windmüller der nahen Mühle, zusammen sein konnte. Sie wusste, es war Sünde, sich von ihm lieben zu lassen. Der Müllermeister war ein verheirateter Mann und sie eine ehrbare Jungfer, die sich bisher nichts zuschulden hat kommen lassen. Elisabeths Vater war eine angesehene Person im Dorf, den jeder respektierte und auch gerne seinen Rat befolgte. Das würde sich ändern, wenn publik wurde, dass seine einzige Tochter unverheiratet schwanger geworden war. Doch das machte ihr nichts aus. Es war ein Kind der Liebe, das sie austrug. Warum also sollte sie sich schuldig fühlen? Aus Liebe ein Kind zu empfangen war für sie ebenso wenig eine Sünde, wie einen Mann zu lieben, mit dem sie nicht verheiratet war. Dass Hans ein etwas umtriebiger Mann war, der gerne hinter jedem verfügbaren Rock her war, störte sie nicht. Sie fühlte sich sogar geehrt, seine heimliche Geliebte sein zu können.
„Irgendwie wird es schon weitergehen“, dachte Elisabeth oft, wenn sie wieder einmal verzweifelt und kurz davor war, ihren Eltern die Sünde zu beichten. Bisher hatten diese noch nichts vom Umstand ihrer einzigen Tochter bemerkt. Sie litt zwar, wie fast alle Schwangeren, am Anfang unter heftiger Übelkeit, doch nicht einmal ihre Mutter erkannte die Nöte der Tochter. Sie ging jeden Morgen sehr zeitig aus dem Haus zum nahen Rittergut, wo sie als Magd in der Küche arbeitete, während Elisabeth sich um ihren Vater und dessen Wohlergehen, sowie um Haus und Garten kümmerte. Sie tat alles, sich dabei nichts anmerken zu lassen, obwohl ihr die schwereren Arbeiten in der letzten Zeit immer mehr Mühe machten.
Die junge Frau schwang die Beine aus dem Bett, ging zum Fenster und öffnete den Laden. Sofort kam ein Hauch kalter Luft herein und ließ sie frösteln. Trotzdem schaute Elisabeth hinaus. Verlassen lag der Garten unter ihr. Der Mond, der in ein paar Tagen voll sein würde, ließ ihn mystisch erscheinen. Die hart gefrorene Oberfläche der Schneedecke glitzerte wie tausende von Diamanten im Kerzenlicht. Ab und an versteckte sich der bleiche Geselle der Erdkugel hinter dicken Wolken, die wohl noch sehr viel mehr Schnee in sich trugen als der, der bereits vor Tagen vom Himmel gerieselt war. Die Nacht würde somit genug Schutz vor ungewolltem Entdecken bieten. Ansonsten läge der Garten in dessen vollem Licht und würde jede noch so kleine Bewegung erkennen lassen. Wie gut, dass sie ihren Liebsten zeitig genug benachrichtigen konnte, dass sie ihn unbedingt sehen musste. Es war längst an der Zeit, dass er sich zu ihr bekannte, ehe ihre Umstände nicht mehr zu verbergen waren. Elisabeth nahm ihr Kleid und zog es sich über. Ihr Haar verbarg sie unter einem einfachen Kopftuch. Am Haken neben der Tür hing ihr Umhang, den sie sich umlegte.
Vorsichtig öffnete Elisabeth ihre Kammertür und horchte in den Flur. Es war still und stockdunkel im Haus. Manchmal war das Schnarchen ihres Vaters zu hören, was Elisabeth ein wenig beruhigte. Zum Glück war es heute so. Schlief ihr Vater, konnte ihn nicht einmal ein Donnerschlag wecken.
Ehe Elisabeth die enge Stiege hinunter ging, machte sie noch einmal Halt an der Kammertür ihrer Eltern. „Hoffentlich bemerken Mutter und Vater nicht, dass ich mich heimlich hinausschleiche. Herrgott, bitte hilf“, bat das Mädchen inbrünstig um Beistand. Dann ging sie auf Strümpfen nach unten.
Vorsichtig schlüpfte sie durch die Hintertür in das kleine, angrenzende Gärtchen, in dem sonst allerlei Gemüse und Kräuter angebaut wurden. Jetzt bedeckte eine dünne, verharschte Schneedecke die gesamte Fläche. Nur ein schmaler Pfad führte durch den Garten hindurch zu einem angrenzenden Feld, an dessen Ende sich die Scheune befand, an der sie sich mit ihrem Liebsten treffen wollte. Sie schlüpfte in ihre klobigen Holzpantinen, die sie kaum vor der Kälte schützten. Jetzt war sie froh, die dicken Wollsocken angezogen zu haben. Das Knirschen des hart gefrorenen Schnees schien weithin laut zu hören sein, was Elisabeth dazu anhielt, sich vorsichtig umzuschauen, ob ihr heimlicher Ausflug bemerkt worden war.
Die nur wenige Zentimeter hohe Schneeschicht ließ sie fast trockenen Fußes am Treffpunkt ankommen. Aufatmend lehnte sie sich an die hölzerne Wand der Scheune.
Vorsichtig schaute sich Elisabeth um, doch von Hans war noch nichts zu sehen. Fröstelnd rieb sie ihre Hände an den Armen, um durch die Reibung wenigstens ein klein wenig Wärme zu erzeugen. Dies half leider nicht viel. So band sie ihr Tuch fester um ihren Kopf und hielt ihren einfachen, ungefütterten Umhang am Hals zusammen.
Als sie Schritte hörte, zog sie sich hinter die Ecke der Scheune zurück. Aber dann sah sie, wie Hans, der Windmüller, näherkam, stehenblieb und sich suchend umschaute. Erleichtert trat sie aus ihrem Versteck hervor.
„Endlich bist du da!“, rief Elisabeth erlöst aus. Schnell lief sie zu ihrem Liebsten und schmiegte sich in seine starken Arme. Doch anstatt sie zur Begrüßung zu küssen, versteifte sich sein Körper und er rückte von ihr ab. „Was ist los?“, fragte sie Hans verwirrt.
„So geht das nicht weiter. Meine Frau zweifelt bereits an meiner Treue. Sie muss etwas bemerkt haben“, entgegnete Hans und hielt sie dabei auf Abstand. „Wir müssen eine Entscheidung treffen.“
Verwirrt schaute Elisabeth ihren Liebsten an. „Wie meinst du das?“, wollte sie wissen. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, hier stimmte etwas nicht. Sie hatte sich so sehr darauf gefreut, ihn sehen zu können, und nun verhielt er sich so eigenartig und abweisend.
„Wir können uns nicht mehr treffen. Das mit uns muss unbedingt ein Ende haben“, erwiderte Hans mit einer Stimme, die Elisabeth Schauer über den Rücken rieseln ließ.
„Aber… das Kind. Wir wollten doch… weißt du das nicht mehr?“, sagte sie mit zitternden Lippen. Ihr Plan von einer gemeinsamen Zukunft schien sich auf einmal in Luft aufzulösen.
„Das Balg? Ist das eigentlich von mir? Wer weiß, mit wem du noch Unzucht getrieben hast. Gib es zu, du willst mir das Kind nur unterschieben! Ich bin doch nicht so dumm und lasse mir ein Kuckuckskind unterjubeln“, unterbrach Hans sie knurrig. Er wollte nur mit heiler Haut aus der Sache herauskommen. Immerhin war er ein angesehener Müllermeister, der bisher nach außen hin ein frommes und gottgefälliges Leben geführt hatte. Als Elisabeth ihn erneut umarmen und küssen wollte, stieß er sie wie angeekelt von sich weg.
„Aber Hans, welch unheimliche Gedanken schwirren durch deinen Kopf, natürlich ist das dein Kind! Ich liebe dich und würde dich niemals hintergehen. Denke doch daran, was wir für Pläne gemacht haben, wenn wir Zeit füreinander fanden. Ich stehe immer noch dazu und warte nur darauf, dass du mir sagst, wir können hier wegziehen. Mein Ränzlein steht gepackt an einem verborgenen Ort. Was denkst du, wie sehr ich mich darauf freue, nur wir zwei und das Kind.“ Elisabeth zog die Schultern hoch, Tränen standen ihr in den Augen.
„Ach was, das war doch nur öder Mummenschanz, den wir uns im Liebestaumel zusammen geträumt haben. Du glaubst wohl wahrlich an dieses dumme Geblödel. Ich fasse es nicht. Ich kann nicht mit dir hier weggehen. Die Mühle bindet mich an diesen Ort. Außerdem sind da noch meine Frau Christina und die beiden Mädchen.“ Er stieß die junge Frau erneut von sich, dass sie beinahe ausglitt und hinfiel.
„Das kann nicht sein…“, flüsterte Elisabeth immer wieder. Nach dieser Aussage kamen die Tränen ungebremst. Langsam wurde ihr bewusst, sie war einem eiskalten Betrüger aufgesessen. Sie schluchzte herzerweichend. Ihr Traum war geplatzt wie eine Seifenblase. Hätte sie nur auf den Tratsch gehört, den die alten Weiber im Dorf schon lange herumerzählten.
„Weib, hör auf endlich zu heulen. Das hilft dir auch nicht weiter und beschämt mich nicht im Geringsten. Du wirst noch jeden anderen Mann bekommen. Es gibt genügend Burschen, die hinter dir her sind. Du musst nur zugreifen!“, schnauzte Hans sie an. „Den Gottlob Krieg habe ich schon öfter um dich herumscharwenzeln sehen. Der nimmt dich ganz bestimmt, auch mit einem fremden Balg!“ Er hielt kurz inne, als wolle er sich an etwas erinnern. „Der Martin vom Rittergut ist auch hinter dir her. Ich habe es gesehen, beim letzten Maitanz hat er dich mit Blicken beinahe verschlungen.“
„Ich will aber keinen anderen“, erwiderte Elisabeth zornig. Sie musste sich zusammennehmen, um nicht laut zu schreien. „Ich will dich. Du hast es mir versprochen!“ Sie trat erneut auf ihn zu und schlug wie eine Furie auf ihn ein.
„Es geht nicht, das habe ich doch bereits gesagt“, widersprach Hans energisch, während er Elisabeths Hände festhielt und sie zwang, von ihm abzulassen. „Wir werden uns nicht wiedersehen. Es ist vorbei!“ Am liebsten hätte er sie noch ins Gesicht geschlagen, um sie zur Vernunft zu bringen. Doch er wollte sich nicht nachsagen lassen, er würde sich an Frauen vergehen. Es genügte schon, dass er als Schürzenjäger bezeichnet wurde.
„Nein, nein… das kann nicht sein“, schluchzte Elisabeth immer wieder. Ihre Beine gaben nach. Sie sank in den Schnee und blieb einfach liegen. Ihr Körper zitterte wie unter Fieber.
„Reiß dich gefälligst zusammen und lass dir ja nicht einfallen, mich als Vater deines Bastards anzugeben!“, befahl Hans dem Mädchen. „Gnade dir Gott, wenn du es doch tun solltest“, drohte er ihr noch. „Ich gehe jetzt. Du solltest auch nach Hause gehen. Eine Jungfer wie du sollte sich nachts nicht herumtreiben“, sagte er zum Abschied sarkastisch. Dann wandte sich Hans ab und verschwand im Dunkeln.
Elisabeth sah, wie die Gestalt des Davoneilenden in der Dunkelheit verschwand. Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen, wenn sie an Hans dachte und die vielen glücklichen Momente, die sie zusammen verbracht hatten. Sollte das nun alles vorbei sein? Einfach so, wie aus heiterem Himmel wandte sich ihr Liebster von ihr ab und verschmähte die Liebe, die sie ihm reinen Herzens geschenkt hatte. Der Schmerz saß tief, so tief, dass sie nur noch sterben wollte. Was sollte sie tun? Sie erkannte, sie befand sich in einer Zwickmühle und trug das Kind eines Ehebrechers unter dem Herzen.
Bisher galt sie immer als besonders fromm und züchtig. Nun war sie nichts weiter als eine Dirne, die sich jedem Dahergelaufenen an den Hals warf. Was war nur in sie gefahren, dem Werben des windigen Müllers nachzugeben? Der war in der Tat dafür bekannt, hinter jedem Rock her zu sein. Sie wollte es nur nicht wahrhaben. Das hatte sie nun davon. Doch die Einsicht kam viel zu spät. Jetzt saß sie bis zum Hals in der Patsche und kam nicht wieder heraus. Die Wehmutter würde ihr auch nicht mehr helfen können, nahm sie an. Dazu war ihre Schwangerschaft viel zu weit vorangeschritten. Bisher hatte sie sich noch niemanden offenbart. Auch wusste sie auch nicht, an wen konnte sie sich in ihrer Not wenden konnte? Sie musste aber eine Lösung finden, und zwar bald – ehe noch ein Unglück geschah.
Hilflos blieb Elisabeth zusammengesunken am Boden liegen. Sie hatte keine Kraft mehr, sich zu erheben und endlich nach Hause zu gehen. Dort wäre sie auch nur auf sich allein gestellt. Niemand würde ihr in ihrer Situation helfen, wenn bekannt wurde, was sie getan hatte. Alle im Dorf würden sie meiden, mit dem Finger auf sie zeigen und sich die Mäuler zerreißen. Dabei wollte sie nur ein wenig Liebe und jemanden, der sie liebte, so wie ihre Eltern sich liebten.
Eiseskälte und Nässe durchdrang erst Elisabeths Kleidung, dann ihren Körper. Sehnsüchtig wollte sie der sich entfernenden Gestalt ihres Geliebten nachschauen, doch die war bereits in der Dunkelheit verschwunden. Vor Liebesschmerz krampfte sich Elisabeths Herz schmerzhaft zusammen. Sie wollte laut schreien, aber das hätte an der Situation auch nichts geändert. Hans wollte sie nicht mehr und warf sie weg wie einen alten, dreckigen Lumpen. Dabei war er der Lump.
„Soll es das nun gewesen sein?“, hätte sie Hans am liebsten hinterhergerufen. Doch als hätte sie einen Knebel im Mund, kam ihr nur ein heiseres Krächzen über die Lippen. Sie gab es auf, an eine Zukunft mit Hans zu denken. Besser wäre es, ihn einfach zu vergessen. Aber nicht mit dem Kind, das sie nun austrug. Dieses würde sie Zeit ihres Lebens an die begangene Sünde erinnern.
Mühsam quälte sie sich auf die Beine. Der Rock ihres Kleides klebte nass an ihren Schenkeln, als wäre sie eben aus den Fluten des nahen Dorfteiches gestiegen. Wollte sie sich nicht den Tod holen, musste sie schleunigst ins Trockene. Dabei wäre der Tod ein Ausweg für sie, wollte sie nicht am Pranger landen und als Ehebrecherin gebrandmarkt verbannt werden. Oder wäre es doch besser, dieses Kind heimlich zur Welt zu bringen und dann zu töten? Elisabeth haderte mit sich selbst. Sollte sie bei ihrer Untat ertappt werden, wäre sie garantiert des Todes. Ersäuft würde sie werden, wenn der Henker sich nicht ihrer erbarmte und sie zur Frau nahm. Kein schöner Tod, aber eine Henkersfrau wollte sie auch nicht werden. Nein, da musste eine andere Lösung her.
Vorsichtig, immer einen Fuß vor den anderen setzend, torkelte Elisabeth mehr als sie ging, dem Haus ihres Vaters entgegen. Der Hund des Nachbarn schlug an, was Elisabeths Herz erschrocken schneller schlagen ließ. „Mistvieh, nicht einmal nachts gibt es Ruhe“, schimpfte das Mädchen leise vor sich hin und ballte ihre Hand zur Faust, als könne sie den Hund damit zur Ruhe zwingen.
Am Gartenzaun machte sie Halt. Aufmerksam lauschte sie. Doch sie vernahm nur den Hund des Nachbarn, der auf dem Grundstück herumschlich und leise knurrte. Heute waren nicht einmal die Ziegen ihrer Mutter zu hören. Sie schienen tief und fest zu schlafen, oder sie hatten es sich im Kabuff hinter der Küche bequem gemacht. Glück für Elisabeth, der die Tiere nicht nur einmal einen Strich durch die Rechnung gemacht hatten, wenn sie zu später Stunde heimlich das Haus verlassen wollte. Heute aber konnte sie offenbar unbemerkt zurück in ihre Kammer schleichen.
Elisabeth huschte den Flur entlang und die Treppe nach oben. Sie erstarrte schockiert, als sie aus Versehen auf die einzige Stufe, die knarrte, trat. Ein lautes, beinahe böses und mahnendes Quietschen durchdrang die Stille des Hauses. Vorsichtshalber verharrte Elisabeth an der Kammertür ihrer Eltern. Aber dort blieb es ruhig, abgesehen natürlich vom obligatorischen Schnarchen des Vaters. Die Eltern schliefen den Schlaf der Gerechten nach ihrem arbeitsreichen Tag. Dann schlüpfte sie in ihre Kammer und zog leise die Tür hinter sich zu.
Kaum hatte Elisabeth die Tür hinter sich geschlossen, sank sie kraftlos zu Boden. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die Tür und versuchte krampfhaft, die aufkommenden Tränen zu unterdrücken. Doch alles half nichts. Wie Sturzbäche flossen ihr die Tränen und tropften vom Kinn auf ihre Brust. Ein heiseres Schluchzen entfleuchte ihrer Kehle. Dann schüttelte sie ein Weinkrampf.
Immer wieder schalt sie sich als ein dummes Mädchen, das auf das Liebesgesäusel eines notorischen Schürzenjägers hereingefallen war. Das hatte sie nun davon. Jetzt trug sie das Balg eines Ehebrechers unter dem Herzen und war selbst nicht viel besser als der Erzeuger des Kindes. Willig hatte sie für ihn ihre Schenkel gespreizt und ihr kostbarstes Gut geopfert. Ihre Jungfräulichkeit war ein für alle Mal verloren und sie nicht besser als eine billige Metze im Hurenhaus von Altenburg. Sich in den Tod zu stürzen, als ewig mit dieser Schande leben zu müssen, ein uneheliches Kind zu haben, wäre wohl der einzige Ausweg, den sie einschlagen konnte. Sie würde bis an ihr Lebensende darunter leiden, genau wie das Kind, das gar nichts für die Schamlosigkeit seiner Mutter konnte. Ja, das wäre die perfekte Lösung! Von des schürzenjagenden Müllers höchster Stelle der Mühle würde sie sich stürzen. Er würde sie vor seinen Füßen liegen sehen, den von der Schwangerschaft geschwollenen Leib zerschellt durch den Fall in die Tiefe, ihren gebrochen Hals und ihre Gliedmaßen, genauso gebrochen wie ihr Herz. Hoch genug war die Mühle, um bei einem Fall aus deren Dachfenster vom Leben zum Tode befördert zu werden. Erinnert werden sollte der Müller Tag ein, Tag aus, die Schande vor Augen, die er ihr angetan hatte. Dafür würde sie gerne bis zum Sanktnimmerleinstag in der Hölle schmoren.
Elisabeth lachte schrill auf. Sie erschrak selbst vor dem grausigen Ton, der aus ihrer Kehle kam. „Aber erst“, dachte sie, „will ich dich in Sicherheit wiegen. Du sollst denken, ich lasse es gut sein. Aber dann…! Warte nur, die Rache folgt bald!“ Sie lachte erneut, obwohl ihr die Scham über ihr frevlerisches Denken ins Gesicht geschrieben war.
„Elisabeth, Liebes, was ist mit dir?“ Das Mädchen erschrak sich fast zu Tode, als es die besorgt klingende Stimme ihrer Mutter im Flur hörte. „Ich habe dich schreien gehört. Ist dir nicht wohl?“, fragte Franziska.
„Mutter, ich habe nur geträumt. Es ist alles in Ordnung. Mach dir keine Sorgen“, antwortete Elisabeth, während sie aufstand und sich dabei ihren Umhang vom Leibe riss, den sie am Haken neben der Tür aufhängte. Danach zog sie hastig das Kleid über den Kopf und warf es achtlos in die Ecke hinter ihrem Bett. Auf keinen Fall durfte es ihre Mutter sehen. Sie blickte an sich herab. Ihr Unterkleid spannte sich verdächtig über ihren sich rundenden Leib. Was sollte sie nur tun, wenn die Mutter jetzt in die Kammer käme?
Jetzt klopfte ihre Mutter auch noch an die Tür und begehrte um Einlass. „Bist du dir sicher, dass du keine Hilfe brauchst?“, fragte sie erneut.
Schnell schlüpfte Elisabeth ins Bett und warf die dicke Wolldecke über sich. Gerade noch rechtzeitig, denn schon betrat Franziska mit einem brennenden Talglicht in der Hand die Kammer.
Elisabeth tat verschlafen und gähnte herzhaft. „Mutter, du musst dir wirklich keine Sorgen machen. Ich habe nur geträumt“, versuchte sie, die aufgeregte Frau zu beruhigen, die näher trat, um sich über das Wohlergehen der Tochter zu überzeugen.
„Weib! Was ist das für ein Lärm mitten in der Nacht!“, tönte die laute Stimme des Vaters durchs Haus. Auch Georg, Elisabeths Vater war bei dem Trubel erwacht und war nun mehr als grimmig über die Störung seiner wohlverdienten Nachtruhe.
„Die Elisabeth, sie hat geschrien. Geh bitte schauen, ob nicht doch ein böser Bube eingestiegen ist, um sie zu bedrohen oder ihr die Ehre zu rauben.“ Franziskas Stimme nahm einen weinerlichen Ton an. Ängstlich sah sie ihren Ehemann an.
„Geh beiseite“, knurrte Georg und nahm ihr das Licht aus der Hand. Er zwängte sich an seiner Frau vorbei in die kleine Kammer. Dann leuchtete er jede Ecke aus. Mit bangem Herzen beobachtete ihn Elisabeth dabei.
„Was haben wir denn da?“, stieß Georg auf einmal aus. Elisabeth machte sich klein und zog ihre Decke noch höher. Ihr schwante Schlimmes, als ihr Vater auch in die Ecke hinter ihrem Bett schaute. Mit spitzen Fingern nahm er das nasse Kleid und hielt es hoch. „Elisabeth, warum ist dein Kleid so nass? Als wir zu Bett gegangen sind, bist du trockenen Fußes in deine Kammer gegangen. Sag nicht, du hast mitten in der Nacht am Waschtrog gestanden!“ Georg schaute zornig auf seine Tochter herab. „Ich habe vorhin wohl doch richtig vernommen, dass du die Treppe hochgeschlichen bist. Ich hörte die Stufe knarren, nahm aber an, ich hätte dies nur geträumt. Das war wohl doch nicht so.“
„Tochter, sag die Wahrheit!“, mischte sich nun auch noch Franziska ein, die schon längst geahnt hatte, dass ihr Kind nachts heimlich das Haus verließ.
„Antworte, du Metze!“, schrie Georg auf einmal aufgebracht, nachdem ihm klar geworden war, dass ihn seine Tochter an der Nase herumführen wollte. Er griff nach Elisabeths Arm und zog sie aus dem Bett.
Krampfhaft versuchte die junge Frau, mithilfe der Decke ihren Leib vor den Blicken ihrer Eltern zu schützen. Doch nichts half. Ihr Vater zerrte wutentbrannt an der Decke und riss sie weg. Nun stand Elisabeth auf bloßen Füßen und nur mit ihrem dünnen Unterkleid bekleidet mitten in der Kammer. Sie zitterte vor Angst am ganzen Körper.
Auf einmal herrschte gespenstige Stille. Nicht einmal das Atmen der drei Menschen war zu hören. Entsetzt starrten Georg und Franziska auf den sich rundenden Leib ihrer Tochter.
„Sag, dass das nicht wahr ist“, fand Franziska als Erste Worte über den Zustand ihres Kindes. Tränen liefen über ihr Gesicht. „Was für eine Schande. Warum tust du uns das an?“, stammelte sie immer wieder.
„Du Hure, du Metze“, schrie Georg auf einmal aufgebracht. Auch er hatte begriffen, dass seine Tochter ohne Ehemann schwanger war. „Welchem Hurenbock hast du beigelegen?“, brüllte er, dass Elisabeth die Ohren klingelten und sich ihre Mutter erschrocken in eine Ecke drückte. Georg holte aus und schlug seiner Tochter ins Gesicht. Dabei ging sie zu Boden, rollte sich zusammen und versuchte, ihre Leibesfrucht zu schützen. „Mit wem hast du gehurt?“, schrie Georg immer wieder. Dabei fuhr seine Hand pausenlos auf seine Tochter nieder. Schon spürte Elisabeth, wie ihr ein Auge zuschwoll und von ihrer Augenbraue aus Blut über das Gesicht lief. „Sag es endlich, Metze elendige!“, fauchte Georg und zerrte Elisabeth auf die Beine. Die schrie vom Schmerz überwältigt auf, als sich die Fingernägel des Vaters ins Fleisch ihres Oberarms bohrten.
„Hör auf damit! Du wirst sie noch totschlagen“, bettelte Elisabeths Mutter heulend und warf sich zwischen Vater und Tochter.
„Willst du diese Hure vielleicht schützen?“, brüllte Georg wutentbrannt. „Wie es scheint, hattest du sogar Kenntnis vom heimlichen Techtelmechtel und der Hurerei?“
„Nein, nein, ich weiß von nichts. Das musst du mir glauben“, erwiderte Franziska jammernd und zog den Kopf ein.
„Hinaus mit dir! Geh in unsere Kammer und warte dort auf mich. Ich kriege schon noch raus, ob ihr beide unter einer Decke steckt!“, befahl Georg seiner Gattin. Dann drehte er sich erneut zu Elisabeth um und starrte sie böse an. „Mit dir bin ich noch nicht fertig“, knurrte er und stieß sie so hart von sich, dass sie erneut zu Boden fiel.
Beim Aufprall durchzog Elisabeth ein starker Schmerz im Handgelenk. Es knackte, als würde es brechen. Sie stöhnte auf und hielt sich das schmerzende Gelenk.
„Du darfst deine Kammer erst verlassen, wenn ich dir die Erlaubnis dazu gebe. Wage es nicht, meinen Befehl zu missachten“, sagte Georg noch drohend, ehe er sich umdrehte und hinausging. Er warf die Tür hinter sich zu. Gleich darauf hörte Elisabeth, wie der Riegel vorgeschoben wurde. Dann polterte Georg die Treppe hinunter und ging durch die Hintertür hinaus in den Garten.
Mühevoll erhob sich Elisabeth und hielt sich den Bauch. Sie spürte, wie sich das Kind aufgeregt bewegte und ihr gegen die Bauchdecke trat. Zärtlich streichelte die Frau darüber, als könne sie das Kind damit beruhigen.
Als sie ihren Vater unten herumfuhrwerken hörte, ging Elisabeth zum Fenster und schaute hinaus. Sie konnte im schwachen Mondlicht erkennen, wie er eine Leiter aus dem Schuppen holte und diese unter ihrem Kammerfenster am Giebel anlehnte.
Am Fenster nebenan erschien ihre Mutter. „Georg, was soll dieser Unsinn mitten in der Nacht? Die Nachbarn werden denken, du hast den Verstand verloren“, rief sie ihrem Gatten zu, der nun mit Hammer und Nägeln bewaffnet die Leiter erklomm.
„Denk nicht, dass ich diese Metze zu ihrem Liebhaber entkommen lasse. Die Nachbarn sind mir egal. Sollen sie doch denken, was sie wollen und sich die Mäuler über uns zerreißen. Bald werden sie das eh tun, wenn sie von der Schamlosigkeit unserer Tochter erfahren. Mit Fingern werden sie auf uns zeigen und über uns lachen“, antwortete Georg mit einem nicht enden wollenden Redeschwall. „Womöglich warnt sie ihren Buhlen noch, bevor ich ihn für sein Tun bestrafen lasse!“, dachte Georg noch, seine Gedanken über Elisabeths Schalten und Walten schweifen zu lassen.
„Aber du kennst doch seinen Namen nicht“, widersprach Franziska. „Ist Elisabeth nicht schon bestraft genug, dass sie nun dieses Bastardkind austragen und es unter Schmerzen zur Welt bringen muss?“
„Noch weiß ich nicht, wer Elisabeths Buhle ist, aber bald. Und wenn ich den Namen aus ihr herausprügeln muss“, antwortete Elisabeths Vater. „So wahr ich Georg Scheffler heiße! Ich schwöre es bei meinem Leben! Er entkommt seiner Strafe nicht.“ Georg blickte zum Fenster seiner Tochter, die sich sofort erschrocken ins Innere ihrer Kammer zurückzog. „Die Metze dort oben auch nicht“, drohte er noch, ehe er die Fensterläden ausbruchsicher zunagelte.
Verzweifelt lief Elisabeth in ihrer winzigen Kammer auf und ab. Eigentlich hatte sie angenommen, auch dieses Mal von ihrem heimlichen nächtlichen Ausflug zurückkehren zu können. Sie konnte nicht ahnen, dass Hans sich von ihr abwenden würde und sie deshalb so geschockt war, dass sie jede Vorsicht vergaß. Nun jedoch war es zu spät, sich deswegen Vorwürfe zu machen. Ihr Vater hatte sie ertappt und sie musste mit harten Konsequenzen rechnen. Wie diese sein würden, wusste sie noch nicht. Sie konnte sich aber vorstellen, dass diese sehr einschneidend sein werden und sich ihr Leben von jetzt auf gleich ändern würde.
Jetzt, wo sie sozusagen ins eiskalte Wasser geworfen wurde, war ihr so einiges klar geworden. Sich mit einem verheirateten Mann einzulassen, war nun einmal ein sehr gefährliches Spiel, das nicht gut ausgehen konnte. Nun saß sie in der Patsche und wusste nicht, wie sie dort wieder herauskommen sollte.
Am meisten fürchtete sich Elisabeth vor ihrem Vater. So aufgebracht wie in dieser Nacht hatte sie ihn noch nie erlebt. Plötzlich erfahren zu müssen, dass die einzige Tochter ein Kind bekam, ohne einen Ehemann vorweisen zu können, geschah nicht alle Tage. Wäre ihre Mutter nicht gewesen, hätte ihr Vater sie bestimmt totgeschlagen. Elisabeths Vater war sehr streng. Die Strafe, die sie erwartete, ließ ihr schon jetzt die Eiseskälte über den Rücken rieseln.
Die junge Frau ging zum Fenster. Am liebsten hätte sie die Läden aufgerissen. Sie brauchte frische Luft. Ihr kam es vor, als müsse sie jeden Augenblick ersticken. Leider ließen sich die Läden nicht mehr öffnen, diese waren fest verschlossen. Zu Recht gestand sie sich ein. Sonst wäre sie sofort aus dem Fenster gestiegen und hätte sich versteckt.
Ängstlich war Elisabeth noch nie gewesen. Doch dieses Mal hatte sie ein eigenartiges Gefühl in der Magengegend. So einfach würde sie aus dieser Misere nicht herauskommen. Es wäre wohl besser, den Namen des Vaters ihres Ungeborenen zu nennen. Sie wusste aber, Hans Schumann würde jede Schuld von sich weisen. Es wurde oft genug von der Kanzel gepredigt, die Frau wäre ein hinterhältiges Wesen, die betrügt und lügt. Ihr wollüstiger Leib würde den Mann zur Sünde verführen. Ob ihr Vater das auch glaubte? Elisabeth wusste es nicht.
Je weiter die Nacht voranschritt, desto unruhiger wurde Elisabeth. Als sie dann auch noch den Hahn krähen hörte, schlug ihr Herz noch aufgeregter. Sie ging zum wiederholten Male zum Fenster und versuchte durch die Ritzen des Ladens zu schauen. Dieses Mal konnte sie erkennen, die Sonne war eben dabei, aufzugehen.
In der Kammer nebenan wurde es unruhig. Ihre Mutter war aufgestanden und dabei, sich anzuziehen. Sie würde in wenigen Minuten aus dem Haus gehen, um ihre Arbeit auf dem nahen Rittergut zu beginnen. War die Mutter aus dem Haus, musste auch Elisabeth aufstehen und ihren Arbeitstag beginnen. Ihre Aufgabe war es, in der Küche das Feuer zu entfachen und das Morgenmahl für den Vater zu richten.
Nur dieses Mal war alles anders. Elisabeths Vater stand gleichzeitig mit seiner Gattin auf. Sie hörte ihn fluchen, dann klang es so, als würde auf etwas geschlagen werden. Gleich darauf vernahm Elisabeth, wie ihre Mutter weinte.
„Weib, hör gefälligst auf zu flennen! Deine Tränen bringen mich nicht dazu, unserer missratenen und schamlosen Tochter die Strafe zu erlassen. Sie bringt uns mit ihrem Tun in Verruf! Willst du mit dieser Schande leben?“, brüllte Georg seine Gattin an.
„Aber vielleicht kann sie gar nichts dafür“, erwiderte Franziska schluchzend. „Vielleicht hat der Kerl sie verführt oder sie sogar mit Gewalt zum Beischlaf gezwungen.“
„Wenn letzteres gewesen sein sollte, dann hätte sie den Kerl anzeigen müssen, und zwar gleich nach der Untat. Mit zerrissenen Kleidern und geschundenen Leib hätte sie unverzüglich Anklage erheben müssen“, knurrte Georg. Er schaute seine Frau ernst an. „Oder hat sie dir im Geheimen etwas anvertraut?“
Franziska schüttelte nur den Kopf.
„Siehst du!“, brauste Georg erneut auf. „Warum soll ich Elisabeth daher schützen? Sie ist nicht besser als jede heruntergekommene Metze. Womöglich hat sie sogar noch Geld dafür verlangt, um sich von diesem Kerl bespringen zu lassen.“
Elisabeth hörte, wie nebenan die Tür geöffnet wurde. Ihr Vater polterte die Treppe hinab. Dabei rief er nach seiner Frau. „Franziska! Beeile dich! Gehe zum Rittergut und melde mich und Elisabeth bei Herrn von Einsiedel an. Ich werde nachher mit Elisabeth nachkommen.“
Franziska sah sich gezwungen, ihrem Gatten zu gehorchen. „Können wir das nicht unter uns regeln?“, versuchte sie weinend, ihren Mann umzustimmen.
„Du tust, was ich dir befehle!“, herrschte der Böttcher seine Frau an. Elisabeth hörte es erneut klatschen und ihre Mutter noch lauter weinen. „Oder soll ich dir Beine machen?“, brüllte nun ihr Vater aufgebracht.
„Ich gehe ja schon. Mir bleibt nichts weiter übrig, als unsere Tochter ins Unglück zu stürzen“, erwiderte Elisabeths Mutter niedergeschlagen. Gleich darauf hörte Elisabeth, wie Franziska das Haus verließ.
„Was wird mich heute wohl erwarten?“, fragte sich Elisabeth ängstlich. Sie wusste, es würde nichts Gutes werden.