In der Gemeinde sprach sich der Fund des Findelkindes durch die Müllerin schnell herum. Die Leute waren neugierig und sensationslüstern. So erschienen zur Taufe des Mädchens am nächsten Tag viel mehr Dorfbewohner als sonst. Die Menschen drängten sich in die kleine Kirche, in der es solch einen Ansturm schon lange nicht mehr gegeben hatte. Jeder wollte das Kind sehen.
Einige wollten Ähnlichkeiten mit in der Gegend lebenden Personen gesehen haben. Böse Lästermäuler behaupteten sogar, Herr von Einsiedel wäre der Vater des Kindes. Doch der Leumund des Rittergutbesitzers war zu gut, um ihm solch einen Frevel in die Schuhe zu schieben. Die Stellung, die er innehatte, erlaubte es ihm nicht, Heimlichkeiten mit anderen Frauen, außer mit seiner eigenen, zu haben. Außerdem achtete von Einsiedels Ehegespons sehr darauf, dass immer die Etikette bewahrt wurde und ihr Heinrich nicht vom rechten Weg abkam.
Neugierig wurde der Säugling von den Dorfbewohnern betrachtet, es wurde weiterhin gemunkelt und getuschelt. Hinter vorgehaltener Hand wagte es sogar jemand zu sagen, es wäre das Kind des Müllers – wobei dies nicht einmal gelogen war. Viele wussten von seinen heimlichen Eskapaden, aber niemand wagte es, dies laut auszusprechen. Einige behaupteten sogar, die plötzlich verschwundene und hochschwangere Elisabeth Scheffler wäre die Mutter, aber niemand hatte Beweise dafür. So blieb die Herkunft des Kindes weiterhin unbekannt.
Auch die Schefflers waren in die Kirche gekommen, um den neuen Erdenbürger zu begrüßen. Dass der Täufling ihr Enkelkind war, ahnten sie nicht. Voller Sehnsucht dachte Franziska an ihre Tochter, die demnächst ebenfalls niederkommen würde. Doch die Freude, Großmutter zu werden, war ihr durch Elisabeths Verschwinden genommen worden. Wie gerne hätte sie ihr Kind in die Arme geschlossen. Doch niemand wusste, wohin sie gegangen war oder ob sie überhaupt noch lebte.
Christina fühlte sich wohl inmitten der Dorfbewohner, die zwar hinter vorgehaltener Hand über sie tuschelten, sie aber trotzdem bewunderten, sich so uneigennützig um ein fremdes Kind zu kümmern. Die Müllerin war der Stolz über das kleine Töchterchen ins Gesicht geschrieben. Obwohl sie nicht die leibliche Mutter des Kindes war, freute sie sich über den unverhofften Familienzuwachs. Eva Maria lag entspannt in ihrem Arm und nuckelte zufrieden am Daumen. Noch kurz vor der Taufe war Tilda, die Frau des Schmiedes, gekommen und hatte die Kleine gestillt. Tilda sah dabei lächelnd auf das kleine Gesicht und freute sich, helfen zu können. Und trotzdem fühlte sie sich nicht wohl. Sie hatte der Freundin versprochen, das Findelkind als Amme zu betreuen. Doch ihr Gatte, der Schmied Gottlieb Krieg, hatte sich plötzlich anders entschieden und verbot ihr, das Kind weiterhin zu nähren.
So standen Tilda und ihr Gatte während der Taufe am Eingang der Kirche und beobachteten die Zeremonie. Tilda war traurig und Hans tat so, als würde ihn alles nichts angehen. „Ach, Gottlieb“, seufzte Tilda, „es ist so traurig, die Kleine einfach im Stich zu lassen. Kannst du deinem Herzen nicht einen kleinen Schubs geben?“ Sie schaute Gottlieb an, der mit versteinerter Miene neben ihr stand. „Sieh doch mal, die kleine Eva Maria kann doch nichts dafür, dass ihre Mutter sie in Stich gelassen hat. Wer weiß, was mit ihr geschehen wäre, wenn die Müllerin sie nicht gefunden hätte. Entweder wäre sie erfroren oder wilde Tiere hätten ihr den Garaus gemacht. Welch ein Glück, dass ihre gottverlassene Mutter sie gerade vor dem Tor der Mühle abgelegt hat und nicht irgendwo im Wald.“
„Nun halte mal den Mund“, fuhr der Schmiedemeister sein Eheweib an. „Wer weiß, wessen Balg du an deinem Busen nährst. Keiner weiß, woher das Kind auf einmal kam. Wahrscheinlich ist die Mutter irgendeine herumziehende Dirne, die froh ist, ihren ungewollten Balg los zu sein. Christina ist ein dummes Weib, sich auf so etwas einzulassen. Es wäre besser, das Kind käme ins Waisenhaus.“
„Willst du es dir nicht noch einmal überlegen. Das Kind kann doch nichts dafür“, versuchte Tilda ihren Gatten umzustimmen.
Gottlieb schüttelte erneut den Kopf. „Das ist mein letztes Wort. Christina muss sich eine andere Amme suchen. Ich brauche dich auf dem Hof und kann es mir nicht leisten, noch weitere Mägde einzustellen.“
Tilda erkannte, mit ihrem Gemahl war nicht weiter zu reden. Ihm zu widersprechen, würde ihr nur Schläge einhandeln. Sie kannte ihren Gottlieb gut genug, um seine Reaktionen vorhersehen zu können. „Aber du sagst es der Müllerin. Ich kann es nicht“, erwiderte Tilda traurig.
„Wenn es sein muss, dann werde ich das gleich nach der Taufe tun, obwohl mich dieser Weiberkram eigentlich nichts angeht“, entgegnete Gottlieb und ließ Tilda stehen, um mit einigen Leuten aus dem Dorf zu sprechen, die sich vor der Kirche versammelt hatten.
Die kleine Eva Maria war die Ruhe selbst. Ohne Geschrei ließ sie die Taufe über sich ergehen. Es schien, als würde sie den Trubel um sich herum sogar genießen.
Auch Christina war stolz auf die Kleine. Mit hoch erhobenem Kopf stand sie neben ihrem Hans am Taufbecken und beobachtete das Geschehen mit Argusaugen. Die beiden Paten, der Anspanner und Fuhrmann Friedhelm Leuthold und die Näherin Anna Schlitt, mühten sich gemeinsam um das Kind, damit es ihm gut ging.
Nach der Taufe übergab die Patin das Kind freudestrahlend der Ziehmutter. „Die Kleine ist ein Engel“, flüsterte Anna Christina ins Ohr. „Gott möge seine Hand über sie halten.“
Christina errötete über das Lob und freute sich, dass die Näherin sich so kurzfristig bereit erklärt hatte, als Taufpatin für das kleine Evchen zu agieren. Bei Friedhelm war es schon etwas schwieriger, ihn dazu zu bringen, Pate für das Mädchen zu sein. Friedhelm war eher zurückgezogen und sprach nur, wenn es unbedingt notwendig war. So auch heute. Er stand verdrossen neben Anna und verzog keine Miene.
„Ich hoffe, ich kann Evchen oft sehen“, sprach Anna weiter, ohne auf Friedhelm zu achten, der sich nun umdrehte und zu einer Gruppe Männer ging. „Ich will alles über sie wissen, wie sie sich entwickelt, na ja, halt eben alles.“ Anna war ganz aufgeregt über ihre neue Funktion. Obwohl sie bereits einige Zeit verheiratet war, gab es bisher noch keine Anzeichen für eine Schwangerschaft. „Wenn ich schon keine Kinder in die Welt setzen kann…“, jetzt wurde sie rot. „Ich weiß auch nicht, woran es liegt. Egbert ist bereits sehr zornig. Er wünscht sich so sehr einen Erben.“ Anna seufzte erneut, dann wandte sie sich wieder Evchen zu. Ihre Augen leuchteten vor Freude. „Mich wundert es sehr, dass du niemanden aus deiner Familie als Pate bestellt hast“, wandte sie sich an Christina.
„Weißt du“, entgegnete Christina, „meine beiden Stieftöchter und deren Ehemänner haben bereits mehrere Paten. Ich wagte es daher nicht, sie zu bitten, auch Evchens Patenschaft zu übernehmen.“ Christinas Augen sahen die Freundin traurig an. „Ich wünschte mir, es wäre besser bestellt um uns. Ich habe mein Bestes gegeben, Eva Maria und Christina eine gute Mutter zu sein. Doch leider…“, sie zuckte mit den Schultern, „seit die Mädchen verheiratet sind, sehen sie mich an, als wäre ich ihre Feindin. Dabei will ich doch nur Gutes für sie. Zum Glück sind Maria Christina und Justina noch zu klein, um die Zwistigkeiten zu verstehen.“
Da sich die Taufgesellschaft inzwischen aus der Kirche begeben hatte, traten nun auch Anna und Christina aus der Kirche. Einige Leute hatten kleine Grüppchen gebildet und standen schwatzend herum.
„Ich kann dich gut verstehen, dass du gerne eigene Kinder hättest“, sagte Christina zu Anna, während sie aus der Kirche traten. „Sei dir Evchen ein kleiner Trost, bis du hoffentlich selbst Kinder hast. Mein Hans und ich haben auch keine gemeinsamen Kinder. Wir wünschen uns sehr welche, aber…“ Christina senkte schamhaft den Kopf.
„Ihr habt aber bereits Kinder von euren verstorbenen Ehegatten und wisst, dass ihr fähig seid, zu zeugen“, erwiderte Anna.
„Na ja, aber trotzdem. Ein kleines Kindlein von meinem Hans wäre nicht schlecht. Vielleicht bin ich auch schon zu alt dafür… Meine unreinen Tage fallen immer öfter aus.“ Christina griff nach Annas Arm und sah sie mitleidig an. Dann besann sie sich, Mitleid würde Anna nicht helfen. Sie wusste, die Freundin musste von ihrem Ehemann schwanger werden, um weiterhin mit ihm glücklich sein zu können.
Anna seufzte. Zu gut wusste sie, wie schwer es manchmal war, auf einen gesegneten Leib zu warten. Sie betete darum, es bald zu sein.
Während sich Christina und Anna weiter unterhielten, traten Tilda und ihr Gatte zu den beiden Frauen. „Christina, wir müssen mit dir und Hans reden“, unterbrach Gottlieb die Frauen. „Mit dir allein und mit Hans.“
Anna verstand und verabschiedete sich. „Ich sage Hans, dass er herkommen soll“, sagte sie noch und ging weg. Wenig später erschien der Müllermeister.
„Um was geht es?“, fragte er.
Tilda wurde es immer mulmiger zumute. Aber es führte kein Weg daran vorbei. An Gottliebs Entscheidung war nicht mehr zu rütteln.
„Es ist eigentlich nichts Weltbewegendes, aber trotzdem wichtig“, begann der Schmiedemeister. „Es ist wegen Tildas Tätigkeit als Amme.“
Christina und Hans sahen ihn fragend an.
„Ich habe es mir anders überlegt“, sprach Gottlieb weiter. „Ich kann Tilda nicht mehrmals täglich zu euch schicken, damit sie der Kleinen die Brust geben kann. Sie tagsüber mit zu uns zu nehmen, ist auch keine Lösung. Tilda würde sich nur um die Kleine kümmern und alles andere vernachlässigen. So leid es mir auch tut, ihr müsst eine andere Amme finden.“
„Oh nein“, schluchzte Christina. „Ich habe es gewusst. Mir war gestern schon nicht richtig wohl, als wir euch um Hilfe baten. Warum habt ihr das nicht gleich gesagt.“ Sie wandte sich an Tilda: „Oder du heute Morgen, als du Evchen stilltest? Du hättest die Gelegenheit dazu gehabt. Stattdessen hast du getan, als wäre alles bester Ordnung! Verhält sich so eine Freundin?“ Christina schüttelte den Kopf. Dabei sah sie Tilda mit traurigen Augen an.
„Beruhige dich, Frau“, versuchte Hans seine Gattin zu beschwichtigen, die tränenüberströmt neben ihm stand. „Wir werden eine andere Lösung finden.“
„Es tut uns leid. Wir können nicht anders. Tilda ist zu wichtig für unseren Hof. Ich müsste eine weitere Magd einstellen, solange sie Eva Maria in ihrer Obhut hat. Wir können uns aber eine weitere Magd nicht leisten“, erklärte Gottlieb dem Müller.
„Sag jetzt nicht, das wusstest du gestern noch nicht, als wir bei euch waren“, fuhr Hans ihn zornig an.
„Mir war nicht bewusst, wie zeitaufwendig das Ganze ist“, versuchte Gottlieb sich herauszureden.
„Ihr hattet ein Kind, dem Tilda die Brust gab. Sag nicht, du wusstest nicht, wieviel Zeit deine Frau am Tag und auch nachts damit zubringen musste, den Säugling zu versorgen! Bei uns wäre sie tagsüber nur ein paar Mal.“ Hans wurde zornig. Er sah Tilda an, die hochrot dastand und nichts zu sagen wagte.
„Ich würde…“, begann Tilda zu stottern.
„Halte deinen Mund, Weib!“, fuhr Gottlieb sie an und griff nach ihrem Arm. „Wir haben nichts weiter zu sagen. Mein Entschluss steht fest. Tilda wird euer Bastardbalg nicht nähren!“ Mit hoch erhobenem Kopf entfernte er sich und ließ das Ehepaar stehen, dabei seine Frau am Arm hinter sich herziehend.