Die kleine Eva Maria wuchs und gedieh, obwohl die Windmüllers keine Amme für sie fanden, die den Säugling mit ihrer Milch nährte. So blieb den Müllers nichts anderes übrig, als die Kleine mit Ziegenmilch zu ernähren und als das Kind größer war, alsbald an feste Nahrung zu gewöhnen. Evchen war zäh, viel zäher als ihre Ziehmutter es vermutete.
Für die Schumanns war es eine Augenweide, das kleine Mädchen aufwachsen zu sehen und zu erziehen.
Obwohl Christina ihrem Gatten ob der Untreue noch sehr lange gram war, kehrte nach und nach die Liebe zurück ins Haus der Windmüllers. Im Mittelpunkt stand allerdings das kleine Evchen, das Christina sehr an Herz gewachsen war. Christina ging vollends auf in der ungewollten Mutterrolle. Sie liebte das Mädchen über alles. Nach einiger Zeit schien sie sogar vergessen zu haben, dass Evchen nicht ihr leibliches Kind war.
Obwohl die beiden Mädchen aus Schumanns erster Ehe längst das Erwachsenenalter erreicht und selbst Kinder hatten, ging der Müller in der neuen Vaterrolle auf. Es verging kein Tag, an dem er nicht mit seiner kleinen Tochter lachte, scherzte und spielte. Oft vergaß er darüber sogar seine Arbeit in der Mühle, die dann sein Schwiegersohn Johann ohne zu murren übernahm. Immerhin würde er, wenn der Vater seiner Frau eines Tages mal nicht mehr unter ihnen weilen sollte, der Erbe des Anwesens und der Mühle sein.
So wuchs Eva Maria wohlbehütet auf. Im Laufe der Jahre entwickelte sie sich zu einer hübschen jungen Frau, die ihrer leiblichen Mutter immer ähnlicher wurde. Nicht nur die Haarfarbe glich der ihrer Mutter, auch deren Augenfarbe und Statur hatte sie geerbt. Schumann fühlte sich sehr an Elisabeth erinnert, die er seit Eva Marias Geburt nie wieder gesehen hatte. Das Herz tat ihm weh, dass die Frau ihr Kind nie besucht hatte, geschweige denn, sich nach ihm erkundigte. Elisabeth war und blieb seit diesem Tage wie vom Erdboden verschluckt. Trotz intensiver Suche wurde sie nirgends gesehen. So unterließ es Hans nach einiger Zeit, weiter nach der Mutter seiner Tochter zu suchen. Auch deren Eltern hatten es aufgegeben, ihre Tochter zu suchen.
Eva Maria war ein kluges Köpfchen. Sie konnte lesen und schreiben, auch rechnen hatte sie gelernt und beherrschte dies recht gut. Oft saß sie am Abend in der Stube und las beim Schein einer Kerze ein Buch. Ihrem Vater gefiel dies nicht recht, doch verbieten wollte er es dem Kind auch nicht. Er dachte sich, lieber ein schlaues Kind als ein dummes. Daher nahm er es hin, dass Evchen gerade an langen Winterabenden die teuren Kerzen beim Lesen verschwendete.
Als Kind spielte Eva Maria oft mit ihren Nichten Maria Christina und Justina, den Töchtern ihrer älteren Stiefschwester. Die Mädchen waren fast gleich alt. Schon damals wurde Evchen gehänselt, dass sie niemanden in der Familie ähnelte, sozusagen aus der Art geschlagen war. Je älter sie wurde, desto mehr wurmten sie die Vorwürfe. Aber sie sah selbst auch, dass die Aussagen ihrer Spielgefährten der Wahrheit entsprachen.
Daher machte sich Eva Maria oft Gedanken über ihre Herkunft. Vor allen Dingen, wenn sie sonntags aus der Kirche kam und die Leute hinter ihrem Rücken tuscheln hörte. Nur die Schefflers waren nett zu ihr und luden sie ab und an zu sich ein. Sie fühlte sich wohl bei den beiden alten Leuten, die sie behandelten als gehöre sie zur Familie. Georg Scheffler hatte sich inzwischen an das Kind gewöhnt und war inzwischen der Meinung, es könne nichts für seine Herkunft.
Die junge Frau hörte des Öfteren „Bankert“, „Kuckuckskind“ oder „Hurenbalg“. Doch wenn sie sich umdrehte, um die Klatschweiber zur Rede zu stellen, wandten diese sich ab und verließen schnellen Fußes die Örtlichkeit. Auch der Pfarrer hüllte sich in Schweigen. Er wüsste von nichts, war jedes Mal seine Antwort auf Evchens Fragen. Die Schumanns wären ihre Eltern, mehr war aus ihm nicht herauszuholen.
Eines Tages wurde es Eva Maria zu viel. Am Morgen beim Kirchgang hörte sie wieder die alten Weiber über sie tratschen und mit den Fingern auf sie zeigen. Beim Abendessen wagte sie es, das Wort zu erheben.
„Vater, Mutter“, begann sie. „Seid ihr meine Eltern?“, fragte sie frei heraus.
Christina und Hans verschluckten sich vor Schreck und blickten sich an.
„Das musste irgendwann kommen“, sagte Christina, die immer noch bleich im Gesicht war. „Ich glaube, es ist an der Zeit, Eva Maria die Wahrheit zu sagen.“
„Nein!“, brauste Hans auf. „Das Thema ist für mich längst beendet. Ich möchte damit nicht mehr behelligt werden.“
„Hans!“, schimpfte Christina. „Das Kind muss die Wahrheit erfahren. Es geht nun kein Weg mehr daran vorbei!“
„Vater! Mutter! Was ist hier los?“ Eva Maria schaute verängstigt die Eltern an. „Ist an dem Getuschel der Leute was dran? Auch Maria Christina und Justina ließen schon vor langer Zeit Ähnliches verlauten. Doch dachte ich, es wäre nur Geplänkel.“
„Kind“, begann Christina und wehrte Hans ab, der ihr das Wort abschneiden wollte. „Lass, ich sag ihr es jetzt!“
Christina schaute Eva Maria über den Tisch hinweg an. „Wir sind schon deine Eltern, aber ich bin nicht deine leibliche Mutter.“
„Wie? Was?“, Eva Maria begann zu stottern. „Wie kann das sein?“ Sie blickte Christina an. „Aber du hast mich doch großgezogen, an deinem Busen genährt.“
Christina nickte zustimmend. Nur dass sie Eva Maria an ihrem Busen nährte, das verneinte sie. „Deine Mutter ist kurz nach deiner Geburt spurlos verschwunden und seither nicht auffindbar“, erklärte die Frau. „Sie hat dich hier vor unserem Tor ausgesetzt. Du warst nur wenige Stunden alt, als ich dich an einem kalten Tag laut greinend fand. Seitdem bist du bei uns.“
„Aber woher willst du dann wissen, dass du mein Vater bist“, wandte sich Eva Maria nun an Hans. Der wurde rot und wusste nicht, wie er sich erklären sollte.
„Sag es ihr schon“, forderte seine Gattin ihn auf.
„Nun ja“, Hans krächzte wie ein heiserer Rabe. „Ich hatte ein unerlaubtes Verhältnis mit deiner Mutter. Damals war ich schon lange mit Christina verheiratet und deine Mutter war noch unbemannt. Als sie mir die Schwangerschaft mit dir gestand, bekannte ich mich nicht zu meinem Fehltritt. Im Gegenteil. Ich jagte sie davon und beschimpfte sie als Dirne, die mit jedem dahergelaufenen Mann das Lager teilt. Sie wurde vom Herrn von Einsiedel sogar eingesperrt, weil sie sich weigerte, den Namen des Vaters zu nennen. Sie wollte mich wohl schützen, aus Liebe und ich habe sie zum Dank mit Füßen getreten. Auch als Elisabeth, so ist der Name deiner Mutter, hochschwanger und in den Wehen liegend in ihrer Not bei mir Zuflucht suchte, ließ ich mich nicht erweichen und scheuchte sie vom Hof wie einen räudigen Hund.“ Hans war sichtlich unwohl bei diesem Geständnis. Inbrünstig hoffte er, seine Tochter konnte ihm diese schändliche Tat verzeihen. „Erst viel später, als du größer warst, wurde mir bewusst, wie falsch mein Handeln war. Doch da war es bereits viel zu spät, weiter nach deiner Mutter zu fahnden.“
„Wo bin ich dann geboren, wenn nicht hier?“, fragte Eva Maria. Sie ging nicht auf das Verschwinden Elisabeths ein. Für sie war Christina die Mutter und nicht die unbekannte Frau, die sie geboren hatte.
„Wahrscheinlich im angrenzenden Wald“, erklärte Hans und zeigte durch das Fenster hindurch, von wo aus man ein nahes kleines Waldstück erkennen konnte. „Wir fanden ein paar Tage später in einer Kuhle Blutspuren, die auf eine Geburt hinwiesen. Rundherum waren Fußspuren eines Menschen, sowie von Tieren und Reste einer Nachgeburt.“
Kopfschüttelnd schaute Eva Maria ihren Vater an, fragte dann aber einfach weiter. „Und die Eltern meiner Mutter? Wer sind sie? Sind sie noch am Leben? Wo wohnen sie? Kann ich sie kennenlernen?“ Fragen über Fragen prasselten auf die Eltern ein.
„Deine Großeltern sind die Schefflers aus Braunshain“, erklärte Hans erleichtert.
„Die Schefflers!“ Eva Maria sprang erstaunt auf und lief unruhig im Raum umher. „Daher waren sie immer so gut zu mir und luden mich oft zu sich ein.“
„Höchstwahrscheinlich“, sagte Christina. „Obwohl Georg, dein Großvater, sich anfangs sehr schwer tat mit dir. Aber im Laufe der Zeit konntest du ihn mit deinem Charme einnehmen und er fand sich damit ab, dass seine Enkeltochter das Kind einer Dirne ist.“
„Ich möchte nicht, dass du Elisabeth als Dirne bezeichnest“, brauste Hans auf. „Immerhin war es auch meine Schuld. Ich habe sie verführt. Sie war viel zu jung und ich habe das schamlos ausgenutzt.“
„Es tut mir leid“, erwiderte Christina und strich Hans über die Schulter. „Eva Marias Mutter ist natürlich keine Dirne. Das hat sie nicht verdient.“ Sie blickte zu dem Mädchen, dass immer noch recht bleich im Gesicht war.
„Und nun?“, wollte Hans wissen.
Eva Maria zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, Vater“, sagte sie daraufhin. „Und du hast nie wieder etwas von meiner Mutter gehört?“
„Nein, nie wieder“, entgegnete Hans.
„Eigentlich wollte ich vorhin aufbrausend hier weg. Aber Christina kann nichts dafür. Der Schuldige bist du!“, sagte Eva Maria. „Hättest du damals nur anders reagiert. Aber nun ist es zu spät…“
„Ja, leider“, meinte Christina traurig. „Aber ich habe Hans verziehen. Er war dir bis jetzt ein guter Vater… ich hoffe, du kannst ihm auch verzeihen.“
„Ich weiß es noch nicht“, erwiderte Eva Maria. „Vielleicht.“ Sie stand auf und nahm ihr Tuch vom Haken neben der Tür.
„Wo willst du jetzt noch hin? Es wird gleich dunkel“, fragte Christina.
„Zu den Schefflers, meinen Großeltern“, antwortete Eva Maria und verließ das Haus.