Am späten Nachmittag machten sich Christina und Hans auf den Weg in das nahe gelegene Braunshain, um mit Elisabeths Eltern über Elisabeth und das Findelkind zu reden. Christina war sich sicher, dass Hans der Vater des Kindes war. Sie war der Meinung, er müsse dafür einstehen.
Während Christina zügig voranging, trödelte Hans, als wäre es ihm unangenehm, sich den Schefflers zu stellen. „Du meinst wirklich, dass ich mitkommen soll“, nörgelte er wie ein unzufriedenes kleines Kind. Ihm war es nicht einerlei, den Schefflers seinen Fehltritt mit deren Tochter gestehen zu müssen.
„Die Suppe hast du dir selbst eingebrockt. Nun löffle sie auch wieder aus“, fuhr ihn sein Weib an. Sie trug das kleine Evchen fest an ihre Brust gepresst, so als würde sie den Säugling davor bewahren wollen, aus ihren Armen entrissen zu werden. „Nun komme endlich, bummle nicht“, ermahnte ihn Christina. „Je eher du es hinter dir hast, desto besser.“
Notgedrungen ergab sich der Windmüller seinem Schicksal. Hatte sich seine Frau einmal etwas in den Kopf gesetzt, gab es kein Entrinnen mehr. Wie ein Sünder folgte er seinem Weib.
Schon bald erreichten sie das Dorf. Christina wandte sich als Erstes dem Häuschen zu, das die Hebamme Ursel mit ihren Töchtern bewohnte.
Auf ihr Klopfen erschien Wiltrud, die Älteste der Hebamme, an der Tür. „Die Mutter wurde zu einer Geburt gerufen. Das kann dauern“, erklärte sie Christina. Wiltrud trat aus der Tür und sah Evchen an Christinas Busen geschmiegt, schlafen. Zärtlich strich sie über Evchens rosige Wangen. „Die arme Kleine“, klagte sie über das Schicksal des Kindes. „Welch ein Glück, dass du sie rechtzeitig gefunden hast. Sie hätte erfrieren können.“ Wiltrud seufzte. „In deiner Obhut wird sie sicher aufwachsen können. Ich bin mir gewiss, du wirst ihr eine gute Mutter sein und dein Hans ein guter Vater.“ Sie schaute zu Hans, der verlegen mit seiner Schuhspitze Kringel in den Straßendreck zeichnete.
„Ich bin froh, sie gefunden zu haben, obwohl es für uns möglicherweise eine Last werden könnte, noch ein so winziges Kind aufzunehmen und großzuziehen. Doch ich tue es gerne. Wer weiß, wie es der Kleinen im Waisenhaus ergehen würde“, erwiderte Christina lächelnd. „Hans und ich sind ja leider keine gemeinsamen Kinder vergönnt. Ich bin nun auch fast aus dem Alter heraus, noch eigene Kinder empfangen zu können. Daher wird die Kleine ein guter Ersatz sein, auch wenn wir in unserem Alter wohl besser die Enkelkinder hüten sollten.“ Christina schaute Wiltrud an, die den Blick nicht von dem Säugling abwenden konnte. „Wir müssen nun weiter. Sag bitte deiner Mutter, sie soll zu uns in die Mühle kommen, sobald sie Zeit dazu hat. Sie muss sich das Kind anschauen und es untersuchen, ob auch alles rechtens ist“, bat sie die Älteste der Hebamme.
„Natürlich, das tue ich gerne. Mutter wird bestimmt bald zu euch kommen“, antwortete Wiltrud.
Christina setzte mit ihrem Gatten den Weg zu den Schefflers fort. Hans trottete hinter ihr her wie ein Sünder. Das schlechte Gewissen stand ihm ins Gesicht geschrieben. Obwohl ihm Elisabeth zuletzt einerlei war, machte er sich nun Vorwürfe, sie in ihrem Zustand allein gelassen zu haben. Jetzt war sie spurlos verschwunden und hatte ihr Neugeborenes einfach zurückgelassen. Tief in seinem Inneren hoffte der Windmüller, das Findelkind wäre nicht Elisabeths und sein Sprössling. Doch wusste er, das war mehr als unmöglich. Bei ihren letzten Zusammentreffen stand die Tochter des Böttchers kurz vor der Niederkunft und wenig später lag das Kind vor seiner Tür. Einen Zusammenhang musste es geben. Dass gerade Christina das Kind finden musste und nun auch noch dem Gerede der Leute glaubte, wurmte ihn sehr. Zu sehr war er sich sicher gewesen, seine Seitensprünge vor seiner Frau verbergen zu können. Doch da hatte er die Rechnung ohne die Dorfbewohner gemacht. Diese hatten ihre Augen und Ohren überall. Nun war Hans nichts anderes übriggeblieben, als Christina seinen Seitensprung zu beichten.
Hans überlegte angestrengt, was hätte sein können, wäre er derjenige gewesen, der das Kind fand. Er hätte es verschwinden lassen können, ohne dass seine Christina je davon erfahren hätte. Dann hätte er dieses Problem von Anfang an aus Weg gehabt. Nur, konnte er vorher wissen, dass Elisabeth ihr Kind einfach vor seiner Tür absetzt und spurlos verschwindet? Doch nein! Hans verbot sich jedweden weiteren Gedanken an diesen Frevel, diese Untat, die ihn in jedem Fall bis an sein Lebensende verfolgt hätte. Er würde nie wieder ein Auge zu machen können, ohne an das Kind erinnert zu werden. Das kleine, unschuldige Wesen konnte nichts dafür, dass er solch ein herzloser Kerl war und seine Mutter in ihrer Not einfach in Stich ließ. Er konnte es wieder gut machen, indem er sich des Kindes annahm und dazu stand. Auch wenn er sich weigern würde, Christina würde darauf bestehen, sich des Kindes anzunehmen. Er kannte sie zu gut. Niemals käme sie auf den Gedanken, sich des Findelkindes zu entledigen, indem sie es ins Waisenhaus nach Altenburg gab. Das glückliche Funkeln in ihren Augen beim Anblick des Kindes sprach Bände. Er wusste, wie sehr Christina Kinder liebte. Außerdem konnte er ihr keinen Wunsch abschlagen.
Die Dämmerung brach bereits an, als Christina und Hans in Braunshain bei den Schefflers eintrafen. Aus einem Fenster zur Straße hin kam ein Lichtschein. Der Böttcher und dessen Frau schienen zu Hause zu sein.
Die Tür des Zaunes, der den kleinen Vorgarten von der Dorfstraße trennte, quietschte leise als Christine sie öffnete. Obwohl das Quietschen sehr leise war, schien Franziska Scheffler sie gehört zu haben. Sie kam aus dem Haus, um zu sehen, wer zu dieser Tageszeit zu Besuch kam.
„Christina, Hans, welch seltene Gäste“, begrüßte Franziska die Ankömmlinge und bat sie ins Haus. „Georg, die Windmüllers sind da“, rief sie nach oben, wo ihr Gatte eben in Elisabeths Kammer nach etwas suchte. Nachdem Georg antwortete, er käme sofort nach unten, führte Franziska die Besucher in die Küche, die unter der Woche als einziger Raum beheizt war. In der Küche war es behaglich warm, im Herd knisterte ein Feuer. Auf der Herdplatte stand ein Topf, aus dem es köstlich duftete.
„Was führt euch zu uns“, fragte Franziska die Schumanns, nachdem diese auf der Bank am Küchentisch Platz genommen hatten.
„Es geht um Elisabeth und das Kind“, erwiderte Christina.
„Was wisst ihr über unsere Tochter?“, wollte Georg Scheffler wissen, der eben zur Küchentür hereinkam und Christinas Worte gehört hatte. „Wo ist sie? Habt ihr etwas mit ihrem Verschwinden zu tun?“, fuhr Scheffler die Besucher aufgebracht an. Obwohl er seiner Tochter immer noch zürnte, vermisste er sie.
„Beruhige dich“, versuchte Franziska ihren Mann zurückzuhalten, sonst hätte dieser Hans am Kragen gepackt und geschüttelt.
Christina fuhr vor Schreck zusammen und sah ihren Gatten beängstigt an. Doch Hans blieb ruhig und ließ sich von Georgs Aufbrausen nicht beeinflussen.
„Sprich du weiter“, forderte Christina Hans auf.
Der nahm seinen ganzen Mut zusammen. Es ging nun kein Weg mehr daran vorbei, seine Sünden zu beichten. „Eure Elisabeth war letztens bei mir und bat mich um Hilfe“, begann Hans mit leiser Stimme.
„Wie ging es ihr? Hatte sie das Kind bei sich?“ Franziska sprang aufgeregt auf.
„Lass Hans doch weitersprechen“, ermahnte Georg Franziska und zog seine Frau neben sich.
„Sie hatte das Kind noch nicht geboren“, sprach Hans nun einfach weiter. „Ich nehme aber an, sie stand unmittelbar vor der Niederkunft. Sie wollte, dass ich ihr helfe und mich zu dem Kind bekenne.“ Hans wurde rot. Es war das erste Mal, dass er offiziell zugab, der Vater von Elisabeths Kind zu sein.
„Also doch!“ Nun sprang Georg wutentbrannt auf. „Ich hätte wohl doch auf das Gerede der Leute im Dorf hören sollen. Es wurde lange genug gemunkelt, du hättest ein Verhältnis mit ihr. Ich wollte es nie glauben, bis ich feststellte, sie ist guter Hoffnung und partout den Namen des Vaters nicht nennen wollte.“
„Die Leute hatten Recht. Ich hatte wirklich ein heimliches Verhältnis mit Elisabeth. Das Kind ist von mir“, gab Hans zu. „Ich bereue es, Elisabeth das angetan zu haben. Sie war noch Jungfrau, als ich zum ersten Mal nahm. Ich habe ihre ganze Zukunft zunichte gemacht, kein Mann wird sie jetzt noch als Gemahlin haben wollen. Jeder wird denken, sie ist eine Dirne, die sich jedem dahergelaufenen hingibt.“ Man konnte Hans im Gesicht ansehen, wie sehr ihm sein Tun mitnahm und wie sehr es ihm leidtat. Hans dachte nach, wie er weitersprechen sollte. „Es war mein Fehler. Ich hatte es besser wissen müssen und es nicht tun dürfen. Immerhin bin ich mit Christina verheiratet und sollte keine andere Frau neben ihr haben.“ Er sah seine Frau liebevoll an. „Ich hoffe, sie wird mir eines Tages verzeihen und Elisabeth auch.“
„Das ist wirklich ein harter Brocken, den wir hier zu beißen haben“, sagte Franziska nach einer Weile. „Du als gestandener Mann mit noch fast einem Kind.“ Franziska knüllte ihre Schürze. Dann blickte sie hoch und Christina an, die das kleine Evchen immer noch in den Armen hielt. „Denkst du, es ist Elisabeths Kind?“, fragte sie zaghaft.
„Ich bin mir sicher“, antwortete Hans, noch bevor seine Frau das Wort ergreifen konnte.
Tränen rannen aus Franziskas Augen. „Dann ist die Kleine unser Enkelkind“, schluchzte sie und zupfte an Georgs Ärmel. „Unser kleines Enkelkind. Georg, sieh doch.“
Georg schaute grimmig. Die ganze Zeit hatte er sich zusammengenommen. Doch nun brach es aus ihm heraus. „Wieder ein Fresser mehr“, knurrte er bösartig.
„Wie kannst du nur? Es ist doch unser Fleisch und Blut“, schrie die Hausfrau ihren Mann an.
„Ist mir doch egal. Es ist ein Kind der Sünde, ein Bastard! Damit will ich nichts zu tun haben. Auch Elisabeth ist für mich gestorben. Sie ist eine Hure, die für jeden Dahergelaufenen die Beine spreizt. Wer weiß, mit wem sie es noch getrieben hat.“
Weinend schlug sich Franziska die Hände vor das Gesicht. Sie konnte die Meinung ihres Gatten nicht verstehen. Ihre Tränen flossen in Strömen.
„Pst, alles wird gut“, versuchte Christina die Schefflerin zu beruhigen. „Sag du doch auch mal was“, wandte sie sich an Hans, der mit einem betroffen aussehenden Gesicht neben ihr saß. Auch er verstand die Reaktion des Böttchers nicht. Er fühlte sich zwar als starker, gestandener Mann, aber sein eigenes Fleisch und Blut verstoßen würde er nie übers Herz bringen. Außerdem ärgerte es ihn, wie Scheffler über seine Tochter sprach.
„Ich verspreche dir, Franziska, ich werde mich um das Kind kümmern. Es ist auch meines und es ist meine heilige Pflicht, jetzt wo die Mutter nicht mehr da ist, es großzuziehen.“ Hans sah Franziska an und griff an Christina vorbei, nach deren Hand. „An dem Kind kann ich meinen Fehler wieder gut machen.“
Georg Scheffler sprang auf. „Ach macht doch, was ihr wollt! Ich will davon nichts mehr hören!“, schrie er, außer sich vor Wut und wollte die Küche verlassen.
„Georg, bitte“, versuchte Franziska ihren Mann zurückzuhalten. „Bleib doch!“, rief sie hinter ihm her, nachdem er die Tür hinter sich zugeworfen hatte, dass sie beinahe aus dem Rahmen fiel.
„Lass ihn. Er wird sich schon wieder beruhigen“, sagte Christina zu Franziska, die in Tränen aufgelöst zurück auf ihren Stuhl sank.
„Da kennst du ihn schlecht“, erwiderte die Schefflerin. „Was denkst du, wie er Elisabeth geschlagen hat, als er bemerkte, sie ist guter Hoffnung. Wäre ich nicht gewesen, hätte er sie totgeschlagen, oder auch das Kind verloren.“
Christina schüttelte über solch ein Verhalten nur den Kopf. Auch für Hans war es unvorstellbar, seine Kinder so sehr zu züchtigen.
„Ihr werdet euch wirklich um die Kleine kümmern? Wie ihr seht, könnte ich das Mädchen nicht zu mir nehmen, so sehr ich es mir auch wünsche. Georg würde es verbieten“, wollte Franziska noch einmal wissen. Sie schnitt damit Hans das Wort ab, der eben etwas sagen wollte.
„Natürlich tun wir das“, erwiderte Christina, worauf Hans ebenfalls erneut das Versprechen gab, seine Tochter zu sich zu nehmen.
„Du kannst jederzeit zu uns kommen, um Evchen zu besuchen“, versprach er der frischgebackenen Großmutter. Die strahlte nun über das gesamte Gesicht wie die Morgensonne. Und als Christina ihr Evchen in die Arme legte, fühlte sie sich wie im Himmel. Zärtlich strich sie dem Säugling über die rosigen Wangen, bis er die Augen aufschlug und wie wissend anschaute.
Nachdem Christina und Hans wieder zu Hause waren und Evchen frisch gewickelt und gesättigt in ihrer Wiege lag, saßen die zwei noch lange in der Küche. Außer einer Talgkerze gab es keine Lichtquelle. Das Herdfeuer war längst heruntergebrannt.
„Ich verstehe den Scheffler nicht“, sagte Christina nach einer Weile.
„Ich auch nicht“, erwiderte Hans darauf. „Aber wenigstens ist Franziska von uns überzeugt.“
„Eher von mir, nicht von uns“, berichtigte Christina ihn. Sie hätte Hans gerne etwas anderes gesagt, konnte es aber nicht. Er hatte sie zu sehr enttäuscht. Betrogen zu werden, tat weh.
„Wie du meinst“, antwortete Hans niedergeschlagen. Er blickte seine Frau an. „Danke, dass du so verständnisvoll bist. Jede andere Frau hätte mich in Schimpf und Schande verlassen.“
„Verdient hättest du es.“
„Ich weiß“, sagte Hans. „Es tut mir auch leid, sehr leid sogar.“
„Was meinst du, ob Evchen wirklich Elisabeths Kind ist?“, wollte Christina wissen, ohne weiter auf die Entschuldigung ihres Mannes einzugehen. Ob sie ihm jemals diesen Fehltritt verzeihen würde, wusste sie jetzt noch nicht. Zur Zeit war es ihr wichtiger, den Säugling über die nächsten Wochen zu bringen, bis er kräftig genug und die schlimmste Zeit überstanden war. Ohne Amme war dies schwer, aber sie konnte es schaffen. Immerhin war sie eine erfahrene Mutter, die bereits mehrere Kinder großgezogen hatte.
„Da bin ich mir sehr sicher. Wer sollte sonst ein Kind vor unsere Tür legen. Aus der Gegend wüsste ich auch keine Frau, die gerade in guter Hoffnung war und kurz vor der Niederkunft stand.“
„Mir fällt da auch keine ein. Tildas Kind kann es auch nicht sein, da sind wir uns beide sicher. Wie sie uns gesagt haben, ist der Junge gestorben. Außerdem würde es Tilda niemals übers Herz bringen, einfach ihr Kind auszusetzen, nachdem sie sich so lange nach der Geburt ihres Ältesten weiteren Nachwuchs gewünscht haben.“ Trotz Überlegungen fiel den beiden keine Frau ein, die die Mutter sein könnte. Fremde oder Gaukler waren in der letzten Zeit auch nicht in der Gegend gewesen. So konnte es nur Elisabeth sein. Doch wo war sie? Sie konnte nicht einfach vom Erdboden verschwunden sein, als hätte es sie nie gegeben.