Christina wurde es schwindelig. Sie begann leicht zu torkeln. Beinahe hätte sie das Kind fallen gelassen. Beherzt griff Hans nach dem Säugling und verhinderte Schlimmeres.
Die Müllerin konnte es nicht fassen. Wie konnten Tilda und ihr Gatte nur so etwas tun? War ihnen das Kind egal? Wie sollte es nun weitergehen? Christina brauchte unbedingt eine Amme, um das Findelkind durchzubekommen. Es war noch zu klein und brauchte die Muttermilch. Obwohl… ihre Ziege hatte vor kurzem zwei kleine Zicklein geboren und hatte mehr Milch, als die Kleinen trinken konnten. Es würde zwar schwierig werden, aber es musste gehen, bis sie eine geeignete Amme gefunden hatte. Böse schaute sie dem Schmiedemeister und Tilda nach, die davongingen, als würde es sie ganz und gar nicht berühren.
Erneut schwankte Christina ein wenig. Hans sah in das blasse Gesicht seiner Frau. Sie tat ihm leid. Auch er verstand nicht, warum Gottlieb und Tilda so plötzlich einen Rückzieher machten. Doch ändern konnte auch er es nicht. Es war nicht seine Entscheidung.
„Nimm es nicht zu schwer. Wir werden eine Lösung finden“, versuchte Hans Christina zu trösten. „Wenn alle Stränge reißen, geben wir die Kleine ins Waisenhaus nach Altenburg. Die werden sich schon zu helfen wissen.“ Hans hoffte, das Kind so schnell wie möglich loszuwerden. Er war sich sicher, dass es Elisabeths und sein Kind war, das er in der Armen hielt. Die ganze Nacht hatte er überlegt und hatte dadurch kein Auge zubekommen. Das Kind musste Elisabeths Balg sein. Wollte sie ihn damit strafen, indem sie es ihm einfach vor die Tür legte und, ohne eine Spur zu hinterlassen, verschwand?
„Wie kannst du es wagen, so etwas Grausames zu sagen!“, fuhr Christina ihn aufgebracht an. Vor Aufregung bekam sie rote Wangen, ihr Puls raste. „Niemals! Niemals, verstehst du, werde ich die Kleine hergeben! Nur über meine Leiche!“ Sie riss Hans das Kind aus den Armen und presste es an ihre Brust. „Die Kleine hat schon genug mitmachen müssen in ihrem kurzen Leben. Die Mutter ist so gnadenlos und setzt sie einfach aus! Und der Vater? Diesem Haderlumpen ist es wahrscheinlich egal, was mit Mutter und Kind wird. Ich bin mir sicher, er würde Mutter und Kind einfach verhungern lassen.“ Christina redete sich in Rage. „Die Leute haben vielleicht sogar Recht, dass du der Vater des Kindes bist! Sag mir, wo ist sie, die junge Schefflerin? War sie nicht erst vor ein paar Tagen bei dir? Hochschwanger war sie, kurz vor der Niederkunft! Ich habe alles gesehen, wie sie dich auf Knien anbettelte! Danach war sie plötzlich verschwunden und niemand konnte sie finden. Ich überlege schon, ob du bei ihrem Verschwinden nicht die Hände im Spiel hattest und mir das Kind heimlich unterschieben willst. Plagt dich das schlechte Gewissen über dein skrupelloses Vorgehen und willst damit Abbitte leisten?“
Hans wollte Christina aufhalten. Die jedoch hatte sich in Rage geredet.
„Ja, da schaust du! Denk nicht, dass ich nichts weiß. Die Leute reden schon hinter unserem Rücken. Ein gottloser Schürzenjäger bist du! Mit der kleinen Schefflerin hattest du auch etwas. Schon letztes Jahr zum Maitanz. Ich habe euch gesehen, wie ihr euch heimlich davongeschlichen habt. Und danach war das Mädchen schwanger. Gib es zu! Das Kind war von dir!“
„Willst du dich hier vor aller Leute Augen mit mir streiten? Die Leute schauen schon“, zischte Hans seine Frau an und zog sie am Arm etwas weiter weg von der neugierigen, sensationslüsternen Menge.
„Streiten? Mit dir? Dass ich nicht lache“, fuhr Christina ihn an. „Ich will nur endlich die Wahrheit wissen. Ich bin es satt, mir ständig deine Lügen anhören zu müssen. Wie oft bist du erst spät in der Nacht oder sogar erst in den Morgenstunden nach Hause gekommen? Glaubst du, ich hätte das nicht bemerkt. Du hast vorgegeben, in der Gastwirtschaft gewesen zu sein, stattdessen aber hast du rumgehurt und deinen Schwanz in jedes Loch gesteckt, das du finden konntest. Elisabeth war garantiert nicht die Einzige, mit der du gesündigt hast.“
„Komm nach Hause, Frau!“, befahl Hans ihr barsch und ließ sie einfach stehen. Er schämte sich vor seiner Gattin und wusste sich nicht zu erklären. Er hätte es wissen müssen, es bringt nur böse Zungen, wenn er sich mit anderen Frauen einließ. Aber so war er nun mal, er konnte beim weiblichen Geschlecht nie nein sagen. Er fühlte sich von jedem Weiberrock angezogen und roch geile Frauen schon von weitem. Und nun hatte er den Ärger an der Backe – und ein ungewolltes Kind.
Empört schaute Christina ihrem Gatten nach. Wenn sie endlich die Wahrheit erfahren wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als Hans nach Hause zu folgen. Sie hörte noch, wie die Leute hinter ihrem Rücken tuschelten. Sogar einiges hämisches Gelächter war zu hören. Das jedoch verstummte, als sie sich abrupt umdrehte und den Zurückbleibenden böse Blicke zuwarf. „Da seht ihr Lästermäuler, wo Hurerei hinführt“, schrie sie den Leuten aufgebracht entgegen.
Hans war es ganz und gar nicht einerlei, seiner Gattin endlich reinen Wein einschenken zu müssen. Er wusste aber, wollte er weiterhin friedlich an ihrer Seite leben, musste er es tun. Er kannte Christina gut genug, um zu wissen, sie würde keine Ruhe geben, bis sie das kleinste Geheimnis gelüftet hatte. So lief er mit mürrisch verzogenem Gesicht neben ihr zurück zur Mühle. In seinem Kopf wirbelten die Gedanken umher, sie verwirrten sich, bis er fand, es herrschte in seinem Hirn ein wahres Chaos.
Christina hielt Evchen in ihren Armen. Das Kind brabbelte leise vor sich hin, bis es endlich einschlief. Zufrieden nuckelte es am Daumen. Der Anblick ließ Christina das Herz aufgehen, obwohl ihr bewusst war, das kommende Gespräch mit Hans würde für sie keinen guten Ausgang haben. Eins war ihr sicher, sie würde endlich Gewissheit haben.
Zu Hause angekommen, bettete Christina Evchen in die Wiege. Sie hoffte, die Kleine würde lang genug schlafen, damit sie mit Hans endlich reinen Tisch machen konnte. So konnte es nicht weitergehen.
Hans hatte sich inzwischen in die gute Stube begeben. Er hatte sich einen Becher aus dem Schrank genommen und goss sich einen Schnaps ein. Den brauchte er jetzt, um ein wenig ruhiger zu werden. Da kam auch schon Christina dazu und nahm ihm den Becher aus den Händen.
„Denk ja nicht, dass du dich besaufen kannst. Um das Gespräch kommst du jetzt nicht mehr herum. Also setze dich endlich hin und leg die Karten offen auf den Tisch. Und…“, sie schaute Hans ernst an. „…wage es ja nicht, etwas zu verheimlichen oder unter den Teppich zu kehren. Die Zeiten sind vorbei, dass ich mich von dir an der Nase herumführen lasse.“ Sie nahm auf der hölzernen Bank Platz, die am großen Tisch mehreren Leuten Sitzplätze bot. Hans setzte ich auf einen der Stühle.
„Nun erzähle endlich“, forderte Christina ihren Gatten auf, zu beginnen. „Lass dir nicht alles aus der Nase ziehen.“
Verlegen räusperte sich Hans. Nun war der Augenblick der Wahrheit gekommen. Er spürte, wie sein Puls zu rasen begann und fühlte sich wie ein kleiner Junge, der bei einem Diebstahl erwischt wurde und nun dafür bestraft wurde.
„Es wird dir nicht gefallen, was ich zu sagen habe“, begann er ausweichend.
„Das ist mir klar. Ich will es trotzdem wissen“, erwiderte Christina.
„Du hast Recht gehabt“, wagte Hans nun zu beginnen. „Die Elisabeth war seit letztem Maitanz meine Geliebte. Sie hat mir damals schöne Augen gemacht. Ich konnte ihr nicht widerstehen. Du weißt schon, die Waffen einer Frau.“ Hans grinste verlegen.
Christina räusperte sich. „Es war wohl eher umgekehrt. Du musstest ein junges Weib haben, das du stoßen konntest. Immerhin hast du nur ein altes Weib zu Hause.“ Christina war sich im Klaren, dass sie Hans mit ihrer Rede erzürnen könnte. Doch das war ihr egal, sie wollte endlich Gewissheit. „Und dann wurde das Mädchen schwanger…“, sprach sie weiter.
Hans nickte nur betreten.
„Wie ging es weiter?“, wollte Christina wissen.
„Ich erfuhr es erst später. Da war Elisabeth schon im sechsten Monat. Sie hatte Angst vor ihren Eltern, vor allem vor ihrem strengen Vater. Du kennst den Scheffler und weißt, wie cholerisch er manchmal ist.“
„Das haben wohl alle Männer so an sich“, widersprach Christina. „Aber weiche nicht ab.“
„Letzten Oktober trafen wir uns ein letztes Mal. Elisabeth bettelte mich an, ihr zu helfen. Aber ich wollte nicht und behauptete, das Kind wäre nicht von mir. Ich warf ihr vor, einen anderen Buhlen zu haben, der ihr das Balg aufgehalst hatte. Dabei war ich mir sehr sicher, Elisabeth war mir treu. Sie ist nicht die Frau, die sich mit jedem Kerl im Heu wälzt. Ich aber wies sie ab und beendete das Techtelmechtel mit ihr. Seitdem habe ich sie nur einmal wiedergesehen. Das war etwa einen Tag bevor du das Findelkind gefunden hast. Elisabeth stand kurz vor der Niederkunft. Ich konnte es sehen. Ich kannte die Anzeichen von meiner verstorbenen Frau.“ Hans füllte sich noch einen Schnaps in seinen Becher und leerte diesen mit einem Schluck. „Elisabeth bettelte erneut um Beistand. Aber ich schickte sie weg. Und am nächsten Tag lag das Kind vor unserem Tor.“
Verlegen blickte Hans seine Frau an. Er war froh, endlich reinen Tisch gemacht zu haben. Trotzdem hatte er Angst vor den Konsequenzen. Er kannte seine Christina gut genug. Ihn nur mit Missachtung zu strafen, war das Geringste. Sie hätte die Wahl, ihn hier in der Mühle allein zu lassen, oder weiterhin mit ihm zu leben. Das hieße, getrennte Betten und noch schlimmer für ihn, keine Liebe mehr. Letzteres wäre die schlimmere Strafe für ihn. Ohne die schöne Zweisamkeit mit seiner Christina war das Leben nur halb so schön.
„Wie soll es nun weitergehen?“, wagte er vorsichtig zu fragen.
„Du wirst dich natürlich um dein Kind kümmern“, antwortete Christina ohne Umschweife. „Ich bestehe darauf. Die Kleine kann nichts für deine Sünden und soll nicht darunter leiden. Du wirst sie offiziell annehmen und dich im Kirchenbuch als ihr Vater eintragen lassen. Auch Elisabeths Eltern wirst du reinen Wein einschenken. Sie werden sich bestimmt auch um das Kind kümmern wollen, jetzt, wo ihre Tochter verschwunden ist.“
„Was ist mit dir?“
„Mir ist Evchen bereits ans Herz gewachsen. Da wir keine eigenen Kinder mehr haben können, werde ich ihr eine gute Mutter sein und sie wie ein eigenes Kind aufziehen. Sie wird von mir alles bekommen, was sie zum Großwerden braucht, auch Mutterliebe. Irgendwann wird sie erfahren, dass ich nicht ihre leibliche Mutter bin und du wirst ihr erklären müssen, wie sie entstanden ist.“
„Ach, Christina. Du bist so ein herzensguter Mensch. Ich habe dich gar nicht verdient“, sagte Hans liebevoll zu seiner Frau. Er griff über den Tisch hinweg zu ihrer Hand und hielt diese fest. „Ich verspreche dir hoch und heilig, dir ab sofort ein getreuer Ehemann zu sein und dir nie wieder Zweifel an meiner Treue aufkommen zu lassen.“
„Die Zeit wird es zeigen, ob du die Wahrheit sprichst“, erwiderte Christina und entzog ihm ihre Hand. „Solange, bis ich wieder Vertrauen zu dir habe, wirst du in der Gesindestube nächtigen. Evchen kommt mit in unser Schlafzimmer. Verhalte dich, wie ich es von dir erwarte, ansonsten kann ich nicht dafür garantieren, bei dir zu bleiben. Wir haben uns vor dem Traualtar die Treue geschworen. Ich halte mich daran, das solltest du ab sofort auch.“
„Jetzt, wo du alles weißt, bin ich froh, dass du mir auf die Schliche gekommen bist“, sagte Hans. „Ich habe wohl gemerkt, dass die Leute bereits über mich redeten, wollte es nur nicht wahrhaben. Dass Evchen aus einem meiner Techtelmechtel entstanden ist, tut mir aufrichtig leid. Sie hat nun keine leibliche Mutter mehr, aber sie hat dich. Ich bin mir sicher, du wirst gut zu ihr sein. Ach, Christina… was soll nur werden?“ Hans zog die Nase hoch, sogar ein paar Tränen traten in seine Augen.
„Sieh Evchen als Prüfung an. Gott will wohl, dass du endlich ein ehrbarer Mann wirst und kein Schürzenjäger. Du weißt, ich habe dich gern geheiratet. Ich mag dich sehr, nein… falsch… ich liebe dich.“ Auch Christina traten die Tränen in die Augen. Verstohlen wischte sie diese weg und knetete ihre Schürze. Doch dann sie riss sich zusammen und ging zum nächsten Punkt über. „Wir müssen noch sehen, wie wir Evchen ernähren. Nachdem Tilda und ihr Gatte uns abgesagt haben, brauchen wir eine neue Amme. Nur weiß ich niemanden.“
„Bis wir jemanden gefunden haben, müssen wir wohl doch unsere Ziege melken. Ich denke, das wirst du bereits in Erwägung gezogen haben. Die Ziege hat genug Milch und ihre Zicklein sind fast groß genug, um Milch entbehren zu können. Die Ursel, die Hebamme aus Lumpzig weiß bestimmt einen Rat. Was hältst du davon, wenn du sie gleich heute Nachmittag besuchst?“ Hans lächelte. „Während du bei der Ursel bist, kann ich mich ja um die Kleine kümmern.“ Während Hans dies sagte, kam ein freudiges Leuchten in sein Gesicht.
„Nix da. Ich nehme Evchen mit und du kommst auch gleich mit. Die Ursel kann gleich schauen, ob bei Evchen alles in Ordnung ist. Danach gehen wir zu den Schefflers.“
Damit einverstanden war Hans keinesfalls. Doch er musste sich damit abfinden, schon bald Elisabeths Eltern Rede und Antwort stehen zu müssen. Wollte er Christina nicht verlieren, blieb ihm nichts anderes übrig.